„Notwendig, aber nicht gut“
Die Kehrtwende der Bundesregierung in der Außen- und Sicherheitspolitik ist für die grüne Partei eine Zumutung
„Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte die grüne Außenministerin Annalena Baerbock wenige Stunden, nachdem Russland den Überfall auf die Ukraine begonnen hatte. Baerbock hatte sich über den russischen Präsidenten keine Illusionen gemacht. Deshalb spricht aus ihrem Satz nicht Naivität, die einige Kommentatoren ihr vorwarfen. Während des Bundestagswahlkampfs forderten nur die Grünen, die Pipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb zu nehmen. Die russlandfreundlichen Anwandlungen von einst, die sich vor allem aus antiamerikanischen Ressentiments speisten, hat die Partei abgelegt.
Dennoch ist die Kehrtwende der Bundesregierung in der Außen- und Sicherheitspolitik eine Zumutung für die Partei. Im vergangenen Jahr war Robert Habeck, damals Parteivorsitzender der Grünen, noch scharf kritisiert worden, als er bei einem Besuch an der Frontlinie die Lieferung von “Defensivwaffen” an die Ukraine ins Spiel gebracht hatte. Diese Forderung hatten auch grüne Fachleute für Osteuropa erhoben, darunter Marieluise Beck, Ralf Fücks, Rebecca Harms und Sergey Lagodinsky. Doch in der Partei hielt man das vielfach für Hysterie. Noch in den ersten Tagen nach Kriegsbeginn hielten die Grünen an dem Grundsatz fest, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Nun schickt die Bundesregierung Panzerfäuste, Stinger-Raketen und Flugabwehrraketen.
Aufrüstung ist für viele Grüne nach wie vor ein Reizwort. Zwar versprachen Baerbock und Habeck im Wahlkampf, für eine gute Ausstattung der Bundeswehr zu sorgen, aber im grünen Programm wurde das Zwei-Prozent-Ziel der NATO als “willkürlich” abgelehnt. Die Friedensbewegung ist eine der Wurzeln der Partei, aber eine pazifistische Partei waren die Grünen spätestens seit ihrer Zustimmung zum Kosovo-Krieg 1999 nicht mehr. Aber die Übererfüllung des NATO-Ziels und hundert Milliarden Euro für die Bundeswehr, das ist manchen dann doch zu viel.
Einige Basismitglieder protestieren
Doch öffentlichen Protest gibt es in der Partei kaum. Nur ein paar Dutzend Mitglieder der „Unabhängigen Grünen Linken“, einer Basisgruppe in der Partei, schrieben kurz nach der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz, in der er die Waffenlieferungen und Aufrüstungspläne ankündigte, einen Brief an die Parteispitze und forderten eine diplomatische Lösung. „Wer jetzt Waffen liefert, füttert diesen wahnsinnigen Krieg“, heißt es in dem Brief weiter. Ansonsten fügt sich die Partei, die eigentlich für sich in Anspruch nimmt, dass Debatte und Streit zu ihrer DNA gehöre.
Allerdings war den Mitgliedern der grünen Bundestagsfraktion während Scholz‘ Regierungserklärung anzusehen, wie schwer sie sich mit dieser Zeitenwende tun. Zwar erhoben sich auch die Grünen nach der Rede und applaudierten. Doch während der Kanzler über die Milliarden für die Bundeswehr sprach, hatten die meisten Grünen nicht geklatscht, wohingegen die Union sich zum Applaus von ihren Plätzen erhoben hatte. Manche schüttelten den Kopf, schauten sich fragend an. Insbesondere viele der neuen Abgeordneten, die mit einer großen Portion Idealismus in den Bundestag eingezogen waren, seien von der Situation “überfordert” gewesen, so ist zu hören.
Ein Tweet von Paula Piechotta, einer sächsischen Abgeordneten, fasst die Stimmung der Mehrheit in Worte: „Nichts von dem, was heute im Bundestag beschlossen wurde, ist gut. Es ist notwendig, aber nicht gut.“ Weiter schreibt sie von einem „zivilisatorischen Rückschritt“, der unvermeidbar sei, „aber den man nicht beklatschen muss“. Fragt man Grüne danach, wie lange die Geschlossenheit noch hält, reagieren manche pampig. „Haben Sie gemerkt, was los ist? Das übliche Rumgestochere ist so out“, schrieb die Abgeordnete Renate Künast auf Twitter als Antwort auf eine Frage einer „Spiegel“-Journalistin, wie die Basis der Partei den Geldsegen für die Bundeswehr sehe. Hinter dieser Ruppigkeit steckt die Sorge, dass der Streit dann ausbricht, wenn der Krieg in der Ukraine an Dramatik nachlässt und die geplante Aufrüstung nicht mehr im direkten Zusammenhang zu dem Leid der Menschen gesehen wird.
Grüne Führung will neuen Farbbeutel verhindern
Die grüne Führung bemüht sich daher, der Parteibasis den neuen Kurs zu vermitteln. Natürlich wird regelmäßig an den Farbbeutel erinnert, der Joschka Fischer, dem damaligen Außenminister, 1999 auf dem Bielefelder Parteitag um die Ohren flog, als er die Partei auf den Einsatz im Kosovo einschwor. Das soll nicht noch einmal passieren. Denn als Regierungspartei müssen die Grünen auch ihren Koalitionspartnern und vor allem den internationalen Partnern vermitteln, dass man in dieser harten Zeit auf sie zählen kann. Bei den Grünen ist eine Arbeitsteilung zwischen den Mitgliedern der Bundesregierung und der Parteispitze erkennbar.
Baerbock und Habeck vertreten als Teil der Bundesregierung den neuen Kurs nach außen. Die grüne Außenministerin, die noch im Wahlkampf viel Rücksicht auf die Seele der Partei genommen hatte, scheint sich von grünen Dogmen befreit zu haben. Sie machte sich sogar für die Lieferung von Kampfjets an die Ukraine stark. In der Plenardebatte nach Scholz‘ Regierungserklärung war aber auch zu beobachten, dass die beiden grünen Minister zum Teil andere Schwerpunkte setzten als der Kanzler. Baerbock hob etwa die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit hervor. Habeck, der sich um die Versorgungssicherheit kümmern muss, bezeichnet die energiepolitische Unabhängigkeit von Russland als “Frage der nationalen Sicherheit”. Er verbindet damit die Hoffnung, dass es nun breite Unterstützung für den Ausbau der Erneuerbaren Energien gebe – „die einzigen Energieformen, die niemandem gehören, sind Sonne und Wind“, so Habeck. Der Gedanke, dass man gleichzeitig Russland und den Klimawandel bekämpfen könne, kommt unter Grünen gut an.
Vor allem ist es aber Aufgabe der Spitzen von Partei und Fraktion, nach innen zu wirken. Es ist das Bemühen erkennbar, auch zweifelnde Grüne mit der neuen Zeit zu versöhnen. Der Parteivorsitzende Omid Nouripour vollzog etwa einen interessanten Schwenk in der Begründung der Waffenlieferungen: Die Grünen seien nicht dafür, obwohl sie „Friedenspartei“ seien, sondern eben deswegen. Weil die Grünen die „Partei des Völkerrechts“ seien, stünden sie zu Artikel 51 der UN-Charta und zum Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung, sagte Nouripour ein paar Tage nach Bekanntgabe der Waffenlieferungen. Auch Katja Keul, einst eine entschiedene Gegnerin von militärischer Unterstützung für die Ukraine, stützt sich nun auf die Charta und argumentiert, es gebe keinen Meinungswechsel bei den Grünen, das Ja zu Waffenlieferungen sei die Konsequenz des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs. Es ist eine Frage der Perspektive, ob sich die grüne Politik gedreht hat oder die Welt.
„Grüne sind Partei des Völkerrechts“
„Keine neue Haltung“ lautet auch das Fazit von Irene Mihalic, der Parlamentarischen Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion. Sie machte deutlich, dass bei Scholz‘ Ankündigungen das letzte Wort noch nicht gesprochen sei, dass die Grünen im Bundestag hier noch Einfluss ausüben könnten. So zog sie im F.A.Z.-Interview in Zweifel, dass die hundert Milliarden Euro, die Scholz der Bundeswehr versprochen hatte, tatsächlich ausschließlich für Rüstung ausgegeben werden sollten. Es gebe einen “umfassenden Sicherheitsbegriff”, sagte sie, dazu gehöre auch die Unabhängigkeit der Energieversorgung, die Entwicklungszusammenarbeit und der Zivilschutz.
Ricarda Lang, Parteivorsitzende vom linken Flügel und frühere Sprecherin der Grünen Jugend, sprach sich zwar für eine bessere Ausstattung des Militärs aus, holte aber grüne Skeptiker ab, indem sie die Strukturen der Bundeswehr kritisierte. Man müsse verhindern, dass Milliarden-Investitionen in “nicht funktionierende Strukturen“ gepumpt würden. Britta Haßelmann, Fraktionsvorsitzende der Grünen, mahnte schon in der Bundestagsdebatte nach Scholz‘ Regierungserklärung: „Die Entscheidung und der Ort der Debatte ist hier im Parlament.“ Das war ein Wink, dass Scholz den Grünen für ihre Zustimmung etwas anbieten muss.
An der Basis geht die Sorge um, ob die vielen anderen Projekte der Grünen, insbesondere der Kampf gegen die Klimakrise, angesichts der neuen Prioritäten noch zu bewältigen seien. Was bleibt von der „feministischen Außenpolitik“, die Grünen so wichtig ist, wenn nun das Militärische im Vordergrund steht? Wie soll „vorausschauende Politik“, ein weiteres Versprechen der Grünen, in Zeiten der Krise gelingen? Und vor allem: Wie viel Geld ist noch für die Bewältigung der Energiewende übrig, wenn die Bundeswehr nun so hohe Summen verschlingt?
In diesem Punkt richten grüne Spitzenpolitiker unverhohlen die Forderung an die FDP, nun ihrerseits über den eigenen Schatten zu springen, nämlich durch den Abschied von der Schuldenbremse. Jürgen Trittin, Parteilinker und außenpolitischer Sprecher der Fraktion äußerte in einem Gespräch mit dem „Spiegel“, das Sondervermögen für Rüstung sei „praktisch eine Genehmigung für Schulden“. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge sagte dem „Handelsblatt“, angesichts der aktuellen Notlage könne „niemand seriös vorhersagen, ob die Schuldenbremse nächstes Jahr eingehalten werden kann“.
Vor vollendete Tatsachen gestellt
Es waren nicht nur Scholz‘ Ankündigungen, die unter Grünen für Unbehagen sorgten, sondern auch der Umgang des Kanzlers mit dem Parlament. Die Abgeordneten, auch die der Regierungsfraktionen, wurden von Scholz vor vollendete Tatsachen gestellt. Eigentlich sind die Grünen hier besonders empfindlich. Sie hatten in der vergangenen Legislaturperiode scharf kritisiert, dass die wichtigen Entscheidungen in der Pandemie von der Ministerpräsidentenkonferenz getroffen wurden und hatten sich vehement für eine Stärkung des Parlaments ausgesprochen. Den Satz, die Krise sei die Stunde der Exekutive, wollten sie nicht länger als Begründung hinnehmen. Und sind sie schon wieder in dieser Rolle.
Kurz vor der Sitzung des Bundestags waren die Grünen zu einer virtuellen Fraktionssitzung zusammengekommen. Sie sprachen über die Lage in der Ukraine und über den Plan der Bundesregierung, Waffen an die Ukraine zu liefern. Darüber hatte das Kanzleramt am Abend zuvor informiert. Weitere Details kannten die Grünen noch nicht, auch nicht die Spitzen von Partei und Fraktion. Vom Sondervermögen für die Bundeswehr hörten sie erst von Scholz selbst. Dessen Rede war nur weniger Minuten vor Beginn der Sitzung an die Abgeordneten verschickt worden.
Allein Habeck und Baerbock sollen besser im Bilde gewesen sein. Scholz hatte vorab mit beiden telefoniert: als erstes mit Habeck, dem Vizekanzler, dem Scholz, selbst langjähriger Vizekanzler, das Prä gibt, erst danach mit Baerbock. Es gibt Berichte, dass es in diesen Gesprächen auch um das Sondervermögen ging. Von anderen wird das dementiert, doch richtig glaubhaft ist das nicht. Plausibler scheint, dass man sich so innerparteilichen Ärger ersparen will: Die Grünen mit ihrem basisdemokratischen Anspruch reagieren besonders empfindlich, wenn die Spitze ihre Informationen nicht teilt. Das zeigt, dass der Krieg in der Ukraine die Grünen nicht nur wegen der schweren inhaltlichen Entscheidungen auf die Probe stellt. Er zwingt sie auch zu Anpassungen ihrer inneren Ordnung. Es ist offensichtlich, dass in einer Lage wie dieser nicht alle bei allen Entscheidungen mitreden können. Aber nun sehen die Grünen, dass außer zwei Ministern niemand mitreden kann und den übrigen nicht viel übrig bleibt, außer deren Entscheidungen hinzunehmen – oder besser noch: öffentlich zu unterstützen. Man könnte sagen, in der Krise gilt auch bei den Grünen: Top down.
Als Habeck die Grünen im Herbst bei der Abstimmung über den Koalitionsvertrag auf das Regieren eingeschworen hatte, sagte er, es sei doch ein „Treppenwitz der Geschichte“, wenn die Partei, die anderen so viel zumute, nicht bereit sei, sich selbst etwas zuzumuten. Ende Januar diskutierten die Grünen auf ihrem Parteitag darüber, das Quorum für Anträge anzuheben – worin viele Mitglieder einen Angriff auf die basisdemokratische Ordnung sehen. Der scheidende Vorsitzende Habeck sagte damals, es sei nun an der Zeit, „erwachsen“ zu werden. Der Krieg in der Ukraine hat diesen Prozess massiv beschleunigt.