29 July 2022

Karlsruher Türsteher

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz

Man könnte es als Karlsruher Sommerritual bezeichnen. Ende Juli lädt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gerne zu mündlichen Verhandlungen zu Rechtsfragen im Mehrebenensystem. Vor drei Jahren – am 30. und 31. Juli 2019verhandelte das BVerfG über das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB). Diese Woche, am 26. und 27. Juli, hieß das Thema „Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz“ (ERatG) und zumindest, was die verfassungsrechtlichen Maßstäbe angeht, ging es um vergleichbare Fragen wie vor drei Jahren (ultra vires-Kontrolle, Identitätskontrolle und Integrationsverantwortung des Bundestages). Damals wäre der Gegenstand des jetzigen Verfahrens undenkbar gewesen. Dass eine Pandemie ausbrechen würde und infolgedessen ein EU-Wiederaufbaufonds die wirtschaftlichen Folgen dieser Pandemie bekämpfen sollte, ist eine neue Realität. Die politischen Entscheidungen, die in Gestalt von „Next Generation EU“ (NGEU) in rechtliche Form gegossen wurden, treffen auf alte Rechtsfragen. Der Gegenstand der Verhandlung bewegt sich an den Grenzen des deutschen und europäischen Verfassungsrechts. Es ist insbesondere strittig, inwiefern die häufig als innovativ bezeichnete rechtliche Konstruktion von NGEU einen integrationspolitischen Überschuss in sich trägt.

Die Vorgeschichte der mündlichen Verhandlung

Die Absicht, einen Wiederaufbaufonds für die europäische Wirtschaft einzurichten, verkündeten die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron im Mai 2020 – kurze Zeit, nachdem das Gericht seine PSPP-Entscheidung verkündet hatte. Zusammen mit dem Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 sollte ein Sonderbudget helfen, die durch die Pandemie enorm geschwächte Wirtschaft wiederaufzubauen. „Next Generation EU“ war geboren – nach Merkel eine „außergewöhnliche, einmalige Kraftanstrengung“. Der damalige Bundesfinanzminister und heutige Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einem „Hamilton-Moment“ und dem Einstieg in eine Fiskalunion.

Die politische Absicht wurde schließlich in rechtliche Form gebracht. Der Bundestag ratifizierte den Eigenmittelbeschluss im ERatG. Daraufhin entschied der Zweite Senat des BVerfG bereits zweimal in Eilverfahren: Am 26. März 2021 erging ein Hängebeschluss, wonach das ERatG bis zur Entscheidung des Gerichts über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht durch den Bundespräsidenten ausgefertigt werden durfte (s. dazu Riedl). Den Eilantrag zur Ausfertigung des ERatG hatte das Gericht sodann am 15. April 2021 abgelehnt, so dass schließlich auch die Gelder aus dem Aufbaufonds fließen konnten. Der Beschluss ließ aber, insbesondere was die ultra vires-Kontrolle anging, für das Hauptsacheverfahren viel Raum.

Das Setting der mündlichen Verhandlung

Die Karlsruher Verhandlungstage waren intensiv. Zwei volle Tage hörte sich die Richter:innenbank die Stellungnahmen der Bevollmächtigten der Verfahrensbeteiligten und weiterer geladener Sachverständiger an und stellte zahlreiche Fragen – einzelne Richter:innen formulierten ganze Fragekataloge.

Wie vor drei Jahren kamen ökonomische Sachverständige zu Wort, die Unterschiede eines ökonomischen und rechtlichen Blicks auf die Frage wurden deutlich. Nicht nur darin glichen sich die Verhandlungen. Im Hinblick auf den Kreis der Beschwerdeführer und deren Anliegen könnte man von einem „manchmal ermüdenden Ritual“ sprechen. Außerdem verhandelten der gleiche Senat und der gleiche Berichterstatter, Peter M. Huber. Inzwischen steht dieser jedoch kurz vor dem Ende seiner Amtszeit. Auch weitere Amtszeiten von Richter:innen des Senats enden bald. Die Richter:innenbank ist durch das Amtszeitende des Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle zudem anders zusammengesetzt und hat eine neue Vorsitzende, Doris König.

Die zwei Tage orientierten sich in ihrem Ablauf an der vom Gericht bereits vorher zur Verfügung gestellten Verhandlungsgliederung. So begann die Verhandlung mit Einführung und Eröffnungsstatements. Im Anschluss trugen die Bevollmächtigten zu Zulässigkeit und Maßstäben vor. Hier zeigten sich erste Problemlinien. Der Bevollmächtigte der Bundesregierung, Heiko Sauer, argumentierte unter Verweis auf das bereits beschlossene Gesetz, dass das Demokratieprinzip bei einem Handeln des Gesetzgebers schlicht nicht verletzt sein könne, da dieses Handeln Demokratie ermögliche und nicht verhindere. Ulrich Hufeld, Bevollmächtigter des Bundestages, sprach von einem „Wunderwerk der parlamentarischen Europapolitik“. Die „Herren der Verträge“ hätten gesprochen.

Die Fragen, die unter der Überschrift „Subsumtion“ behandelt wurden, machten den längsten Teil der mündlichen Verhandlung aus. Während am ersten Tag nur die Bevollmächtigten und einige Mitglieder des Bundestages zu Wort kamen, begann der zweite Tag mit der Stellungnahme des Vertreters der Europäischen Kommission, Clemens Ladenburger, an die sich diejenige des Bundesrechnungshofes, Ahmed Demir, anschloss. Der Nachmittag war den Ökonomen gewidmet. In den zwischenzeitlichen sowie abschließenden Statements betonten die Bevollmächtigten ihre Positionen. Die Thematik verleitete die Redner:innen immer wieder zu rhetorischen Mitteln und Referenzen zu teils bekannten Topoi – die „schwäbische Hausfrau“ fehlte nicht, von „schwarzen Gewitterwolken“ und „Kaffeesatzleserei“ war die Rede.

Offene Rechtsfragen

Im Mittelpunkt der rechtlichen Auseinandersetzungen stand unter anderem die Frage nach der Rechtsnatur des Eigenmittelbeschlusses. Art. 311 Abs. 3 AEUV sieht ein besonderes Rechtsetzungsverfahren für diesen Beschluss vor, wonach die Zustimmung der Mitgliedstaaten erforderlich ist. Handelt es sich also um ein besonderes Vertragsänderungsverfahren und damit um Primärrecht? Bei einer derartigen Qualifikation könnte man überlegen, ob ein ultra vires-Akt dann gar nicht in Betracht käme. Der Eigenmittelbeschluss verweist jedoch nicht auf das in Art. 48 EUV normierte Vertragsänderungsverfahren. Außerdem ist er ein „Beschluss“ des Rates. Ist er deshalb Sekundärrecht? Die Frage blieb während der Verhandlung offen. Einige argumentierten, dass es auf die Rechtsnatur für die Frage der Verfassungsmäßigkeit des ERatG erst gar nicht ankäme. Die Argumentation wurde mit der Frage verknüpft, welchen Bindungen der Eigenmittelbeschluss unterliegt, insbesondere, ob darin angeordnet werden dürfe, auf Ebene der Union Schulden aufzunehmen.

Im weiteren Verlauf ging es im Detail um die entscheidenden Vorschriften der europäischen Verträge. Insbesondere Art. 311 und 122 AEUV wurden in ihren einzelnen Absätzen und Wort für Wort auseinandergenommen. Besonders umstritten waren die Auslegung von Art. 311 Abs. 2 AEUV: „Der Haushalt wird unbeschadet der sonstigen Einnahme vollständig aus Eigenmitteln finanziert.“ Angesichts einer möglichen Qualifikation von NGEU als „sonstige Einnahmen“ wurde die Frage nach dem Verhältnis von Eigenmitteln und sonstigen Einnahmen diskutiert. Ähnlich detailliert fragten die Richter:innen bei der Auslegung von Art. 122 Abs. 1 und 2 AEUV nach: Was sind „der Wirtschaftslage angemessene Maßnahmen“? Was ist unter dem „Geiste der Solidarität“ zu verstehen? Welche Bedeutung kommt dem Regelbeispiel in Art. 122 Abs. 1 a.E. zu? An diesen Punkten hakten die Richter:innen immer wieder nach. Sie fragten, ob Art. 122 Abs. 1 AEUV überhaupt einzuhegen sei und ob Art. 122 Abs. 2 AEUV ohne die Möglichkeit, auf Ebene der Union Schulden aufzunehmen, nicht letztlich leerliefe.

Auch die Frage nach dem Verschuldungsverbot der EU zog sich durch die Verhandlung. Mehrere Redner:innen wiesen darauf hin, dass noch vor zehn Jahren die einhellige Meinung im (deutschen) europarechtlichen Schrifttum gewesen sei, dass ein solches Verbot bestehe. Mittlerweile sei die Bandbreite der Meinungen größer. Die Verträge enthielten keine explizite Anordnung eines solchen Verbots, erlaubten Verschuldung aber auch nicht explizit. Die Meinungen zu der Frage gingen auch an den Verhandlungstagen auseinander.

An den Grenzen des Rechts

Über die Auslegung der einzelnen Vorschriften, die bei der rechtlichen Konstruktion von NGEU eine Rolle spielen, hinaus stand im Raum, ob die europäischen Verträge in ihrer Finanzarchitektur unter einem strukturellen Defizit litten. Die Beschwerdeführer waren der Ansicht, dass NGEU nach den aktuellen Verträgen rechtswidrig sei. Die Vertreter von Bundestag und Bundesregierung und auch der Europäischen Kommission sahen in NGEU eine rechtliche Konstruktion, die auf der Grundlage der Verträge basiert. Mit der Frage nach der Auslegung der vertraglichen Bestimmungen verband sich die schwierige Frage, die sich wie ein roter Faden durch die Verhandlung zog: Handelt es sich bei NGEU um ein einmaliges Sonderbudget oder ist es der „Türöffner“ zu einer veränderten europäischen Finanzarchitektur und insbesondere einer dauerhaften Verschuldung auf der Ebene der EU?

Es lässt sich bereits darüber streiten, inwiefern diese Frage für das konkrete Verfahren rechtlich erheblich ist. Schließlich ist es primär eine politische Frage, ob und wie Instrumente in Notlagen eingesetzt werden. Um dies zu untermauern, betonten die Vertreter von Bundestag, Bundesregierung und Kommission die zeitliche Begrenzung von NGEU, die Einmaligkeit der Pandemiesituation, die Tatsache, dass die Eigenmittel höher seien als das Sonderbudget, sowie die Notwendigkeit der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Auf der anderen Seite betonte man die sich seit der Finanzkrise zeigende Tendenz und zog insbesondere Vergleiche zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Bei NGEU bedeute das Risiko eines Haftungseintritts (Art. 9 Abs. 4 ff. Eigenmittelbeschluss), dass der Bundestag angesichts der Gesamtsumme von NGEU seine Haushaltsautonomie verliere. Dagegen wurde immer wieder betont, wie unwahrscheinlich dieses Szenario sei und dass es sich gerade nicht um eine gesamtschuldnerische Haftung handle. Auch die ökonomische Expertise nahm zu diesem Punkt Stellung. Das Gericht fragte intensiv nach. Der Sachverständige Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts, sah ein logisches Problem in der Bewertung von NGEU: Man sage gleichzeitig „Das war eine gute Sache.“ und „Das machen wir nie wieder.“

Schließlich kam in der Verhandlung auch zu Sprache, dass nicht zuletzt die PSPP-Entscheidung, in der das Gericht auf das vertraglich festgeschriebene Mandat der EZB verwiesen hatte, in Zusammenhang mit der deutsch-französischen politischen Initiative zu NGEU zu sehen sei. Mit der mündlichen Verhandlung wurde deutlich, dass bei der rechtlichen Beurteilung von NGEU implizit wieder politische Fragen verhandelt wurden, die äußerst relevant für die Zukunft der EU sind. Das Urteil könnte deshalb ein wichtiges Signal sein. Das lässt die Entscheidung mit Spannung erwarten. Es ist naheliegend, dass sie noch vor Ende der Amtszeit des berichterstattenden Richters im November dieses Jahres verkündet wird. Ein Entscheidungsdatum deutete die Vorsitzende jedoch zum Schluss der Verhandlung nicht an. Vielmehr schloss sie die Verhandlung mit einem vielsagenden „Man sieht sich wieder“.


SUGGESTED CITATION  Weber, Ruth: Karlsruher Türsteher: Das Bundesverfassungsgericht verhandelt das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz, VerfBlog, 2022/7/29, https://verfassungsblog.de/karlsruher-tursteher/, DOI: 10.17176/20220729-181842-0.

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