Staatskirchenrecht aus Luxemburg?
Wer wissen will, wie das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland geregelt ist, hat es schwer. Bereits im Parlamentarischen Rat war man sich zunächst nicht einig geworden, was zu der kompromisshaften Verweisung des Art. 140 GG auf die Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung führte. Dort finden sich jedoch nicht immer eindeutige Antworten auf aktuelle Fragen, wie auch die Diskussionen auf dem Verfassungsblog (etwa hier und hier) zeigen. Noch mehr verkompliziert sich das Bild, wenn darüber hinaus das Unionsrecht auf den Plan tritt. Zwar ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union hier bisher noch überschaubar. Doch lässt das Jahr 2017 einige Luxemburger Weichenstellungen erwarten, die auch die religionsrechtliche Diskussion in Deutschland bestimmen werden – und zwar nicht unbedingt zu Gunsten der Kirchen.
Einen ersten Vorgeschmack lieferten bereits die sich grundlegend widersprechenden Schlussanträge der Generalanwältinnen Kokott und Sharpston zu privatarbeitsrechtlichen Kopftuchverboten aus dem letzten Frühjahr und Sommer, die noch ihrer Würdigung durch die Große Kammer harren. Daneben stehen aber auch Vorabentscheidungsersuchen – zwei davon aus Deutschland – zur Entscheidung an, die direkte Bezüge zum Staatskirchenrecht aufweisen.
Der EuGH als Religionsverfassungsgericht: kann das gutgehen? Es muss. Denn wie im nationalen Recht stellt sich auch im Unionsrecht die Frage, wie weit die in manchen Mitgliedstaaten vorgesehenen Privilegierungen der Kirchen reichen, wo die allgemeinen Vorgaben des Rechts besonderer Modifizierungen bedürfen, ab wann auch die Kirchen den übrigen Rechtssubjekten gleichgesetzt sind und wer über all dies entscheiden soll. Die Gedanken des Gerichtshofs zu dieser Grenzziehung zwischen Besonderem und Allgemeinem dürfte man nicht zuletzt in Karlsruhe mit Interesse verfolgen, zumal erstens die Eigenheiten des deutschen Staatskirchenrechts im Lissabon-Urteil zum unantastbaren Kernbestand der nationalen Identität erklärt worden sind und zweitens eines der beiden anhängigen deutschen Vorlageverfahren eine Vorgeschichte vor dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts hat.
Doch zunächst zurück nach Luxemburg. Dort hat Juliane Kokott vor wenigen Tagen ihre Schlussanträge in einem spanischen Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt. Eine katholische Schule hatte erfolgreich eine Baugenehmigung für die Renovierung und den Ausbau einer Aula mit 450 Sitzplätzen beantragt und war daraufhin mit der in Spanien üblichen Steuer auf Baumaßnahmen belegt worden. Unter Berufung auf ein Konkordat von 1979 sowie einen entsprechenden Erlass des spanischen Finanzministeriums von 2001, wonach Grundstücke der katholischen Kirche dauerhaft von Real-, Ertrags-, Einkommens- und Vermögenssteuern freizustellen seien, verlangte die Schule die Erstattung dieser Bausteuer. Dem befassten Verwaltungsgericht in Madrid stellte sich nun die Frage, ob eine solche Steuerbefreiung, die allein der katholischen Kirche zugute kommt, als verbotene Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV zu werten sei.
Die Steuerbefreiung rechtfertigte das Königreich Spanien auch mit Art. 17 Abs. 1 AEUV. Diese zentrale Vorschrift des „europäischen Staatskirchenrechts“ fand erst mit dem Vertrag von Lissabon Eingang ins Primärrecht und verweist auf das (Verfassungs-)Recht der Mitgliedstaaten. „Die Union“, so der knappe Wortlaut, „achtet den Status, den Kirchen […] in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“ Das, so die Generalanwältin, heiße aber nicht, dass die Betätigung der Kirchen generell dem Unionsrecht entzogen sei. Art. 17 Abs. 1 AEUV sei vielmehr bei der Anwendung und Auslegung desselben zu beachten, und das führe zu dem Schluss, dass zumindest soweit es um kommerzielle Unterrichtsangebote geht, einer Anwendung des europäischen Beihilferechts nichts im Wege steht.
Nun muss sich der Gerichtshof seiner Generalanwältin bekanntlich weder im konkret begutachteten und erst recht nicht in Folgeverfahren anschließen. Wenn solche Schlussanträge gleichwohl gewissermaßen den Ton setzen – zumal dort, wo es bisher kaum einschlägiges Fallrecht gibt – dann lohnen sie eine etwas genauere Betrachtung.
Dabei fällt auf, dass die besondere Bedeutung, welche die Generalanwältin dem Art. 17 AEUV zunächst in den Eingangssätzen ihrer Schlussanträge zuschreibt, in wenig Tragfähiges für die Entscheidung übersetzt wird. Denkbar wären hier zwei Wege gewesen. Entweder normiert Art. 17 Abs. 1 AEUV eine Bereichsausnahme, für welche der Geltungsanspruch des übrigen Unionsrechts vollständig zugunsten der Kirchen zurückgenommen ist. Oder die Vorschrift bewirkt eine besondere Berücksichtigungspflicht, so dass es in kirchlichen Angelegenheiten zu einer Umkehr der auslegungsleitenden Hierarchieebenen kommt: an die Stelle der üblichen Pflicht zur unionsrechtskonformen Konkretisierung des nationalen Rechts tritt dann im Ergebnis die Pflicht zur mitgliedstaatsrechtskonformen Auslegung des Unionsrechts in Fragen des Staatskirchenrechts.
Juliane Kokott erteilt dem erstgenannten Verständnis eine eindeutige Absage. Sie erkennt zwar die besondere Schutzfunktion des Art. 17 Abs. 1 AEUV für die nationale Identität der Mitgliedstaaten an und hebt die besondere gesellschaftliche Stellung der Kirchen hervor. Letztere wird jedoch sogleich wieder relativiert, indem die Generalanwältin schon im darauffolgenden Satz auf die Rechtsprechung zu Sportvereinen und Bildungseinrichtungen verweist, wonach zumindest deren wirtschaftliche Tätigkeiten vollständig den Vorgaben des Binnenmarktrechts unterfallen. Damit weist die Generalanwältin nicht nur Art. 17 Abs. 1 AEUV seine Bedeutung als bloße Auslegungsmaxime zu. Sie unterzieht das kirchliche Handeln auch einer funktionalen Betrachtungsweise. Entscheidend ist unter Art. 17 AEUV somit nicht nur, wer handelt, sondern wie im konkreten Fall gehandelt wird.
Doch selbst dieses auslegungsleitende Verständnis des Art. 17 AEUV ändert in dem spanischen Fall nichts. Dessen Lösung ergibt sich für die Generalanwältin vielmehr maßgeblich aus dem hergebrachten Fallrecht zum EU-Beihilfenregime. Art. 17 Abs. 1 AEUV dient ihr hier allenfalls dazu, das ohnehin vorgefundene Subsumtionsergebnis zu verifizieren: Da die Schule im konkreten Fall nicht nur auf dem Gebiet der öffentlichen Daseinsvorsorge tätig und insofern in das staatliche Bildungssystem eingebunden sei, sondern darüber hinaus auch kommerzielle Zusatzangebote gegen Zahlung von Schulgeld mache, müsse sie sich zumindest anteilig als privatwirtschaftliches Unternehmen behandeln lassen. Zu diesem Anteil sei die Steuerbefreiung dann nach ständiger Rechtsprechung auch als verbotene Beihilfe zu werten, so dass zu diesem Anteil wiederum eine Rückzahlung unionsrechtlich ausgeschlossen sei.
Insbesondere die maßgebliche Differenzierung von Tätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge und den übrigen kommerziellen Angeboten mit Dienstleistungscharakter kann sich dabei zwanglos auf die hergebrachten Kriterien der Altmark Trans-Rechtsprechung des Gerichtshofs stützen; auch hier dient Art. 17 Abs. 1 AEUV somit letztlich nur der Bestätigung.
Dies muss bei anderen Sachverhalten freilich nicht genau so sein. Insbesondere die beiden Fälle, die das Bundesarbeitsgericht dem EuGH vorgelegt hat, haben eine Kollision unionsrechtlicher Vorgaben mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht zum Gegenstand, die sich weniger leicht auflösen lässt. Dort geht es um das Antidiskriminierungsrecht der Union. Ist es auch unter Art. 17 AEUV eine verbotene Diskriminierung, wenn ein Krankenhaus der Caritas einem leitenden katholischen Arzt wegen seiner kirchenrechtswidrigen Wiederverheiratung kündigt, obgleich dies bei seinen evangelischen Kollegen stets sanktionslos geblieben war? Ist es auch unter Art. 17 AEUV unionsrechtswidrig, wenn die Diakonie bei einer Stellenbesetzung evangelischen Bewerbern den Vorzug gibt, wenn die Stelle überwiegend aus öffentlichen Geldern finanziert wird und die Tätigkeit vergleichsweise verkündigungsfern ist?
Was umfasst also der „Status der Kirchen“ im europarechtlichen Sinne? Die Schlussanträge zu Cóngregación de Escuelas Pías geben möglicherweise erste Hinweise: Wenn Art. 17 Abs. 1 AEUV im Grundsatz auch der klagenden Schule bei der Realbesteuerung zugute kommt, ist im Falle Deutschlands jedenfalls mehr als der bloße Körperschaftsstatus der Kirchen nach Art. 137 Abs. 5 WRV gemeint. Der genaue Statusgehalt ist dann wohl einmal mehr der Abwägung überantwortet. Wenn diese jedoch durch ein Gericht vorgenommen wird, das deutliche Akzente auf funktionale Betrachtungsweisen und eine effet utile-Logik setzt, erscheint es alles andere als selbstverständlich, dass die sehr kirchenfreundliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch in Luxemburg ihre Entsprechung findet.