23 March 2022

Schlecht gemeint

Die begrenzte Zustimmung der Unionsfraktion zum Bundeswehr-Sondervermögen verheißt nichts Gutes für die parlamentarische Demokratie

In einer spektakulären sicherheitspolitischen Kehrtwende hat Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Bundestag angekündigt, die Bundeswehr nicht nur in deutlich höherem Umfang aus dem Haushalt zu finanzieren, sondern auch ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro einzurichten, das deren Modernisierung dienen soll. Dem Vernehmen nach wusste die Verteidigungsministerin am Tag der Verkündung nichts von diesem Plan, wohl aber Oppositionsführer Friedrich Merz – denn das Sondervermögen bedarf einer Grundgesetzänderung und die wiederum ist an die Zustimmung der Unionsfraktion gebunden.

Friedrich Merz möchte nun die Zustimmung seiner Fraktion zum 100 Milliarden-Sondervermögen der Bundeswehr davon abhängig machen, dass die Koalition geschlossen für diesen Vorschlag stimmt. Das klingt erstmal logisch. Wenn die größte Oppositionspartei der Regierungsmehrheit zu einer verfassungsändernden Mehrheit verhilft und somit etwas tut, dass aller Wahrscheinlichkeit nach vor allem der Koalition hilft, dann kann sie im Gegenzug auch erwarten, dass deren Mehrheit steht und ihre Zustimmung an Bedingungen knüpfen. Oder? Aus demokratietheoretischer Sicht lautet die Antwort wie so häufig: jein.

Natürlich kann jede Partei ihr Abstimmungsverhalten konditionieren. Forderungen wie die nach Mitsprache bei der Verwendung von Mitteln, dem Ausschluss von oder dem Plazet für nur ganz bestimmte Ausgaben etc. pp. gehören zum Kerngeschäft der parlamentarischen Mehrheitsbildung. Merz‘ Junktim geht aber in eine andere Richtung, weg von den Inhalten und hin zur Arithmetik. Seine Botschaft lautet, dass die Union nur mitmacht, wenn die Ampel sich vollumfänglich zur sicherheitspolitischen Kehrtwende bekennt und alle ihre Abgeordneten dafür stimmen.

Die politische Logik dieser Forderung ist deutlich: Auf die SPD und insbesondere deren friedenspolitischer Flügel soll Druck ausgeübt werden. Zwar wurden die Tauben in der SPD um Fraktionsführer Rolf Mützenich von Bundeskanzler Olaf Scholz zunächst überrumpelt, aber es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeiten um vorherzusagen, dass hier bald Murren einsetzen wird und dass mindestens Enthaltungen ins Haus stehen. Genau hier setzt Merz an, denn er ist alt genug, um noch zu wissen, wer Helmut Schmidt zuvorderst ums Amt des Bundeskanzlers gebracht hat: diejenigen Friedenspolitiker, die den NATO-Doppelbeschluss ablehnten. Zwar ist heute wenigstens der damals federführende Doppelparteiaustreter Oskar Lafontaine nicht mehr mit von der Partie, doch trotzdem droht Scholz Ungemach. Dass Merz dieses Ungemach politisch verstärken will, ist nachvollziehbar – und aus der Perspektive der Demokratie vollkommen unangemessen.

Das Problematische an Merz‘ Vorschlag ist: Er hebt auf just das ab, was viele fälschlicherweise dem Parlamentarismus unterstellen, nämlich den Fraktionszwang. „Fraktionszwang“ dürfte nach „Hinterzimmer“ eine der ersten Assoziationen sein, die die meisten mit dem Begriff Parlamentarismus verbinden. Allein, es gibt ihn nicht. Natürlich reden die Parlamentarischen Geschäftsführer:innen skeptischen Abgeordneten gut zu und natürlich wird auch mal über niedrigschwellige Formen der Anerkennung für bestimmtes Abstimmungsverhalten nachgedacht, das ist Teil des parlamentarischen Regierens. Aber wer dagegen ist, kann dies sein. Die großen öffentlichkeitswirksamen Entscheidungen sind ja nur die Spitze des Eisbergs von 547 Gesetzesvorhaben, die der Bundestag allein in der letzten Legislaturperiode verabschiedet hat (mehr als zwei pro Sitzung). Politische Zustimmung kann dauerhaft – und genau diese Dauerhaftigkeit macht parlamentarisches Regieren aus – nur über Anreize und nicht über Sanktionen gesichert werden. Als Gerd Schröder 2001 im Zuge des Afghanistan-Einsatzes die Vertrauensfrage stellen musste, war seine Kanzlerschaft bereits angeknackst. Auch hier erwies sich die Sicherheitspolitik übrigens wieder als neckbreaker von SPD-Mehrheiten. 

Der Parlamentarismus funktioniert also als Teamsport, bei dem alle Mitglieder derselben Fraktion ein sehr ähnliches politisches Interesse haben und deshalb gegeneinander in Teams antreten. Ausnahmen, die diese Regel bestätigen, gehören zwingend dazu, andernfalls wäre auch die Formel aus Artikel 38 GG, dass Abgeordnete nur ihrem Gewissen verpflichtet sind, hinfällig. Was Amtsinhabern der Regierung immer zu Unrecht unterstellt wird, nämlich die Gewissensfreiheit der Abgeordneten machtpolitisch zu schleifen, just das will der Oppositionspolitiker Merz jetzt also ganz offiziell zum Unterpfand einer Zustimmung der Union zur Bildung eines Sondervermögens der Bundeswehr machen? Aus der Perspektive der Demokratie entpuppt sich dieses Ansinnen als bizarr, erst recht, wenn man berücksichtigt, dass die Union das Sondervermögen ja ganz überwiegend unterstützt.

Führt man sich die Folgen des Merz-Vorschlags ganz praktisch vor Augen, offenbart sich eine doppelte Paradoxie: Einerseits möchte Merz die SPD-Friedenstauben konditionieren, obwohl die ja im Team Scholz unterschrieben haben. Mützenich und Co. sollten der Logik des Parlamentarismus zufolge, wenn überhaupt, die Kabinettsmitglieder der SPD ins Gewissen reden und ggf. auch politische Vorgaben machen. Andererseits müsste Merz aber auch allen überzähligen, für eine verfassungsändernde Mehrheit nicht notwendigen Abgeordneten der Union signalisieren, dass sie bitte unabhängig von ihren eigenen Präferenzen gegen das Sondervermögen der Bundeswehr stimmen oder sich zumindest enthalten sollen.

Wie sähe das im Fall, dass die Regierung den Vorschlag von Merz annimmt und alle ihre Abgeordneten dem Sondervermögen zustimmen, konkret aus? Eine Zweidrittelmehrheit ist bei 491 Abgeordneten erreicht; die Koalition verfügt über 416 Sitze. Es müssten also 75 zusätzliche Abgeordnete der Union zustimmen – und 122 dagegen. Merz und seine Parlamentarischen Geschäftsführer müssten also nahezu zwei Drittel ihrer eigenen Fraktion dazu bringen, in einer Frage von überragender sicherheitspolitischer Bedeutung die eigene politische Haltung hintanzustellen und sich mindestens zu enthalten. Andernfalls würde die Drohkulisse der Mehrheit gegenüber nicht aufrechtzuerhalten sein. Wie gesagt: taktisches Abstimmungsverhalten und, freundlich formuliert, politische Überzeugungsarbeit gehören zum Alltag des Parlamentarismus. Aber doch bei grummelnden Minderheiten im eigenen Lager, nicht bei der übergroßen Mehrheit!

Denkt man den Vorschlag noch etwas realitätsnäher durch, wird er vollends zur Farce. Bei folgenreichen parlamentarischen Abstimmungen kommt es immer auch auf die maladen Abgeordneten an. Bisweilen nehmen Abgeordnete wortwörtlich im Krankenbett an wichtigen Entscheidungen teil. Was, wenn sich notorische Friedenspolitiker für den gegenteiligen Weg entscheiden und sich am Tag der Abstimmung krankmelden, um so den Vorschlag von Merz zu umgehen? Kommt dann Merz mit dem Amtsarzt und überprüft das, damit ein weiteres Mitglied der Unionsfraktion ebenfalls dem Sondervermögen zustimmen kann? Und sollte er friedenspolitisch motivierte Abstimmungsschwänzer:innen aufspüren, leitet Merz die dann gleich an Bild-TV weiter, damit sie dort als Diätenritter diffamiert werden können? In seinen praktischen Konsequenzen ließe Merz‘ Vorschlag den Parlamentarismus des Bundestages zu dem Zerrbild werden, das er in Wirklichkeit eben nicht ist.

Und jetzt eine letzte Frage: Was spricht eigentlich gegen das klassische Mittel der Opposition in Fällen, in denen sie der Regierung zu einer Mehrheit verhilft, nämlich die inhaltliche Mitsprache? Warum nicht bestimmte Ausgabeposten, die aus dem Sondervermögen finanziert werden sollen, vorschreiben oder andere ausschließen? Der Eindruck, der entsteht, lautet: weil Inhalte Merz nicht so brennend interessieren wie selbst zu regieren.

Es heißt häufig, das Gegenteil von „gut“ sei „gut gemeint“. Schon rein logisch spricht viel mehr dafür, dass dieses Gegenteil „schlecht gemeint“ ist. Der Vorschlag von Friedrich Merz ist schlecht gemeint, denn er soll Abgeordnete aus mindestens zwei Fraktionen dazu zwingen, gegen ihre eigenen Präferenzen abzustimmen – damit am Ende dasselbe Ergebnis herauskommt wie ohne diesen Zwang, nämlich eine verfassungsändernde Mehrheit für das Sondervermögen der Bundeswehr. Sind dies die Spielchen, mit denen Merz die Union nach den Merkel-Jahren – in die die maßgeblichen sicherheitspolitischen Fehl- bzw. Nichtentscheidungen der Vergangenheit fielen – wieder kanzlerfähig machen will? In der Zeit der größten sicherheitspolitischen Krise Europas seit dem Ende des Kalten Krieges? Wenn der Oppositionschef so mit der Regierung umzuspringen zu können glaubt, dann freut man sich schon auf seine „klare Kante“ (Friedrich Merz) gegenüber der AfD.


SUGGESTED CITATION  Koß, Michael: Schlecht gemeint: Die begrenzte Zustimmung der Unionsfraktion zum Bundeswehr-Sondervermögen verheißt nichts Gutes für die parlamentarische Demokratie, VerfBlog, 2022/3/23, https://verfassungsblog.de/schlecht-gemeint/, DOI: 10.17176/20220324-001230-0.

One Comment

  1. Der Zauber der Wirklichkeit Thu 24 Mar 2022 at 09:41 - Reply

    Den Ausführungen von Herrn Koß ist zuzustimmen. Und es ist noch ein weiterer externer Faktor zu ergänzen, der Herrn Merz ganz schlecht aussehen lassen kann: Die AfD hat sich im Bundestag bislang kritisch, aber keineswegs grundsätzlich ablehnend zum BW-Sondervermögen geäußert. Wie will der Unions-Fraktionsvorsitzende darauf reagieren, wenn nun zumindest ein Teil der AfD-Fraktion Zustimmung signalisiert? Noch einmal Unions-Abgeordnete in entsprechender Größenordnung “abziehen”? Kaum vorstellbar. Es wird für Merz politisch nicht durchzuhalten sein, wenn ein so fundamentales Vorhaben, das die Union grundsätzlich begrüßt, nur aufgrund von AfD-Stimmen die notwendige Mehrheit erhalten sollte. Mit seiner Taktiererei hat er sich hier in höchstem Maße angreifbar gemacht.

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