Wer wem Gewalt antut
Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat in dieser Woche allerhand Spekulationen ausgelöst mit ihrem Beschluss im Fall Jan Böhmermann. Knapper kann man gar nicht abgefertigt werden in Karlsruhe, als es dem Spaßmacher vom ZDF widerfahren ist mit seiner Verfassungsbeschwerde dagegen, für seine “Schmähkritik” am türkischen Autokraten Erdogan von der Hamburger ordentlichen Gerichtsbarkeit zur teilweisen Unterlassung verurteilt worden zu sein. Mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen, von weiterer Begründung “wird abgesehen”. Unterschrift, Stempel, fertig.
Was will uns die Kammer damit sagen? Wollte sie sich davor drücken, in diesem diplomatisch heiklen Fall Position beziehen zu müssen? Konnte sie sich vielleicht intern nicht über die richtige Begründung einig werden? Die Motive der drei Kammermitglieder liegen im Dunkel des Beratungsgeheimnisses, wo sie hingehören. Dennoch, scheint mir, kann man in der Knappheit dieses Beschlusses eine Botschaft vermuten.
Der Fall Erdogan v. Böhmermann ist jetzt schon ein Klausurenklassiker für die Jurist_innenausbildung. Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz, Satire und Kunstfreiheit, Abwägung kollidierender Grundrechte und Unantastbarkeit der Menschenwürde, demokratische Machtkritik und das Recht, für sich zu sein: alles drin! Wir haben in der Bundesrepublik ja bekanntlich seit nunmehr 63 Jahren der Gesellschaft unsere Grundrechte als Werteordnung eingezogen, anders als die Türken, die Ärmsten, und Böhmermanns Aktion hatte zum Zweck, dem Despot vom Bosporus insoweit sozusagen verfassungsrechtlichen Nachhilfeunterricht zu erteilen: Dieser hatte einen vergleichsweise harmlosen Scherz in einer anderen Fernseh-Satiresendung zum Anlass genommen, sich bei der deutschen Botschaft in Ankara zu beschweren. Guck mal, Erdogan, so Böhmermann – hier hast du eine gereimte Liste von Lügen und Beleidigungen, richtig hammerharte Schmähkritik, Fußtritte gegen deine Menschenwürde. Das ist bei uns verboten. Im Gegensatz zur freien Äußerung unserer zugegeben ziemlich geringen Meinung von dir. Die ist bei uns erlaubt.
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Nun könnte man als unbedarfte Fernsehzuschauer_in dieser satirischen Nachhilfesendung dem Missverständnis anheimfallen, das Tolle an dieser angeblichen Werteordnung sei, dass sie die Konfliktlage ordentlich in zwei Bereiche ordnet: hier die verbotene Schmähkritik, dort die erlaubte Meinungsfreiheit. Das Gegenteil ist richtig. Das Tolle daran ist nicht, dass sie Ordnung schafft, sondern dass sie Unordnung möglich hält.
Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht sind nicht zwei abstrakte Werte, deren Über- bzw. Unterordnungsverhältnis zueinander sich auf begrifflicher Ebene klären lässt, sondern zwei Rechte, die sich hart im Raum stoßen und Konflikte erzeugen: Was du über mich sagst, verletzt mich, aber dich zum Schweigen bringen, verletzt dich. Beides ist erstmal wahr, und wer hier wem Gewalt antut, eine offene Frage. Das lässt sich nicht im Gesetzbuch nachschlagen, sondern bedarf eines Prozesses: Das muss verhandelt werden. Das muss vor ein Gericht, das unabhängig und unparteiisch hört, was beide Seiten zu ihrer Rechtfertigung zu sagen haben.
Das ist im Fall Erdogan v. Böhmermann geschehen, und auch wenn sich mir bei manchem, was das OLG Hamburg zum Thema Kunstfreiheit sagt, die Nackenhaare kräuseln, so scheint mir doch die sogenannte “Abwägung” zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht im Wesentlichen okay zu sein: Was Böhmermann rechtfertigen kann, bleibt erlaubt. Was nicht, ist verboten.
Aber hätte nicht der “edukatorische Gesamtkontext” von Böhmermanns Schmähgedicht die Waagschale zu Gunsten der Meinungsfreiheit senken lassen müssen? Diese abstrakte Rechtsfrage fanden viele interessant und hätten sie gerne in Karlsruhe beantwortet gesehen. Das ist nicht passiert. Dafür hat die gleiche Kammer aber heute einen anderen Beschluss nach Hamburg geschickt: Darin geht es ebenfalls um einen Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht und um die Frage, was man über andere öffentlich sagen darf und was nicht. Der 7. Senat des Hamburger Oberlandesgerichts – der berühmte Pressesenat, der auch den Fall Böhmermann entschieden hatte – hatte eine einstweilige Anordnung erlassen und die Meinungsäußerung vorläufig untersagt, ohne den Meinungsäußerer zuvor anzuhören. Dieser hatte bis zur Zustellung der Unterlassensverfügung überhaupt keine Ahnung, dass gegen ihn überhaupt ein Verfahren geführt wurde.
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So kann man nach Ansicht des BVerfG mit dem Recht auf einen fairen Prozess nicht umgehen – schon gar nicht, wenn wie hier die Vorinstanz die andere Partei noch hilfreiche Hinweise zu den Erfolgsaussichten bestimmter Formulierungen des Antrags auf eine Unterlassensverfügung zugesteckt hatte. “Ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gericht und Antragsteller über Rechtsfragen austauschen, ohne den Antragsgegner in irgendeiner Form einzubeziehen, ist mit den Verfahrensgrundsätzen des Grundgesetzes unvereinbar.”
Das wäre allein schon staunenswert genug – aber offenbar hat dergleichen in Hamburg Methode: Es handelt sich, so das BVerfG, um einen “wiederholten Verstoß” des Pressesenats des OLG Hamburg gegen das Gesetz der Waffengleichheit bei einstweiligen Anordnungen, weshalb die Karlsruher Kammer es für nötig hält, die Hamburger Presserichter_innen “auf die rechtliche Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen” und anzukündigen, dass man in weiteren Fällen dieser Art das für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nötige besondere Interesse des Klägers, die Verfassungswidrigkeit festgestellt zu bekommen, “stets als gegeben ansehen” werde.
Es ist der Job des OLG Hamburg, den Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht zu prozessieren. Es ist der Job des BVerfG, dafür zu sorgen, dass das OLG Hamburg seinen Job macht, anstatt sich zum Rächer der Beleidigten und Entehrten aufzuschwingen und damit sich selbst als Ort, an dem Gekränkte und Kritisierer ihre Konflikte prozessieren können, zu kompromittieren. Es ist nicht der Job des BVerfG, zu kontrollieren, ob man den Fall des cleveren Jan Böhmermann noch cleverer hätte lösen können als das OLG es getan hat. Insofern würde ich zum Output dieser Woche der 2. Kammer des Ersten Senats in Karlsruhe sagen: alles richtig gemacht.
Diese Woche auf dem Verfassungsblog
Zunächst zu den aktuellen Corona-News: Für heftige Empörung hat die Ankündigung des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder gesorgt, dass der Freistaat Bayern die durch Bundesgesetz beschlossene einrichtungsbezogene Impfpflicht vorerst vorerst nicht durchsetzen werde. Verfassungsbruch? Gefährdung des Rechtsstaats? JOSEF FRANZ LINDNER meint, davon könne jedenfalls derzeit keine Rede sein.
Wer nicht geimpft, aber doch genesen ist, behält diesen Status seit Januar 2022 für drei statt wie bisher sechs Monate. Politisch war das heiß umstritten, aber rechtlich? Das Verwaltungsgericht Osnabrück hat diese Regelung jedenfalls schon mal für verfassungswidrig erklärt, u.a. wegen der Art, wie die Verordnung auf die Website des Robert-Koch-Instituts verweist. Es gebe durchaus Probleme, erläutert JOHANNES GALLON, aber so, wie das VG Osnabrück hier verfährt, gehe es jedenfalls nicht.
Muss das sächsische Justizministerium den rechtsextremen Ex-AfD-Abgeordneten Jens Maier ins Richteramt zurückkehren lassen? Die Debatte hatte in zunächst Andreas Fischer-Lescano bei uns angestoßen, und Klaus Ferdinand Gärditz war ihm zur Seite gesprungen. Die Sache ist zu einem großen Medienthema geworden (diese Woche hier, hier und hier), und KLAUS FERDINAND GÄRDITZ ergänzt seine rechtliche Argumentation.
Der Konflikt Polen v. EU steht vor einer Schicksalswoche: Am nächsten Mittwoch wird der EuGH sein Urteil über den Rechtsstaatsmechanismus verkünden, bei dem für die Verfasstheit der Union insgesamt ungeheuer viel auf dem Spiel steht. Unser Podcast zu dem Thema ist jetzt endlich auch so gut wie fertig: Der sechste und letzte Teil – Thema: Polexit – steht kurz vor der Vollendung und mit ihm das größte Projekt, das wir bisher angepackt haben.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nunmehr nach dem “Verfassungstribunal” und der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs auch der Zivilkammer die Qualität als auf Gesetz beruhendem Gericht abgesprochen, soweit an ihr Richer_innen mitwirken, die vom gekaperten Nationalen Justizrat ins Amt gebracht worden sind. Was das für die polnische Justiz und Behörden bedeutet, erläutert MARCIN SZWED, und MATHIEU LELOUP geht der Frage nach, ob Kläger_innen aus Polen vor diesem Hintergrund künftig noch abverlangt werden kann, den Rechtsweg in Polen auszuschöpfen, bevor sie sich an den Straßburger Gerichtshof wenden.
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In UK kann der Oberste Gerichtshof kein Problem darin erkennen, dass der Gesetzgeber die Gebühren für den Erwerb der Staatsbürgerschaft so hoch schraubt, dass der Zugang dazu faktisch davon abhängt, ob man ihn sich leisten kann oder nicht. TIMOTHY JACOB-OWENS bedauert, dass der Gerichtshof die Staatsbürgerschaft nicht beherzter als grundlegenden Status anerkannt hat, und hält für denkbar, dass eine nicht komplett weiß besetzte Richter_innenbank anders entschieden hätte.
In Israel setzt die Polizei Spionagesoftware gegen ihre eigenen Bürger_innen ein. Für TAMAR HOSTOVSKY BRANDES zeigt dies, dass die bestehenden israelischen Datenschutzgesetze nicht ausreichen. Aber auch die Leichtigkeit, mit der diese Überwachungstechnologien eingesetzt werden, spreche Bände über die Militarisierung der israelischen Gesellschaft.
Parallel zu den Olympischen Spielen in Peking nimmt unser neuestes Blog-Symposium zur Meinungsregulierung durch Sportverbände Fahrt auf. Die Geschichte der Regulierung freier Meinungsäußerung durch die Olympische Bewegung skizziert JÖRG KRIEGER. MARK JAMES analysiert die Anwendung von Regel 50 der Olympischen Charta, die alle politischen Äußerungen auf olympischem Gelände untersagt. Und FARAZ SHAHLAEI untersucht, wie sich dieses Verbot zum internationalen Menschenrechtsschutz und zur Meinungsfreiheit verhält.
Für unser aktuelles Blog-Symposium zu 20 Jahre 9/ 11, das sich mit den Auswirkungen der Anschläge auf Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit beschäftigt, schreiben in dieser Woche CEM TECIMER zur Türkei und JILLIAN C. YORK zur Content-Regulierung im Internet.
Soviel für diese Woche. Ihnen alles Gute, bitte unterstützen Sie uns auf Steady, bleiben Sie gesund!
Nächste Woche wird sich dieses Editorial um einen Tag nach hinten verschieben. Also Samstag Nacht statt Freitag. Sonst bleibt alles wie gewohnt.
Ihr
Max Steinbeis
“scheint mir doch die sogenannte „Abwägung“ zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht im Wesentlichen okay zu sein: Was Böhmermann rechtfertigen kann, bleibt erlaubt. Was nicht, ist verboten.”
Das überzeugt mich nun nicht. Denn das was Böhmermann “sagen” darf, ist ja nach Auffassung des OLG gar keine unzulässige Schmähung – “sackdoof, feige, verklemmt” etc. soll Böhmermann vielmehr sagen dürfen, als überspitzte Kritik – heißt: Diese Formulierungen wären auch ohne! die Einbindung des Gedichts in den edukatorischen Kontext zulässig gewesen, der ja gerade bezweckt die “unzulässigen Beleidigungen” aufzuzeigen. Insofern kann das übrigbleibende Gedicht den von Böhmermann intendierten Sinn und Zweck gar nicht mehr erfüllen, im Gegenteil wird der Sinn verkehrt, da die übrigebleibenden Äußerungen zulässig auch in anderen Kontexten sind.
Die Besonderheit des edukatorischen Kontextes hat weder das LG noch OLG hinreichend gewürdigt Letztlich beurteilen die Gerichte das Gedicht isoliert. Das ist gerade nicht “okay”