Verfassungsinterpreten
Ich kann es, ehrlich gesagt, bis zu einem gewissen Grad schon verstehen, wenn zur Zeit manche deutschen GroKo-Politiker_innen bei dem Wörtchen “verfassungswidrig” zarte Ungeduld verspüren und artikulieren. Seit Monaten bekommen sie für fast alles, was sie in Ausübung ihres Amts oder Mandats tun oder unterlassen, das Grundgesetz um die Ohren gehauen von Leuten, deren Leidenschaft und Selbstvertrauen im Umgang mit Grundrechtsbegrifflichkeiten oft in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu ihrer verfassungsjuristischen Urteilskraft steht. Das kann einen schon zermürben. Und natürlich ist auch am heutigen Tag der universell einsetzbare Bundesverfassungswidrigfinder Hans-Jürgen Papier wieder zur Stelle und tut, was von ihm erwartet wird, diesmal in der Berliner Morgenpost.
Rechtswissenschaftlich informierte Meinungen von Juraprofessor_innen als autoritative Quelle der Erkenntnis misszuverstehen, welches Tun oder Unterlassen das (Verfassungs-)Recht exakt verlangt, ist nicht ausschließlich, aber doch jedenfalls auch ein deutsches Phänomen. Das war in dieser Woche auch mal wieder in der WELT ($) zu studieren, die die Regierungskoalition anklagt, immer noch nicht allen verfassungsrechtlichen Bedenken von Expert_innen in der Sachverständigenanhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestags abgeholfen zu haben. Es gibt natürlich viele gute verfassungsrechtliche Gründe, das Handeln des Gesetzgebers in der Corona-Krise zu kritisieren, und genau das tun die besagten Expert_innen ja auch. Die schiere Tatsache, dass sich der Gesetzgeber auch mal gegen ihren Rat entscheidet, ist aber nicht einer davon. Das Grundgesetz ist, wie jedes Gesetz, ein interpretationsoffener Text, und der Bundestag darf bzw. muss sich bei seiner Auslegung genauso ins Risiko begeben wie jeder andere Verfassungsinterpret auch. Die Sachverständigen, die er anhört, können ihm Gewähr bieten, dass er kein wichtiges Argument übersieht. Aber die Verantwortung dafür, was er für richtig hält, können sie ihm nicht abnehmen.
Heribert Hirte, der kommissarische Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestags, hat sich über den WELT-Artikel so ärgern müssen, dass er umgehend einen Tweet absetzte: Darin nahm er bemerkenswerterweise nicht so sehr die WELT als vielmehr zwei von derselben zitierte kritische Expert_innen aus der Sachverständigenanhörung und Autor_innen des Verfassungsblogs aufs Korn. Thorsten Kingreen und Andrea Kießling, so schreibt der CDU-Politiker (im Zivilberuf selbst Juraprofessor, wenngleich nicht für öffentliches Recht), “dienen durch die Bank immer vielen Querdenkern als Zitatgeber”.
STEPHAN RIXEN hat, auch in seiner Eigenschaft als Sprecher des DFG-Gremiums „Ombudsman für die Wissenschaft“, in dieser Woche bereits gesagt, was dazu aus Sicht der Rechtswissenschaft zu sagen ist. Mir erscheint der Satz darüber hinaus auch deswegen bemerkenswert, weil er rechtswissenschaftliche Expertise sozusagen mit umgekehrtem Vorzeichen verabsolutiert: Statt zu Spendern autoritativer Einsichten werden hier Wissenschaftler_innen zu “Zitatgebern” von Querdenkern gestempelt, denen sie “dienen”, und zwar “durch die Bank immer”. Der Effekt ist der gleiche: Was aus dem Blickfeld verschwindet, ist die Qualität ihres Inputs als Meinung, die im Prinzip jeder bestreiten kann, der sich das argumentativ zutraut.
Man könnte den ganzen Vorgang getrost als Hakelei in einer hoch nervösen und angespannten Situation auf Dauer gestellter Krisenpolitik abtun, würde er nicht auf den Resonanzboden der letzten Großkrise dieser Art aufsetzen. In der Flucht- und Migrationskrise 2015-2018 hatte bekanntlich der bis zum heutigen Tag amtierende Bundesinnenminister, sekundiert von einer ganzen Riege von Staatsrechtslehrern, die “Herrschaft des Unrechts” ausgerufen, die angeblich durch die “Grenzöffnung” für die Geflüchteten ausgebrochen sei. Gottlob gab es genügend Europarechtslehrer_innen, die es sich argumentativ zutrauten, diese Meinung zu bestreiten, und heute darf die These von der “Herrschaft des Unrechts” als diskreditiert gelten (dazu habe ich gemeinsam mit Stephan Detjen ein ganzes Buch geschrieben). Aber es ist keine drei Jahre her, dass die ganze Republik um ein Haar in Richtung autoritärer Populismus abgebogen wäre bloß wegen ihr. Das steckt uns allen noch in den Knochen.
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Es gibt allerdings ein paar eklatante und evidente Unterschiede zwischen den Staatsrechtslehrerdiagnosen damals und heute. Zum einen war die Grundrechtskonstellation eine ganz andere: Damals spielten Grundrechte und ihre Träger_innen kaum eine Rolle in der verfassungsrechtlichen Kritik, oder wenn, dann ex negativo als Bestreiten eines Schutzanspruchs. Die angeblichen Verfassungsnormen, an denen die “Grenzöffnung” gemessen und verworfen wurde, kamen stattdessen aus den luftigen Höhen der Staatstheorie. Heute dagegen sind es die zusammengeschrumpften Freiheitsräume der Bürger_innen, die die Forderung nach einer stärkeren formell-gesetzlichen Grundlage für die Corona-Maßnahmen unterfüttern.
Vor allem aber unterscheidet sich die heutige Situation von der damaligen dadurch, dass diesmal kein Unrecht erkennbar ist, das durch das Getöse um die vermeintliche “Herrschaft des Unrechts” an anderer Stelle unsichtbar gemacht werden soll. Die große Krise 2015 hatte bekanntlich damit begonnen, dass die Länder an der EU-Außengrenze, allen voran Ungarn, ihren asylrechtlichen Pflichten den Gehorsam aufkündigten. Was bis heute an den Außengrenzen die Herrschaft innehat, erscheint mir mit Unrecht nicht völlig unkorrekt bezeichnet. Was indessen die Protagonisten des “Herrschaft-des-Unrechts”-Diskurses im Schilde führten, war, genau diese Zustände auch an der deutsch-österreichischen EU-Binnengrenze herbeizuführen.
Dazu kann ich keinerlei Äquivalent erkennen in der aktuellen Diskussion. Die toxische Mischung aus staatstheoretischem Hokuspokus und ethnisch-kulturellen Reinheits- und Exklusionsfantasien, die die Debatte in der Flucht- und Migrationskrise kennzeichnete, ist – alhamdulillah! – zurück in der Flasche. Die allermeisten Verfassungsrechtler_innen, die heutzutage die Coronapolitik kritisieren, tun dagegen einfach nur ihre Arbeit. Ob ich mit all ihren Diagnosen übereinstimme, ist dabei erstmal zweitrangig; die Hauptsache ist, dass ich sie, wenn ich es nicht tue, bestreiten kann. Soweit ich es mir argumentativ zutraue. Das würde ich auch Heribert Hirte empfehlen und allen anderen, die auf die neunmalklugen Verfassungsjurist_innen einen Rochus haben.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Mehrere Bundesländer planen, hartnäckige Quarantänebrecher zwangsweise unterzubringen. CHRISTOPH GUSY fragt sich: Ist das noch Infektionsschutzrecht oder schon Polizeirecht?
Seit Anfang der Woche gilt in Bayern die Pflicht, in öffentlichen Verkehrsmitteln und in Supermärkten eine FFP2-Maske zu tragen. Auch bundesweit reichen einfache Stoffmasken bald nicht mehr aus. Für Menschen, die auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen ist das finanziell außerordentlich belastend. Aber können sie auch verlangen, dass die Kosten dafür übernommen werden? MARJE MÜLDER meint, es spricht viel dafür.
Donald Trump ist nicht mehr Präsident der Vereinigten Staaten, doch seines gewesenen Amtes enthoben werden soll er nichtsdestotrotz. KIM LANE SCHEPPELE erklärt, warum das Impeachment zwar riskant für die Demokraten, aber dennoch sinnvoll ist, und am Ende privatrechtliche Konsequenzen das Mittel sein könnten, Trump für die Folgen seines Tuns haftbar zu machen.
In der Aufklärung der Straftaten rund um den Sturm auf das US-Kapitol verwenden die Amerikanischen Behörden umstrittene Gesichtserkennungstechnologien. CHRISTIAN RÜCKERT erklärt, warum deren Einsatz nach deutschem Recht unzulässig ist und was man bei der Einführung einer entsprechenden Rechtsgrundlage beachten müsste.
Der Präsident der Vereinigten Staaten heißt Joe Biden, und welches Glück die USA dabei gerade noch so gehabt haben, arbeiten anlässlich der Inauguration MICHAELA HAILBRONNER und JAMES FOWKES heraus.
Am 11. Dezember 2020 hob der österreichische Verfassungsgerichtshof das Verbot der Hilfeleistung zum Suizid als verfassungswidrig auf. Erst wenige Monate zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für nichtig erklärt. Die Entscheidungen bedeuten für beide Staaten signifikante Liberalisierungsschritte. Nun sind die Gesetzgeber gefordert, finden ALEXANDER BRADE und ROMAN FRIEDRICH.
Vor fünf Jahren, im Januar 2016, aktivierte die EU Kommission zum ersten Mal den Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips für Polen. Die seit dem andauernden Angriffe der polnischen Behörden auf die Rechtsstaatlichkeit bedrohen die gesamte europäische Rechtsordnung. In Teil II dieser Serie betrachten LAURENT PECH, PATRYK WACHOWIEC and DARIUSZ MAZUR die wichtigsten Urteile aus 2020 und wiederholen ihren Appell an die EU Institutionen, zu handeln.
Bundestag und Bundesrat haben eine Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen verabschiedet, das dem Bundeskartellamt ‚Big Tech‘ gegenüber mehr Handlungsmöglichkeiten bieten soll. Noch ist abzuwarten, ob die Anpassungen tatsächlich geeignet sind, die Marktmacht der großen Plattformunternehmen und deren Verhalten im Wettbewerb wirksam zu adressieren. Zumindest, findet JÜRGEN KÜHLING, kann die Novelle den Digital Markets Act auf EU-Ebene informieren.
Am 15. Dezember wies das spanische Verfassungsgericht den Antrag auf Berufung eines Gewerkschaftsmitglieds ab, der wegen der Schändung der spanischen Flagge währen eines Arbeiterprotests verurteilt wurde. Jetzt wurden die Urteilsgründe veröffentlicht: Mit ihrer Entscheidung verweigern die Richter gegen die Flagge gerichteten Äußerungen den verfassungsrechtlichen Schutz, selbst wenn sie im Kontext von politischen Aktivismus geschehen. Das Urteil zeigt, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung in Spanien zunehmend gefährdet ist, warnt JOAQUÍN URÍAS.
GRIETJE BAARS berichtet über eine Entscheidung des englischen High Court, nach der Pubertätsblocker für Trans-Jugendliche unter 16 Jahren nicht mehr verfügbar sein sollen. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass Pubertätsblocker irreversible Auswirkungen haben können und Jugendliche unter 16 Jahren diese Konsequenzen nicht abschätzen können. Besser also, so die Logik des Gerichts, sie die irreversiblen Auswirkungen der Pubertät erleben zu lassen – was eine spätere Umwandlung nur noch invasiver macht.
Die Fraktionen im Deutschen Bundestag werden vollumfänglich aus staatlichen Mitteln finanziert und die Verwendung der Mittel unterliegt einer strikten Zweckbindung. Wenn sie dagegen verstoßen, bleibt das allerdings ohne Folgen. HEIKE MERTEN erläutert den Bericht des Bundesrechnungshofs, der die strukturellen Defizite der Fraktionsfinanzierung klar benennt.
Seit das ukrainische Verfassungsgericht Ende Oktober letzten Jahres die Antikorruptions-Gesetzgebung gekippt hat, befindet sich das Land in einer veritablen Verfassungskrise. Präsident Zelensky spielt nun Korruptionsbekämpfung und Rechtsstaatlichkeit gegeneinander aus. Zuletzt hat er den Vorsitzenden des Gerichts vom Dienst suspendiert. ALINA CHERVIATSOVA erklärt, wieso dieser Schritt verfassungswidrig war.
Im brandenburgischen Grünheide baut Tesla derzeit an seiner Gigafactory. Seit die Pläne Ende 2019 bekannt wurden, klagen und protestieren Bürger*innen und Umweltschutzverbände regelmäßig gegen das Projekt. Verfahrensrechtlich scheint sich die Politik hier nichts vorwerfen lassen zu müssen. Allerdings ist das Anlagengenehmigungsverfahren auch nicht dazu geeignet, Akzeptanz in der Bevölkerung für solche Großprojekte zu schaffen, meint BIRGIT PETERS.
Die EU sieht sich selbst gern als Kraft des Guten, was Menschenrechte betrifft, aber das jüngste Abkommen mit China spricht eine andere Sprache. SURYA DEVA lehrt in Hongkong und weiß zu berichten, wie es dort seit Erlass des Nationalen Sicherheitsgesetzes zugeht, und seiner Ansicht nach bleibt abzuwarten, wie weit es mit der Aufrichtigkeit des Bekenntnissen zu den Menschenrechten der Bürger_innen Hongkongs und Chinas wirklich her ist.
Soviel für diese Woche.
Zum Erhalt des Verfassungsblogs können Sie wie immer dauerhaft hier und einmalig hier Ihren Beitrag leisten, worum ich Sie sehr herzlich bitte.
Dafür und für Ihre Aufmerksamkeit vielen Dank und bis nächste Woche!
Ihr
Max Steinbeis
Danke für diese klaren Differenzierungen, denen ich nur noch drei Punkte hinzufügen möchte:
1. Der Auslöser des absurden Posts war kein hochdotiertes Gutachten für fragwürdige Interessen, sondern eine Stellungnahme für einen Ausschuss des Bundestages. Ich musste sie an einem Sonntag schreiben und bekomme dafür 250 €, wenn ich bereit bin, die Bürokratie der Bundestagsverwaltung über mich ergehen zu lassen. Gegenstand der Stellungnahme sind zudem nicht die Corona-Maßnahmen, sondern die Regeln zur Impfpriorisierung. Wer sie liest, bevor er twittert, wird schnell merken, dass Corona-Leugner und Esoteriker, die im Biologie-Unterricht nicht richtig aufgepasst haben, in mir ohnehin keinen Stichwortgeber finden.
2. In politischen Diskursen wird tatsächlich zunehmend die Autorität der Verfassung bemüht. Man kann das als notwendige Verrechtlichung des politischen Prozesses positiv deuten, aber ich sehe es in der Grundtendenz auch eher kritisch. Inflation entwertet, und das Grundgesetz ist für kaschierte Klientelinteressen zu schade. Deshalb scheint mir allerdings die Feststellung wichtig, dass die Kontroversen über die Corona-Politik nur teilweise in dem binären Schema “verfassungsgemäß – verfassungswidrig” verliefen. Als verfassungswidrig kritisiert wurden (1) die fehlende Rechtsgrundlage für die Beschränkungen (auch aufgrund der Kritik der Gerichte und der Wissenschaft mittlerweile so einigermaßen befriedigend erledigt); (2) die Befugnis des BMG, durch Rechtsverordnungen von Gesetzen abzuweichen und (3) die fehlende Rechtsgrundlage für die Priorisierung. Die Punkte (2) und (3) sind, das darf man wohl in aller Vorsicht sagen, tatsächlich nicht ganz unproblematisch, und es wäre schon sehr merkwürdig, wenn die Rechtswissenschaft sie nicht zumidnest kontrovers diskutieren würde. So originell und fernliegend ist es eben nicht, für die Impfpriorisierung eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, die man als Verteilungsregel erkennen kann. Im Übrigen ging es aber nicht um die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit der Eindämmungsmaßnahmen (die man nicht ernsthaft bestreiten kann), sondern eher um die Prämissen der Abwägung, darum, wer abwägt und wer darüber entscheidet, wer bei solchen Abwägungen politisch berät, wie Recht mit Unsicherheit umgeht und wie es kommuniziert wird, wie sich traditionelle Gefahrenabwehr zu moderner Risikoverwaltung und schließlich natürlich auch um die Rolle der Rechtswissenschaft in einer solchen Krise, ihrem notorisch schwierigen Verhältrnis zu Politik und Medien.
3. Wir diskutieren über Rechtsfragen, die uns alle persönlich betreffen. Das gab es so noch nie. Es ist eben etwas anderes, wenn wir über die EZB-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts streiten als wenn es um nächtliche Ausgangssperren in der Neujahrsnacht oder eben auch den Kampf um Leben und Tod in unserem unmittelbaren Umfeld geht. Wir leben in unterschiedlichen privaten Kontexten, wir und unser Umfeld sind unterschiedlich stark betroffen, wir haben auch deshalb sehr unterschiedlich starke Ängste. Auch wenn’s schwer fällt: Auch das prägt unseren rechtlichen Zugang zur Pandemie, und es hilft der Debatte, wenn wir uns das gegenseitig auch zugestehen.