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13 August 2021

Alter Zugang zu neuem Recht

Der Charakter der Gesetze hat sich in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend gewandelt. Dennoch greift die Bundesrepublik zu ihrer Verkündung mit dem Bundesgesetzblatt bis heute auf ein aus der Französischen Revolution geborenes Medium zurück und überlässt ihre anderweitige Bereithaltung weitgehend privatwirtschaftlichen Akteuren. Das sollte sich mit der digitalen Gesetzesverkündung ändern, die für den kommenden Jahreswechsel geplant war. Sie bleibt nun aber vorerst aus, und auch die Pläne für ein Rechtsinformationsportal formuliert die Bundesregierung überaus bescheiden. Wenn der Staat aber weiterhin darauf verzichtet, sein Recht zentral, systematisiert und aufbereitet im Internet bereitzuhalten, fällt das Publizitätsniveau in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise ab.

Zwei angekündigte Zäsuren

Nach Jahren des Stillstands ging der politische Wille zuletzt dahin, Anschluss zu der Mehrzahl europäischer Staaten zu finden, die digitale Potentiale ausschöpfen, um ihr Recht nutzerfreundlich zu erschließen.

Das betrifft zum einen das Bundesgesetzblatt, das seit jeher im Bundesanzeiger-Verlag erscheint, welcher ursprünglich staatlich gegründet, aber inzwischen vollständig privatisiert wurde. Neben der authentischen Papierversion bietet der Verlag derzeit ein kostenpflichtiges Online-Abonnement und einen stark eingeschränkten „Bürgerzugang“ an. Nachdem die Open Knowledge Foundation Deutschland die Inhalte im Dezember 2018 kopiert und kostenlos um Funktionen erweitert unter der Domain offenegesetze.de bereitgestellt hatte, gab die damalige Bundesjustizministerin Barley bekannt, dass man Gesetze und Verordnungen des Bundes ab Januar 2022 digital verkünden wolle. Neuland würde damit nicht betreten, schon im Jahr 2015 verkündeten 22 europäische Staaten digital, ebenso die EU, inzwischen auch das Saarland, Brandenburg und Bremen. Auf Bundesebene verzögert sich dieses Projekt nun aber erheblich.

Zudem entwickelt das Fellowship-Programm Tech4Germany derzeit im Auftrag des Bundesjustizministeriums ein Rechtsinformationsportal, das die drei bislang eigenständigen Portale gesetze-im-internet.de, rechtsprechung-im-internet.de und verwaltungsvorschriften-im-internet.de zusammenführen, nutzerfreundlicher gestalten und um Funktionen und Metadaten erweitern soll. Auch insoweit sind etwa Österreich und die EU bedeutend weiter. Dennoch schien dieses Bundesprojekt zunächst zu versanden, nun hat die Bundesregierung erneut beschlossen, dass bis zum Jahr 2023 ein entsprechendes Portal entstehen soll – allerdings weiterhin beschränkt auf das Recht des Bundes.

Das Recht der Netzwerkgesellschaft

Dass diese Innovationspläne verhalten ausfallen und zögerlich verwirklicht werden, ist bedauerlich, weil die Verständlichkeit des Rechts heute mehr denn je von ihnen profitieren würde. Hans Schneider hat einmal gesagt: „Die Gesetze eines Landes geben über den Zeitgeist ebenso Auskunft wie die Bauwerke.“ Der Charakter moderner Gesetzgebung ist dabei derjenige der Netzwerkgesellschaft: dynamisiert, komplex und referenziell. Einige prägnante Charakterzüge, die sich teils gegenseitig bedingen oder verstärken, können hier aufgezeigt werden:

Eine Quelle rechtlicher Komplexität bildet der Umstand, dass sich heute sämtliche Normen in ein föderales, supranationales und internationales Normennetz einfügen, das ständig aufeinander abgestimmt werden muss. Für Rechtssuchende sind diese Zusammenhänge schwer durchschaubar. So lässt sich etwa nicht stets erkennen, welcher Gesetzesteil einer EU-Umsetzung auf überschießender nationalstaatlicher Initiative (gold plating) beruht. Dabei nimmt der durch die EU motivierte Anteil staatlicher Gesetzgebung kontinuierlich zu.

Der Trend zu gesteigerter Referenzialität besteht aber auch darüber hinaus: Während Gesetze nach ihrer traditionellen Konzeption darauf zielen, dauerhafte und grundlegende Organisations- und Gestaltungsaufgaben wahrzunehmen, wandelt sich ihre Funktion in der Rechtsordnung von zentraler und hierarchischer zu kooperativer und koordinierender Rechtssetzung. Die hierfür notwendigen Bezüge werden durch gesetzliche Verweisungen hergestellt, die den Normtext reduzieren und begriffliche Kohärenz steigern können, aber gleichzeitig die Verständlichkeit des einzelnen Gesetzes schmälern. Während große Kodifikationen aus dem 19. und 20. Jahrhundert der Idee nach Lebensbereiche abschließend und ausschließlich regeln und den Rechtsuchenden damit (jedenfalls das Gefühl der) Sicherheit gewähren, keine Normen zu übersehen, ist diese Gewissheit im Falle hochgradig partikularer und vernetzter Gesetze erschüttert.

Und da die Geschichte der modernen Staatlichkeit auch eine Geschichte der Verrechtlichung sozialer Lebensbereiche war und ist, bleibt heute wenig gesetzlich unberührtes Neuland. Inzwischen wird vor allem nachgebessert, aktualisiert und umjustiert. In der Folge dominieren Änderungsgesetze die Gesetzesblätter, neben deren Inhalt auch ihre nach wie vor bestehende Gültigkeit fraglich ist. Sie sind weniger überdauerndes Fundament gesellschaftlichen Handelns als Momentaufnahmen im ständigen „policy cycle“.

Wiederum eng verwandt hiermit ist die populäre Gesetzgebungstechnik des Artikelgesetzes, das aus gesetzgebungspraktischen Gründen „auf einen Schlag“ mehrere, teils ganz unterschiedliche Materien betreffende Gesetze erstregelt oder ändert. Mitunter bilden sie Konglomerate höchst unterschiedlicher Regelungen, sodass die Suche nach Bestandteilen der nach der Nadel im Heuhaufen gleichen kann.

Adieu, Rechtsfindungsgleichheit!

Diese und weitere Faktoren sorgen dafür, dass ein Blick ins Gesetz die Rechtsfindung nicht (mehr) in jedem Fall erleichtert. Hinzu kommt: Egal wie gut oder schlecht die Gesetzespublizität verglichen hierzu in vergangenen Jahrhunderten auch gewesen sein mag, war sie für alle mehr oder weniger gleich, solange sie rein hoheitlich hergestellt wurde. Heute stellen dagegen privat betriebene Portale, die mit diversen Funktionen ausgestattet sind, sich aus vielzähligen Rechtsquellen speisen und gegen Entgelt genutzt werden können, den Goldstandard der Rechtskonsultation dar. Wer nicht in der Lage oder Willens ist, hierfür zu zahlen, muss sich mit weniger komfortablen Kostenlosangeboten begnügen. Dies treibt bedenkliche Blüten:

Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip fordern, dass die Staatsgewalt öffentlich kontrollierbar ist, was hinsichtlich der Exekutive und der Judikative in erster Linie eine Kontrolle derer Gesetzesbindung meint. Dies wird aber erst durch die Kenntnis der Rechtslage – nicht einzelner Gesetze – ermöglicht. Auch garantiert das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 GG effektiven Rechtsschutz gegen die Staatsgewalt. Hiervon könnte aber kaum gesprochen werden, wenn nicht sowohl die rechtlichen Vorgaben des Staatshandelns als auch die daraufhin denkbaren rechtlichen Schritte ermittelbar wären. In beiden Bereichen haben Menschen mit schlechterem Zugang zum Recht das Nachsehen.

Ungleichheiten entstehen auch im Bereich der Leistungsverwaltung: Nur bei Kenntnis der rechtlichen Möglichkeiten lässt sich eine autonome und rationale Entscheidung über deren Wahrnehmung treffen. Rechtsinformation dient dann dem „Empowerment“ im dem Sinne, dass sie konkrete Lebensgestaltungsmöglichkeiten schafft bzw. verbessert. Und im Verhältnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern haben sozial schwächere Menschen in Rechtsstreitigkeiten und Konkurrenzsituationen das Nachsehen, wenn ungleiche Rechtsfindungsmöglichkeiten bestehen.

Das Sozialstaatsprinzip beauftragt den Gesetzgeber, sozial ausgleichend zu wirken und allen Bevölkerungsteilen Chancengleichheit im Sinne möglichst gleicher Startbedingungen zu bieten. Im Bereich der Justiz bietet er deswegen beispielsweise weniger gut betuchten Personen Prozesskostenhilfe. Für den hiesigen Bereich folgt aus den drei Verfassungsprinzipien die Pflicht rechtsinformatorischer Daseinsvorsorge.

Das Prinzip materieller Publizität

Im Kontrast zu der durch das Bundesgesetzblatt vermittelten formellen Publizität lässt sich diese Pflicht als materielle Publizität bezeichnen. Sie dient keinen archivarischen Zwecken, sondern strebt nach möglichst weitreichenden tatsächlichen Informierungsmöglichkeiten. Wieso sollte sich das Grundgesetz mit einem wie auch immer zu bestimmenden Mindestniveau an materieller Publizität begnügen, wenn die verlässliche Konsultation der Rechtsordnung Rechtssicherheit schafft, die Kontrolle des Staates erleichtert und dem sozialstaatlichen „Empowerment“ dient? Während die Verkündung im Bundesgesetzblatt einen eher technischen Vorgang darstellt, ist die materielle Publizität selbst unmittelbarer Ausdruck grundgesetzlicher Wertungen. Sie ist die Konkretisierung des allgemeinen Öffentlichkeitsprinzips für den Bereich der Rechtsetzung. Als Prinzipiennorm hat die materielle Publizität dynamischen Charakter und stellt keine zeitlosen Vorgaben auf, sondern muss stets realitätsadäquat konkretisiert werden. Bei der Konkretisierung kommt dem Gesetzgeber ein Beurteilungsspielraum zu, der aber überschritten ist, wenn unverzichtbare Erfordernisse eindeutig nicht mehr gewahrt sind.

Nach meiner Einschätzung haben sich die Gelingensbedingungen der Gesetzespublizität aber sowohl in der Problem- als auch in der Lösungssphäre so gravierend verändert, dass sich der Gesetzgeber heute digitaler Mittel bedienen muss, um den dynamischen Netzcharakter der Rechtsordnung adäquat abzubilden. Als negativer Faktor ist der Blick ins klassische Gesetz aufgrund der gewandelten Gesetzeseigenschaften weniger denn je geeignet, materielle Publizität herzustellen, weswegen das Publizitätsniveau ohne geeignete Gegenmaßnahmen nicht nur stagniert, sondern zurückfällt. Als positiver Faktor bietet Digitaltechnik neuartige Such-, Sortierungs- und Darstellungsoptionen, die private Akteure und andere Staaten bereits zu Zwecken der Rechtsinformation erprobt haben. Nur noch ein Drittel der deutschen Bevölkerung nutzt Printmedien wöchentlich als Nachrichtenquelle, 70 Prozent greifen hierfür auf Internetdienste zurück. Auch die Rechtssuche ist vom Papier auf den Bildschirm gewandert. Die durchschnittliche Anzahl von monatlichen Aufrufen von gesetze-im-internet.de stieg von 3,3 Millionen im Jahr 2018 auf 5,1 Millionen im Januar 2021. Und bei unserer Informationssuche nutzen wir selbstverständlich Suchmaschinen und Filterfunktionen, um uns im Dschungel des „information overload“ zurechtzufinden.

Beide Faktoren wirken auf den Normappell des Prinzips materieller Publizität ein. Angesichts der begrenzten Wahrnehmungs- und Zeitressourcen gilt es, die abfallende Wahrscheinlichkeit adäquater Rechtskonsultation durch Methoden der Komplexitätsreduktion, Relevanz- und Aktualitätsbestimmung zu steigern. Angesprochen ist damit ein modernes, multifunktionelles Portal.

Zeit für ein großes Rechtsinformationsportal

Ein solches Rechtsinformationsportal könnte für die Rechtsordnung betreffende Fragen einen informationellen Knotenpunkt der Netzwerkgesellschaft bilden und profitierte von Netzwerkeffekten, die mit der Anzahl der Gesetzesquellen anstiegen, die das Portal speisen. Privatwirtschaftliche Rechtsinformationsportale sind derzeitigen staatlichen Diensten unter anderem deswegen qualitativ überlegen, weil sie solche Netzwerkeffekte nutzen und Recht verschiedener Ebenen zusammenführen.

Österreich und die Europäische Union versuchen dementsprechend, möglichst viele Rechtsquellen in ihren Portalen zu bündeln. Es ist deswegen bedauerlich, dass die Bundesregierung ein auf die Gesetzgebung des Bundes begrenztes Portal plant, obwohl ein ebenenübergreifendes Rechtsinformationsportal, das die Gesetze des Bundes und aller Länder enthält, verfassungsrechtlich zulässig wäre. Zwar geht das Grundgesetz im Ausgangspunkt von getrennten Verwaltungsräumen von Bund und Ländern aus und verbietet sogenannte „Mischverwaltung“ (Art. 30, 83 ff.). In Ausnahme hierzu ermöglicht aber Art. 91c Abs. 1 GG ein von Bund und Ländern gemeinsam betriebenes „informationstechnisches System“. Der Artikel, der im Rahmen der Föderalismusreform II in das Grundgesetz eingefügt wurde und zuletzt im Zusammenhang mit dem Digitalpakt Schule Bedeutung erlangte, ist auch vorliegend einschlägig. Der verfassungsändernde Gesetzgeber entschied sich mit Art. 91c Abs. 1 GG bewusst für eine weit und offen formulierte Generalklausel. Die Gemeinschaftsaufgabe bestünde vorliegend darin, eine digitale Infrastruktur bestehend aus Hardware- und Softwareelementen aufzubauen, diese administrativ zu warten und ständig Daten in sie einzuspeisen. Dieses System wäre auch „für ihre Aufgabenerfüllung benötigt“, wie es der Artikel verlangt, denn die Publizierung der eigenen Gesetze ist nach dem Gesagten eine verfassungsunmittelbare Aufgabe sämtlicher Staatsebenen.

Aber weswegen bei Gesetzen stehen bleiben? Auch Exekutivnormen und Gerichtsentscheidungen prägen die Rechtsordnung. Ein rechtlicher Flickenteppich, wie ihn aktuell die vielen Corona-Verordnungen bilden, wäre in einem zentralen Portal etwas überschaubarer. Die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen charakterisierte das BVerwG in einem Grundsatzurteil aus dem Jahr 1997 gar als eine aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip sowie dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgende verfassungsunmittelbare Aufgabe, weil die jeweiligen Rechte und Pflichten in einer komplexen Rechtsordnung nicht ohne ausreichende Publizität der Rechtsprechung erkennbar sind. Das galt im Grunde schon immer, durch den vermehrt zur arbeitsteiligen Problemlösung eingesetzten „Rechtserzeugungsverbund“ aus rahmensetzenden Gesetzen (Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe) und konkretisierenden Einzelakten der Judikative und Exekutive wird die Erkenntnis aber noch bedeutsamer. Dennoch werden in Deutschland noch heute weniger als ein Prozent der ergangenen Gerichtsentscheidungen veröffentlicht, wie Hanjo Hamann in seiner aktuellen Studie dokumentiert.

Was die Gestaltung eines solchen Rechtsinformationsportals anbelangt, sollte ein interdisziplinäres Team die Portale anderer Staaten und kommerzieller Drittanbieter sowie generell Suchmaschinen und Datenbanken auf ihre Funktionen hin untersuchen und Best Practices ausmachen. Es wäre nach meinem Dafürhalten jedenfalls mit intelligenten Suchfunktionen auszustatten, sollte Normzusammenhänge weitgehend darstellen und sich vom Konzept des Legal Tech inspirieren lassen. Es sollte auch alte Gesetzesversionen bereithalten und einen Vergleich der Normfassungen mittels synoptischen Darstellungsformen ermöglichen. Die Normen und Gerichtsentscheidungen sollten mit umfangreichen Metadaten versehen und eine Programmierschnittstelle integriert werden, damit entsprechend des Open Government-Gedankens Innovation gefördert und Mehrwert von Dritten kreiert werden kann. Eine solche Portallösung hätte das Potential, die Rechtsunsicherheit, die aus derzeitigen Gesetzeseigenschaften resultiert, zu einem gewissen Grad durch eine hohe Publizitätsqualität aufzufangen.

Dieser Blogbeitrag basiert auf dem Aufsatz „Gesetzespublizität im Zeitalter der Vernetzung“, der in der Zeitschrift für Gesetzgebung (ZG) erscheinen wird.


SUGGESTED CITATION  Mast, Tobias: Alter Zugang zu neuem Recht, VerfBlog, 2021/8/13, https://verfassungsblog.de/alter-zugang-zu-neuem-recht/, DOI: 10.17176/20210813-112746-0.

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