Der Corona-Aufbaufonds, die Fiskalunion und das Bundesverfassungsgericht
Am 26.03.2021 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts angeordnet, dass das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz (ERatG) vorläufig nicht durch den Bundespräsidenten ausgefertigt werden darf. Dadurch bannt es vorläufig die Gefahr, dass ein europarechts- und verfassungswidriger Weg in die Fiskalunion eingeschlagen wird. Was steckt dahinter, und was ist von den in diesem Verfahren aufgeworfenen Verfassungsrechtsfragen zu halten?
Es handelt sich dabei zunächst um einen sogenannten Hängebeschluss, d.h. der Beschluss greift lediglich vorläufig, bis das BVerfG die Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung getroffen hat. Mithin handelt es sich um einen „Eil-Eil-Rechtsschutz“ für besonders dringende Fälle, bei denen selbst bis zur Entscheidung über den Eilantrag vollendete Tatsachen drohen. Das heißt aber auch, dass durch den Beschluss vom 26.03.2021 noch nicht einmal das vorletzte Wort in dieser Angelegenheit gesprochen wurde. Die Entscheidungen im Eilrechtschutz und insbesondere in der Hauptsache stehen noch aus. Es wird also noch länger dauern, bis über die Verfassungsmäßigkeit des Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes entschieden ist.
Gegenstand des Eilverfahren ist das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz. Dabei handelt es sich um das deutsche Zustimmungsgesetz zum Finanzierungssystem der Europäischen Union bis zum Jahr 2027. Es ist die rechtliche Grundlage für das Inkrafttreten des aktuellen Eigenmittelbeschlusses der Europäischen Union vom 14.12.2020. Die Eigenmittelbeschlüsse der Europäischen Union beruhen auf Art. 311 Abs. 3 AEUV und dienen neben sonstigen Einnahmen der Finanzierung des EU-Haushalts. Der aktuelle Eigenmittelbeschluss ermöglicht es der Europäischen Kommission in Art. 5 Abs. 1a, Kredite in Höhe von bis zu 750 Milliarden Euro und mit einer Laufzeit von bis zu 38 Jahren aufzunehmen. Mit diesen Mitteln will die Europäische Union im Rahmen ihres Konjunkturpakets NextGenerationEU temporär 750 Milliarden Euro einsetzen, um die unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Schäden der Corona-Pandemie zu beheben. Wichtigstes Instrument im Rahmen dieses Konjunkturpakets ist dabei die Recovery and Resilience Facility, wodurch 627,5 Milliarden Euro an Darlehen und Zuschüssen zur Unterstützung von Reformen und Investitionen in den Ländern der Europäischen Union bereitgestellt werden sollen. Eine Umsetzung der Konjunkturpakete durch die Europäische Union ist erst möglich, wenn alle Mitgliedstaaten den Eigenmittelbeschluss ratifiziert haben (Art. 311 Abs. 3 S. 3 AEUV).
Bundestagsbeschluss nach hitziger Debatte
Der Bundestag hat am 25.03.2021 dem Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz zugestimmt, der Bundesrat einen Tag später. Der Abstimmung im Bundestag ging eine hitzige Debatte voraus, in deren Verlauf Michael Roth (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt, in seiner Funktion als Regierungsvertreter das Eigenmittelsystem „als einen notwendigen und überfälligen Schritt in Richtung Fiskalunion“ bezeichnete. Der Eigenmittelbeschluss diene mitnichten nur als Wiederaufbauprogramm, sondern mithilfe der 750 Milliarden Euro solle in die Erneuerung der Europäischen Union, in Digitalisierung, den sozialen Zusammenhalt und vor allem in mehr Klimaschutz investiert werden. Das Eigenmittelsystem solle auch dazu beitragen, dass die Europäische Union in Zukunft über neue Steuern verfüge. Das Europäische Parlament solle nicht nur die Ausgabenverantwortlichkeit, sondern auch Verantwortung für die Einnahmen tragen.
Laut Peter Boehringer (AfD), Vorsitzender des Haushaltsausschusses, markiere der Gesetzesentwurf dagegen „den letzten Schritt in die illegale EU-Fiskalunion“. Der Eigenmittelbeschluss habe keine Rechtsgrundlage in den Europäischen Verträgen, da der Europäischen Union eine Kreditfinanzierung ihrer Ausgaben grundsätzlich verboten sei. Das BVerfG habe schon 2012 sinngemäß geurteilt, der Deutsche Bundestag dürfe keinem Mechanismus zustimmen, der zu einer Haftungsübernahme für andere Staaten führe.
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) nannte als Rechtsgrundlage für den Eigenmittelbeschluss der Europäischen Union Art. 311 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 122 AEUV. Danach handle es sich um ein Aufbauinstrument für den Ausnahmefall außergewöhnlicher und gravierender wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Gleichzeitig sei eine dauerhafte Schuldenaufnahme der EU zur Finanzierung operativer Haushaltsausgaben unzulässig. Die Interpretation des Staatsministers Roth als Weg in die Transferunion wiesen er, ebenso wie Christian Dürr (FDP) vehement zurück.
Verfassungsbeschwerde und Eilrechtschutz durch das Bündnis Bürgerwille
Antragsteller der Verfassungsbeschwerde und des Eilantrags vom 22.03.2021 ist das Bündnis Bürgerwille rund um Bernd Lucke. Die Antragsteller kritisierten inhaltlich zwei Punkte:
1. Die Ermächtigung zur Verschuldung der Europäischen Union verstoße gegen die bestehenden Unionsverträge, sei mithin ein Ultra-vires-Akt. Zum einen sei schon nach dem Wortlaut die Aufnahme von Fremdmitteln keine Entscheidung über Eigenmittel. Zum anderen verstoße der Eigenmittelbeschluss gegen das Unionsprinzip, dass die Mitgliedstaaten nicht wechselseitig für ihre jeweiligen Verbindlichkeiten einstehen müssen und in ihrer Finanzpolitik eigenverantwortlich handeln können.
2. Zudem liege auch ein Verstoß gegen die Verfassungsidentität vor, da die Verschuldung der Union dazu führe, dass der Bundestag nicht mehr Herr seines Budgetrechts sei. Die Kommission könne allein und frei bestimmen, welche Mitgliedstaaten im Haftungsfall die Schulden zurückzahlen müssen. Zudem sei die Haftungsgrenze so hoch angelegt, dass Deutschland im schlimmsten Fall für die gesamten 750 Milliarden Euro haften müsse.
Wie wird das BVerfG entscheiden?
Die zentrale Frage ist, ob der Bundestag mit dem Gesetz gegen seine Integrationsverantwortung verstoßen und die absoluten Integrationsschranken des Grundgesetzes, das Verbot des Ultra-vires-Handelns und das Verbot der Berührung der Verfassungsidentität, verletzt hat.
Eine Ultra-vires-Kontrolle, d. h. Kompetenzkontrolle, bezieht sich gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG darauf, ob die EU-Organe auf hinreichend qualifizierte und strukturell bedeutsame Weise ihre Kompetenzen überschritten haben. Im konkreten Fall stellt sich die Frage, ob der Eigenmittelbeschluss offensichtlich gegen die Unionsverträge verstößt. Was die Frage der Rechtsgrundlage betrifft, ist davon auszugehen, dass die Verfassungsbeschwerde an dieser Stelle weder im Eilentscheid noch in der Hauptsache Erfolg haben wird. Anders sieht es dagegen bei der Frage der Zweckbindung aus.
Unstreitig ist Art. 311 Abs. 3 AEUV die unionsrechtliche Rechtsgrundlage für den europäischen Eigenmittelbeschluss vom 14.12.2020. Danach erlässt der Rat im besonderen Gesetzgebungsverfahren einstimmig und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einen Beschluss, mit dem die Bestimmungen über das System der Eigenmittel der Union festgelegt werden. Das ist auch geschehen. Ausweislich des Art. 311 Abs. 3 S. 2 AEUV können allerdings lediglich Eigenmittel eingeführt werden. Die Antragssteller argumentieren, dass es sich bei der Kreditaufnahme aber gerade um Fremdmittel handle. Dabei handelt es sich um ein sehr restriktives Wortlautargument, gestützt auf die Differenzierung von Fremd- und Eigenkapital in der Betriebswirtschaftslehre. Der EuGH mit seiner stark teleologisch orientierten und vom effet-utile-Gedanken geleiteten Rechtsprechung wird dieser Argumentation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht folgen. Stattdessen wird er vermutlich ein weites Verständnis von Eigenmitteln befürworten. Sollte das BVerfG der Argumentation des Antragsstellers folgen, wäre hier jedenfalls eine Vorlage an den EuGH notwendig. Ein Acte clair, der eine Vorlage entbehrlich machen würde, liegt nicht vor.
Allerdings kommt es auch auf die Zweckbindung des Eigenmittelbeschlusses an. Gemäß Art. 122 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV kann die Europäische Union mit konkreten Maßnahmen mittels verbindlichen Rechtsakten aktiv werden, um etwa bei gravierenden Versorgungsengpässen, Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen einem Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. Die genannten unionsrechtlichen Aufbauinstrumente im Rahmen der Konjunkturpakete NextGenerationEU und Recovery and Resilience Facility werden ausdrücklich auf diesen Art. 122 AEUV gestützt. Der kritische Punkt ist dabei, ob die Konjunkturpakete wirklich nur auf die Überwindung der unmittelbaren Corona-Folgen gerichtet sind. Nur wenn sie auf diesen Ausnahmefall beschränkt bleiben und die enge Zweckbindung einhalten, können sie auf die grundsätzlich eng auszulegende Ausnahmevorschrift des Art. 122 AEUV gestützt werden.
Ein Eigenmittelsystem, das insoweit nicht nur als Wiederaufbauprogramm dient, sondern in viele andere Sachbereiche übergreift, wie es Staatsminister Michael Roth vorschwebt, wäre dabei nur schwerlich mit Art. 122 AEUV vereinbar. Die Bundesregierung selbst plant 37 % der Zuweisungen der Europäischen Union für den Klimaschutz und 20 Prozent für Digitalisierung zu verwenden (BT-Drucksache 19/27838). Während die Verwendung für die Digitalisierung wegen der Lockdown-Folgen und der eingeschränkten direkten Kontaktmöglichkeiten noch im unmittelbaren Zusammenhang mit der Corona-Notlage stehen kann, ist dies bei der Verwendung für den Klimaschutz nicht der Fall. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der mit Abstand größte Teil der Corona-Hilfen für den Klimaschutz ausgegeben werden soll, der in keinem Zusammenhang zur Corona-Pandemie steht. Im Gegenteil, wenn die Pandemie irgendwelche „positiven“ Auswirkungen hat, dann auf die Entwicklung des Weltklimas. Natürlich können durch Investitionen in den Klimaschutz auch Arbeitsplätze geschaffen werden. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob dies noch ausreichend unmittelbar mit der Bekämpfung der Corona-Folgen zusammenhängt. Schon aus diesem Grund wird das BVerfG die Zweckbindung auch des Eigenmittelbeschlusses der Europäischen Union sehr genau unter die Lupe nehmen. Hier hat die Verfassungsbeschwerde realistische Erfolgschancen.
Eine Frage der Verfassungsidentität
Aber selbst wenn das neue Eigenmittelsystem der Europäischen Union europarechtlich in Ordnung ist, darf das deutsche Zustimmungsgesetz nicht gegen die Verfassungsidentität des Grundgesetzes verstoßen. Unionsrechtliche Hoheitsakte sind am Maßstab des Grundgesetzes zu überprüfen, wenn dies zur Kontrolle der Wahrung der durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG verbürgten Verfassungsidentität Deutschlands unabdingbar geboten ist. Und auch hier hat die Verfassungsbeschwerde wohl gute Aussichten auf Erfolg.
Das BVerfG verankert den Schutz der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestags direkt in Art. 79 Abs. 3 GG. Der unabänderliche Kernbereich des Demokratieprinzips ist verletzt, wenn der Deutsche Bundestag durch eine Maßnahme der Europäischen Union seiner parlamentarischen Haushaltverantwortung insoweit entäußert wird, als er oder zukünftige Bundestage das Budgetrecht nicht mehr eigenverantwortlich ausüben können. Davon umfasst ist auch das Verbot, für Willensentscheidungen Dritter mit schwer kalkulierbaren Folgen mitzuhaften.
Sehr kritisch sind hier das mögliche Haftungsvolumen und die Haftungsdauer. Aufgrund der langen Laufzeit der Kredite werden zukünftige Bundestage bis ins Jahr 2058 an den Eigenmittelbeschluss gebunden sein. Niemand wird ernsthaft annehmen, dass bis zur letzten Tilgungsrate 2058 regelmäßige und wiederkehrende Krisenwellen in Europa ausbleiben. Auch in den nächsten Krisen werden neue Hilfspakete geschnürt werden, wie es in der jüngeren Vergangenheit immer geschehen ist. Insoweit könnte Staatsminister Roth Recht haben, wenn er durch den Eigenmittelbeschluss den Weg der Europäischen Union in die Fiskalunion vorgezeichnet sieht. Die Corona-Notlage könnte ausgenutzt werden, um durch die normative Kraft des Faktischen die Fiskalunion unumgänglich zu machen. Statt den Weg über eine Änderung der Verträge zu gehen, scheint versucht zu werden, die Fiskalunion im Rahmen der Haushaltsplanung zu „legitimieren“. Entscheidend ist die Frage, ob Deutschland notfalls vollumfänglich für 750 Milliarden Euro allein haften würde. Sollten hier im Eigenmittelsystem der Europäischen Union keine ausreichenden Sicherungsmechanismen vorhanden sein, steht ein Verstoß gegen die haushaltspolitischen Gesamtverantwortung und die Verfassungsidentität unmittelbar im Raum.
Problematisch ist zuletzt auch die wirtschaftliche Intransparenz der Mittelbeschaffung. Wo und wie wird die Europäische Union 750 Milliarden Euro Schulden machen? Welche Institutionen stellen die Kredite zur Verfügung? Hat die Europäische Kommission dabei freie Hand?
Das BVerfG wird also noch viele offene Fragen klären müssen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es den Hängebeschluss erlassen hat, um einen unumkehrbaren Zustand zu verhindern. Selbst im Rahmen des vorläufigen Eilentscheids sind, wie dargestellt, noch wesentliche Rechts- und Tatsachenfragen zu klären. Sollten das BVerfG insbesondere von einer fehlenden Zweckbindung des Eigenmittelbeschlusses ausgehen, dann wird es auch in der Eil- und in der Hauptsacheentscheidung den fortgeschrittenen Weg konsequent weitergehen, um einen europarechts- und verfassungswidrigen Weg in die Fiskalunion zu stoppen.