04 March 2022

Diener des Volkes

Kennen Sie “Diener des Volkes”? Alle gucken das jetzt. Ich auch. Auf der Arte-Mediathek sind noch bis Mitte Mai die ersten 23 Folgen zu sehen. Wenn Sie es noch nicht getan haben: es lohnt sich.

Sie haben doch davon gehört, oder? Die Serie ist ein paar Jahre alt, von 2015. Der Komiker Wolodymyr Selenskyi spielt darin einen Geschichtslehrer, dessen Wutausbruch über Korruption und Staatsversagen von einem Schüler heimlich mit dem Handy gefilmt wird. Das Video geht viral, wird millionenfach geklickt, die Schüler organisieren eine Crowdfunding-Kampagne, und siehe, das Wunder geschieht: der Mann wird gewählt. Der Geschichtslehrer ist plötzlich Präsident. Ohne Partei, ohne Erfahrung, umstellt von korrupten Politik-Insidern, die ihn zu kontrollieren und zu manipulieren trachten, beäugt von einer Öffentlichkeit, die nur darauf wartet, ihn als eine weitere enttäuschte Hoffnung abschreiben zu können, unterminiert von Ministern, Beamten und Parlamentariern, die sich für nichts interessieren außer für die Möglichkeit, sich zu bereichern. Und dann: seine Familie. Sein Vater fährt Taxi ohne Lizenz, und die Wahl ist kaum vorüber, da fängt er schon an, der ganzen erweiterten Verwandtschaft Jobs im öffentlichen Sektor zu versprechen und sich links und rechts Luxusgüter schenken zu lassen. Seine Schwester ernennt sich kurzerhand selbst zur Vizechefin der Finanzaufsichtsbehörde, und wer will es ihnen verdenken: Ihr Leben war hart, und das ist ihre Chance. Aber der wackere Lehrer lässt sich nicht aus dem Takt bringen, riskiert den Streit mit seiner Familie, sammelt fünf Jugendfreunde, deren berufliche Erfolglosigkeit ihre Redlichkeit verbürgt, um sich und besetzt mit ihnen die wichtigsten Posten des Staates, und wahrhaftig, nach und nach bringen sie so allmählich Ordnung in den Saustall.

Ja, ich weiß. Das ist populistisch. Der Humor ist auch bestimmt nicht jedermanns und noch weniger jederfraus Sache. Es lohnt sich trotzdem. Vielleicht gerade deswegen.

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VOLLJURIST*IN / REFERENT*IN (38,5 Std./Wo., möglichst ab 1. Mai, unbefristet)

RSF ist eine internationale Nichtregierungsorganisation mit Hauptsitz in Paris, die Verstöße gegen die Presse- und Informationsfreiheit weltweit dokumentiert und die Öffentlichkeit alarmiert, wenn Journalist*innen in Gefahr sind.

Im Berliner Advocacy-Referat schafft die Organisation erstmals eine Volljurist*innen-Stelle, um die juristische RSF-Arbeit der vergangenen Jahre noch schlagkräftiger zu gestalten

Mehr Informationen finden sich hier.

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Im Vorspann sieht man den Präsidenten auf einem weißen Fahrrad ins Amt radeln, durch die Straßen von Kiew, durch eine schöne Stadt voller Wasser und Parks und freundlichen, ganz normalen Menschen. Ich liebe mein Land, lautet der Text der wunderbar entspannten Titelmelodie, ich liebe meine Frau, ich liebe meinen Hund. Ich pfeife diese Melodie seit Tagen vor mich hin. Der ganze Hinterhof, heißt es weiter, kennt meine Losung, ich lasse es mir auf den Bauch tätowieren: Diener des Volkes.

Ja, ich weiß. Das ist Kitsch. Der da durch die Straßen Kiews radelt, die womöglich in diesem Moment in Flammen aufgehen, das ist nicht der Präsident, der womöglich in diesem Moment von Putins gedungenen Mördern umgebracht wird. Das ist eine Rolle. Das ist inszeniert.

Die Serie ist sieben Jahre alt. Erst jetzt, während das Land, von dem sie handelt, womöglich gerade untergeht, interessiere ich mich für sie. Und merke dabei, wie wenig ich weiß über den tatsächlichen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi. Wie wenig ich weiß über die ganze Ukraine. Wie wenig mich das bisher tatsächlich interessiert hat all die Jahre. Der Euromaidan 2014: ein Zeitungsereignis in einem fernen Land. Selenskyis Wahl zum Präsidenten 2019: ein Kuriosum. Ich bin nie hingefahren.

2015, als diese Serie im ukrainischen Fernsehen lief, schickte sich Vladimir Putin gerade an, Aleppo in Schutt und Asche zu legen. Auch so ein Land, von dem ich damals fast nichts wusste: Syrien. Dann kamen die syrischen Geflüchteten zu uns.

Die Ukraine liegt, anders als Syrien, direkt hinter der EU-Außengrenze. Das ist kein fernes Land. In ein paar Stunden ist man dort. Viele fahren jetzt nach Polen an die Grenze, um Geflüchteten bei der Weiterreise zu helfen. Wer das ein paar Wochen zuvor etwas weiter nördlich an der polnisch-belarussischen Grenze probiert hätte, wäre dafür ins Gefängnis gewandert. Was natürlich weder den Verdienst derer, die jetzt helfen, noch die Not derer, die jetzt fliehen, in irgendeiner Weise schmälert.

Die Ukraine ist ein Grenzland, so wie Polen auch. Die einen drinnen, die anderen draußen. Es gibt eine Szene in der Serie, in der in der Hosentasche des Präsidenten plötzlich das Handy klingelt, und Angela Merkel ist dran. Hallo, sagt sie, Ihr Land soll in die EU aufgenommen werden. Der Präsident kann sein Glück kaum fassen, die Springbrunnen gehen an, die Luft ist voller Musik. Oh, sagt Angela Merkel, sorry. Mein Fehler. Ich dachte, ich spreche mit Nordmazedonien. Die Musik erstirbt, die Springbrunnen versiegen.

Was jenseits der Grenze liegt – so wirken Grenzen – das nimmt man nicht mehr wahr. Das ist draußen, auch wenn es in Wahrheit überhaupt nicht draußen ist, sondern ganz und gar durchwirkt von Bezügen zu uns, zu dem großen, ersehnten, Schutz und Wohlstand versprechenden, unerreichbaren Imperium auf der anderen Seite der Grenze. Von drinnen nach draußen schauend passiert es einem leicht, dass man erst wieder das nächste Imperium wahrnimmt und der Blick über die Köpfe derer dazwischen hinweg geht: Pufferzone. Einflusssphäre. Nachbarschaftspolitik.

Die letzte Folge der ersten Staffel – spoiler alert! – endet damit, dass wieder ein Handy klingelt. Das des Außenministers, auch ein Schulfreund des Präsidenten. Sie feiern gerade ihren großen Sieg, der korrupte Premierminister ist endlich überführt und verhaftet worden. Aber der Außenminister ist todernst, als er dem Präsidenten das Handy reicht. Der russische Präsident, sagt er. Der (ukrainische) Präsident lacht ungläubig: Putin? Nein, sagt der andere. Sein Nachfolger.

Was das heißt? Keine Ahnung. Die zweite Staffel gibt es auf Youtube. Die schau ich mir gleich an. Interessiert mich brennend.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Vorweg: wir sind wieder mal am Limit. Unser Team hat in dieser Woche, wie Sie hier sehen, eine enorme Menge an Material zu den vielen verschiedenen Aspekten der aktuellen Krise akquiriert, redigiert und veröffentlicht. Wir können das nicht machen, wenn Sie nicht mithelfen. Wir brauchen Ihre Unterstützung. Bitte werden Sie Steady-Mitglied! Alternativ dazu helfen uns auch Einmal-Spenden oder Daueraufträge an IBAN DE41 1001 0010 0923 7441 03 oder über Paypal. Danke!

Um unsere Beiträge zum Krieg in der Ukraine zu bündeln, haben wir ein Adhoc-Blogsymposium eingerichtet.

Es geht um die Rechtsverstöße durch Russland: Die internationalen Gerichte werden aktiv, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat einstweilige Maßnahmen angeordnet, und was die bedeuten und was sie über die Positionierung des Straßburger Gerichtshofs verraten, untersuchen CHRISTIAN JOHANN und ISABELLA RISINI. PATRICK R. HOFFMANN zeigt, dass der Angriff Russlands auf die Ukraine durch die massenhafte Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft an Bewohner_innen im besetzten Teil des Donbas vorbereitet wurde – eine Praxis, die klar gegen Völkerrecht verstoße. LANDO KIRCHMAIR plädiert dafür, mit Informationskampagnen in Russland auf russischer Sprache zu intervenieren. Die Falschinformationen zu korrigieren, mit denen Putin den Krieg rechtfertigt, verstößt nach seiner Analyse nicht gegen das Völkerrecht.

Es geht um die Reaktionen des Westens: MATTHIAS VALTA beschäftigt sich mit den Wirtschaftssanktionen gegen Russland generell. MATTHIAS GOLDMANN untersucht, was von den Sanktionen gegen die russische Zentralbank rechtlich zu halten ist. Ob Kryptowährungen den Versuch, Russland finanziell unter Druck zu setzen, vereiteln können, klärt ROBBY HOUBEN. Deutschland hat das Zertifizierungsverfahren für die Gaspipeline Nord Stream 2 gestoppt, und CHRISTIAN TIETJE und JANNIS BERTLING zeigen, dass diese Maßnahme rechtlich auf sicheren Füßen steht. Die Schweiz hat sich den Sanktionen gegen Russland nach erstem Zögern angeschlossen, was aber nach Meinung von ANNA PETRIG nicht bedeutet, dass die Schweiz sich von ihrer Neutralität verabschiedet.

Es geht um die mögliche Ausweitung des Kriegs. KAI AMBOS geht der Frage nach, wann die Bundesregierung durch Waffenlieferungen an die Ukraine selbst zur Konfliktpartei würde. Finnland ist ebenso wenig wie Schweden Mitglied der NATO, aber auch der EU-Vertrag beinhaltet eine Art militärischer Beistandsklausel, die PÄIVI LEINO-SANDBERG und HANNA OJANEN unter die Lupe nehmen. Die Waffenlieferungen der EU selbst und ihre rechtlichen Grundlagen beleuchtet JELENA VON ACHENBACH und kritisiert die fehlende Öffentlichkeit bei der Errichtung der Europäischen Friedensfazilität.

Es geht um die Auswirkungen auf die Finanzverfassung: In einer historischen Bundestagssitzung letzten Sonntag hat der Bundeskanzler zur Überraschung selbst seines Kabinetts angekündigt, ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen für die Bundeswehr schaffen zu wollen. Mit Blick auf Schuldenbremse, Finanzverfassung und EU-Recht kein einfaches Unterfangen, kommentiert HANNO KUBE.

Es geht um das Flüchtlingsregime: TOM DANNENBAUM fordert, russische Deserteure als Flüchtlinge anzuerkennen und zu beschützen. (Zur EU-Massenzustromrichtlinie sind mehrere Posts in Vorbereitung.)

Es geht darum, was Putins Rechtsverletzungen und die der polnischen PiS-Regierung miteinander verbindet. EWA ŁETOWSKA warnt davor, im Kampf gegen Putin der polnischen Regierung ihre Sünden zu erlassen.

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Call for Abstracts!

Das deutsche Chapter der International Society of Public Law (ICON-S) freut sich über deutsche und englische Einreichungen zur nächsten Konferenz in Gießen am 15.-16.9.22 rund um das (weit verstandene) Thema “Spielräume des Rechts”, Frist 15.4. – The German Chapter of ICON-S invites German and English submissions on the conference theme “Margins in/of Law” – deadline April 15. – More information on the conference on our website.

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Aber auch jenseits des Kriegs in der Ukraine ist viel passiert. In Deutschland hat die Gruppe „Aufstand der letzten Generation“ hat durch ihre Aktionen an der Berliner Autobahn aktuell eine Diskussion über die Legitimität und Legalität von Protestaktionen in Deutschland entfacht. Unter anderem mit Sitzblockaden wollen die Aktivist_innen auf die Klimakrise sowie Lebensmittelverschwendung aufmerksam machen und nehmen dabei strafrechtliche Konsequenzen in Kauf. Kann die Klimakrise generell Straftaten rechtfertigen? FRANCESCA MASCHA KLEIN zeigt, dass außerhalb Deutschlands manche Gerichte bereits in diese Richtung urteilen und meint, dass sich das Argument auch auf Deutschland übertragen ließe. Nicht mit den Methoden, sondern mit den Forderungen der “letzten Generation” beschäftigt sich LAURA SPRINGER: Das geforderte „Essen-retten-Gesetz“ setze an den falschen Stellschrauben an, um Lebensmittelverschwendung zu bekämpfen.

Die Debatte um die EU-Richtlinie zu Sorgfaltspflichten in der Lieferkette geht weiter. Die Strategie der EU-Kommission, auf Zertifizierer zu setzen, fördere aber nur Private als kaum regulierte „Ersatzbehörden“ und könnte die Marktkonzentration ohnehin schon großer Unternehmen weiter verstärken, meint SAMY G. SHARAF.

In Ungarn nutzen staatliche Stellen das Verfassungsgericht, um Gerichtsurteile, die der Regierung nicht passen, per Verfassungsbeschwerde los zu werden. VIKTOR KAZAI erklärt, wie das funktioniert.

In Chile schreiben die Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung seit Mitte Februar an den Normen einer neuen Verfassung. In der ersten Woche stimmte das Plenum über Regeln zu Rechtssystem und Staatsaufbau ab. Über die Hintergründe dieser Normen, welche Ungerechtigkeiten der Vergangenheit gegenüber der indigenen Bevölkerung beheben sollen, berichtet SVENJA BONNECKE.

Eine Wahlrechtsreform in Bosnien und Herzegowina ist längst überfällig. Im Herbst stehen die nächsten Wahlen an. Welche Reformoptionen es gibtDamit das Land nicht in die nächste Krise schlittert, diskutiert BENJAMIN RASIDOVIC.

Noch immer sind deutscher und europäischer Gesetzgeber dabei, die digitale Plattformökonomie juristisch einzuhegen. Im Umgang mit Blockchain besteht nun die Gefahr, dass sich das alte Muster aus blauäugiger Begeisterung mit anschließendem Erstaunen wiederholt, kritisieren JANNIS LENNARTZ und VIKTORIA KRAETZIG.

Was mich besonders freut: Wir haben eine Kooperation mit African Law Matters vereinbart, einem neu gegründeten Blog aus Johannesburg. Afrika: Wir wissen viel zu wenig darüber. Das soll diese Kooperation ändern helfen. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Rebecca Rattner, Ropafadzo Maphosa, Helen Taylor und David Bilchitz.

Das wär’s dann. Viel Lesestoff, aber es sind ja auch wieder mal besondere Zeiten. Ihnen alles Gute, bitte unterstützen Sie uns wie gesagt auf Steady, bleiben Sie gesund, helfen Sie der Ukraine und lassen Sie den Mut nicht sinken!

Ihr

Max Steinbeis


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Diener des Volkes, VerfBlog, 2022/3/04, https://verfassungsblog.de/diener-des-volkes/, DOI: 10.17176/20220305-121012-0.

One Comment

  1. Michael Chevalier Wed 23 Mar 2022 at 23:22 - Reply

    Seit einigen Tage fehlt anscheinend die Folge 15″Diener des Volkes” und seit heute auch die letzte Folge (23)!!!! Gibt es dazu eine Erklärung und vielleicht einen Tipp, wo die noch zu sehen sind?P

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