Selektoren-Beschluss des BVerfG: Wer Geheimdienstkontrolle fordert, soll sich die Mehrheit dafür erstreiten
Am 13. Oktober hat das Bundesverfassungsgericht einen Beschluss zum Beweiserhebungsrecht des NSA-Untersuchungsausschusses des Bundestages gefasst. Jelena von Achenbach und Wolfgang Neskovic haben den Beschluss mit dem Argument kritisiert, das Bundesverfassungsgericht „verabschiede“ sich durch die Konstruktion der „exekutiven Handlungsfähigkeit als verfassungsrechtliches Prinzip“ von den „demokratischen Prinzipien des Grundgesetzes“, forme die „Gewaltenteilung zu einem teilweise anti-parlamentarischen, anti-demokratischen Prinzip […] exekutiver Effektivität“ aus und konstruiere die Verfassung in der besprochenen Entscheidung „auf der verfassungs- und legitimationstheoretischen Ebene problematisch“. Das halte ich für falsch. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts schafft kein verfassungssystematisches Problem, sondern ist ein Signal zur Sensibilisierung der Parlamentarier und Wahlberechtigten für die Notwendigkeit einer BND-Reform. Das Gericht plädiert für mehr Demokratie. Insbesondere die Demokratie- und Gewaltenteilungsbegriffe des Grundgesetzes sind als Verfassungsprinzipien facettenreicher und im Ergebnis wohl auch sachgerechter, als sie auf den ersten Blick wirken.
Parlament
Der NSA-Untersuchungsausschuss, so das BVerfG, hat keinen Anspruch gegen die Regierung auf Herausgabe der NSA-Selektoren. Diese Entscheidung kann man nicht isoliert im Verhältnis des Untersuchungsausschusses als Interessenvertretung einer Gruppe von Parlamentarier und der Bundesregierung betrachten. Das Parlament insgesamt kann BND-Verfehlungen nicht nur durch einen Untersuchungsausschuss ermitteln und aufklären. Die Parlamentsmehrheit kann daneben die Ermittlungstätigkeit des BND regulieren sowie Transparenzanforderungen und -verfahren schaffen.
Diese Erkenntnis nutzt der (derzeitigen) Parlamentsminderheit freilich wenig. Ihr Recht bei mutmaßlich vergangenem „BND-Unrecht“ erschöpft sich in der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Der Untersuchungsausschuss muss seinerseits ein verfassungsrechtliches Recht zur Herausgabe der NSA-Selektoren gegen die Bundesregierung als eigenständige Institution begründen. Ob er das tut, ist eine Frage der Abwägung, und dabei lässt sich über die eingestellten Belange, deren Gewichtung und das Ergebnis der Abwägung streiten. Dies allein kann Anknüpfungspunkt einer verfassungsrechtlichen Diskussion sein. Es geht also nicht so sehr um parlamentarische Minderheitenrechte, sondern um die verfassungsmäßigen Grenzen der Arbeit eines Untersuchungsausschusses insgesamt und unabhängig von dem Quorum seines Zustandekommens. Verneint man die Entstehung eines solchen Rechts mit dem Bundesverfassungsgericht, stellt sich die Frage nach einer effektiven Durchsetzbarkeit von parlamentarischen Kontrollrechten gerade nicht mehr.
Setzt man Bundestag und (qualifizierte) Minderheiten im Bundestag nicht gleich, führt die eingegrenzte „parlamentarische Kontrollfunktion“ durch einen Untersuchungsausschuss nicht zum Gegenstand einer „Verzwergung des Parlaments“. Das Bundesverfassungsgericht lässt den „Zwerg“ NSA-Untersuchungsausschuss nach verfassungsrechtlichen Maßstäben vielmehr nicht zum Riesen werden, weil ihm unter anderem eine ausgewachsene Bundesregierung gegenüber steht. Die Frage nach der Größe des Riesen „Bundestag“ hingegen ist nur am Rande Verfahrensgegenstand.
Demokratie
Das Bundesverfassungsgericht schreibt in Rn. 148: „Es besteht ein besonderes Informationsinteresse des Untersuchungsausschusses an der Vorlage der NSA-Selektorenlisten zur Gewährleistung der demokratischen Rückanbindung der Nachrichtendienste und der Bundesregierung.“ Dass dem NSA-Untersuchungsausschuss keinen Anspruch auf Herausgabe der Selektorenliste haben soll, berührt nach Auffassung von v. Achenbach/Neskovic das „Demokratieprinzip in seinem Kerngehalt der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung . Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts kann man als Rhetorik ohne Rekurrieren auf das verfassungsrechtliche Demokratieprinzip einordnen („demokratische Rückanbindung“). Dennoch hält der Beschluss einer Überprüfung am Maßstab des verfassungsrechtlich verbürgten Demokratieprinzips stand.
Eine eigenverantwortlich handelnde Regierung, die sich in gewissen Bereichen und prozessualen Konstellationen einer gerichtlichen Kontrolle entzieht, ist Ausdruck eines verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips. Es folgt daraus keineswegs eine Freistellung von den „Legitimationsforderungen des Demokratieprinzips“. Vielmehr wägt das Bundesverfassungsgericht die Interessen eines unter Umständen von der Parlamentsminderheit eingesetzten Untersuchungsausschusses mit den Interessen der regelmäßig von der Parlamentsmehrheit getragenen Regierung ab. Das Demokratieprinzip als Argument ist bei dieser Abwägung fehl am Platz.
Auch ist die Entscheidung mit meinem eigenen Demokratievorverständnis vereinbar. Wenn die Bundesnachrichtendienste, denen in der Vergangenheit keine durchsetzbaren einfachrechtlichen Maßstäbe auferlegt wurden, vermeintlich Unrecht begangen haben, dann sollte dies nicht in einem Diskurs zwischen einem Untersuchungsausschuss, der durch eine Parlamentsminderheit eingesetzt wurde, einer Regierung, die von einer Parlamentsmehrheit getragen wird, und dem Verfassungsgericht aufgearbeitet werden.
Dem Bundesverfassungsgericht ist die Erforschung des Realbereichs nur bedingt möglich („Verschlusssache“). Seine Entscheidung ist getragen von außen- und sicherheitsrechtlichen Unwägbarkeiten. Es stellt damit seine Entscheidung nicht über diejenige, die die sachnäheren Bundesregierung getroffen hat. Für den zukünftigen Umgang mit Geheimdiensten hingegen verlagert das Bundesverfassungsgericht den Diskurs, der derzeit hauptsächlich zwischen NSA-Untersuchungsausschuss, Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht stattfindet, zurück in das Parlament und die Öffentlichkeit und fordert das Werben um Mehrheiten.
Gewaltenteilung
Der Bundestag hat unbestritten eine wichtige Stellung in der Verfassung. Gewaltenteilung als „anti-parlamentarisches“ Prinzip zu beschreiben, ist bei Lichte besehen eine wohl richtige Beschreibung dessen, was aus einer Gewaltenteilung folgen soll. Die Verfassung beschneidet bewusst durch den Grundsatz der Gewaltenteilung die Rechte und damit die (soziologisch zu beobachtende) Macht des Bundestages zu Gunsten der Exekutive, Gubernative und Judikative. Die Gewaltenteilung als „Begriffskeule“ für oder gegen ein Recht eines Untersuchungsausschusses im Einzelfall anzuführen, taugt damit nicht. Das Austarieren der Gewaltenteilung sowie deren „Parlamentsfeindlichkeit“ ist die entscheidende und zulässige Frage des Verfahrens.
Eine zweite Frage, die man dem Bereich der Gewaltenteilung zuordnen kann, wird nicht erörtert. Es lohnt der Blick auf die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Entscheidung über Organstreitigkeiten oberster Bundesorgane/-organteile. Dem Titel „Karlsruhe verzwergt das Parlament“ lässt sich entnehmen, das Bundesverfassungsgericht sei für eine „Parlamentsfeindlichkeit“ mitverantwortlich. Hat gar das Bundesverfassungsgericht durch eine zweifelhafte Verfassungsauslegung und -anwendung die sachgerechte Überwachung von Geheimdiensten verhindert? Haben acht Richter in Karlsruhe die Chance vertan, diese Fehlentwicklung nun im Namen der „Gewaltenteilung“ abzumildern?
Eine gelungene Gewaltenteilung zeichnet sich auch durch einen zurückgenommenen Prüfungsumfang des Verfassungsgerichts aus. In der Konstellation eines Organstreitverfahrens wägt das Bundesverfassungsgericht die widerstreitenden Rechte der obersten Bundesorgane/-organteile gegeneinander ab. Ein verfassungsgerichtlicher Beschluss, der konkrete Herausgabepflichten der Regierung formuliert und damit die exekutive Eigenverantwortlichkeit beschneidet, muss rechtlich und tatsächlich besonders gut begründet sein. Dass dies bei einer derzeit unterregulierten nachrichtendienstlichen Tätigkeit kaum möglich ist, liegt in der Natur der Sache.
Dennoch spricht das Fehlen von Informationen bei der Entscheidungsfindung nicht für einen Anspruch auf Herausgabe der NSA-Selektoren. Das Bundesverfassungsgericht nimmt sich bei der Entscheidung über solch hochkomplexe politische Vorgänge im Zweifel wegen seiner verfassungsrechtlichen Stellung zurück. Das Parlament selbst hat die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um übertragene Befugnisse zurück zu erlangen und gerichtlich durchzusetzen. Ausprägung der Gewaltenteilung sind zweifellos auch Kontrollrechte einzelner Untersuchungsausschüsse. Zu den checks and balances gehört aber ebenso die Möglichkeit des Bundestages als Ganzes, Befugnisse auf die Regierung und ihr untergeordnete Nachrichtendienste zu übertragen bzw. keine prozedurale Regelungen für eine effektive Kontrolle zu schaffen. Eine Gewaltenteilung beinhaltet damit die Möglichkeit, letztentscheidende Verantwortlichkeit auf sachnäherer Organe zu übertragen. Insoweit ist das Verhältnis von Untersuchungsausschuss zu Regierung aus Perspektive der Gewaltenteilung schwer zu bewerten, ohne das Verhältnis des Bundestags zur Regierung und insgesamt die Stellung des Bundesverfassungsgerichts sowie das konkreten Verfahren mit einzubeziehen.
Horizontaler und vertikaler Minderheitenschutz
Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit bewiesen, dass es die geheimdienstliche Überwachung im Einzelfall sowie bei sicherheitsrechtlichen Gesetzen verfassungsrechtlichen, insbesondere grundrechtlichen Maßstäben zu unterwerfen vermag. Die Grundrechte als materieller Minderheitenschutz sichern geheimdienstliche Tätigkeiten maßgeblich inhaltlich ab. Dies ist kein Argument gegen einen parlamentarischen Minderheitenschutz, wohl aber für ein begrenzendes Verständnis der Rechte parlamentarischer Untersuchungsausschüsse.
In der Sache mag man den Autoren durchaus Recht geben. Die fehlenden Kontrollmöglichkeiten für vergangene Verfehlungen können als Konstruktionsfehler identifiziert werden. Die Verantwortlichkeit dafür beim Bundesverfassungsgericht zu suchen, überzeugt allerdings nicht. Der Fehler liegt vielmehr beim Bundestag selbst, der den BND ohne kontinuierliche Kontrollinstanz installiert hat, und ohne Abkommen der Bundesregierung mit den USA, die tatsächliche Bindungswirkungen auch im Innenverhältnis entfalten.
Die Kontrolle und Überwachung von Geheimdiensten ist zudem kein genuines Anliegen einer parlamentarischen Minderheit. Ein solches Anliegen kann nicht nur durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss verfassungsprozessual durchgesetzt werden. Die derzeitige Ausgestaltung der Geheimdienste mag eine Konstruktion der Mehrheit gewesen sein. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sollte die Parlamentarier und Wahlberechtigten für die Notwendigkeit einer BND-Reform sensibilisieren.
Das Gericht plädiert für mehr Demokratie. Die Demokratie- und Gewaltenteilungsbegriffe des Grundgesetzes sind als Verfassungsprinzipien facettenreicher und im Ergebnis wohl auch sachgerechter, als sie auf den ersten Blick wirken. Im verfassungspolitischen Kontext kann die Verwendung der Begriffe durch v. Achenbach/Neskovic überzeugen, im verfassungsrechtlichen Kontext tun sie es nicht. Bis zu einer BND-Reform lässt sich der unbefriedigende Zustand überspitzt beschreiben: Rechtsstaatliche Demokratie kann bedeuten, Mehrheitsentscheidungen ertragen und die möglicherweise sachgerechtere Entscheidung mit Mehrheiten mühsam erstreiten zu müssen.
Wie lösen Sie bei Ihrer Lesart dieser Entscheidung folgendes Problem:
Soweit ich weiß, wurde der faktisch fehlende Rechtsschutz von einzelnen Bürger_innen gegen Überwachung durch Geheimdienste nur dadurch vom BVerfG für tragbar gehalten, weil stattdessen eine parlamentarische Kontrolle stattfinde.
Wenn jetzt aber faktisch die Möglichkeit zu dieser Kontrolle beschränkt ist, sprich auch die parlamentarische Kontrolle – sei es für gegenwärtige Dinge im Kontrollgremium, sei für Vergangenes ein Untersuchungsausschuss – nicht an alles “rankommt”, was den Bürger_innen als Grundlage für einen Rechtsschutz entzogen ist, lebt dieser Mangel an Rechtsschutz ja wieder auf und entbehrt der “Rechtfertigung”/des wirksamen “Ersatzes”.
Wichtig scheint mir, dass ein Untersuchungsausschuss nach Art. 44 GG keine laufende Kontrolle der Tätigkeit der Nachrichtendienste leisten soll. Das Untersuchungsrecht hat als Kontrollinstrument der Minderheit eine eigenständige Funktion neben der Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit durch das Parlamentarische Kontrollgremium nach Art. 45d GG und durch die Kommission nach dem G-10 Gesetz auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 GG. Weiter gebe ich zu bedenken: Zwar kann die parlamentarische Mehrheit grundsätzlich über die gesetzliche Ausgestaltung dieser Kontrollinstrumente verfügen; ebenso über die gesetzlichen Befugnisse der Nachrichtendienste. Aber der Gewaltenteilungsgrundsatz, wie das Gericht ihn in der Selektoren-Entscheidung ausgelegt hat, bindet die parlamentarische Mehrheit gleichermaßen wie die Minderheit. Die verfassungsprinzipielle Gewährleistung exekutiver Effektivität setzt auch der Möglichkeit des Gesetzgebers, die Nachrichtendienste und ihre internationale Kooperation zu regeln und die Kontrolle nach Art. 45d und Art. 10 GG zu effektuieren, eine Grenze.
Dass sich das Bundesverfassungsgericht im Spiel der Gewalten selbst zurücknimmt, ist ja nicht prinzipiell unsympathisch – es tut es hier nur am falschen Gegenstand. Natürlich könnten sich Bürger_innen und Parlamentarier_innen immer über bessere/rechtsstaatlichere/”demokratischere” Normen Gedanken machen (hier konkret über die Kontrolle der Geheimdienste) und sollten das auch. Empirisch zeigt sich aber: Sie tun es häufig nicht. Daher wären weder parlamentarische Kontroll- noch Grundrechte heute so weit entwickelt, würde das BVerfG sich den impliziten Vorschlag zu eigen machen, die Geltung von Grund- und Kontrollrechten dem demokratischen Mehrheitsspiel zu überlassen. Darauf zu hoffen, dass das BND-Gesetz für die Wahlentscheidung auch nur eines einzigen Bürgers eine Rolle spielen könnte, scheint mir ebenfalls etwas gewagt…