Einmal Top, einmal Flop
Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet mit Augenmaß
Zu Beginn einer Pandemie ist vieles erlaubt – aber doch nicht alles. So lassen sich die ersten beiden Hauptsacheentscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 22. November 2022 zu Coronamaßnahmen aus der Anfangsphase der Pandemie (hier und hier) grob zusammenfassen. Konkret ging es um Vorschriften der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung und der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung. Während das BVerwG nun erstere für rechtmäßig erklärt hat, hält es letztere wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für rechtswidrig. Damit steht fest: Bayern hat im Überbietungswettkampf der Länder um die schärfsten Corona-Maßnahmen die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit überschritten. Und das BVerwG hat einmal mehr gezeigt, dass die Gerichte auch im Falle einer Pandemie genau hinschauen und die Verhältnismäßigkeit in jedem Einzelfall genau überprüfen – unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der Verordnungsgebung herrschenden Umstände.
Die Verfahrensgegenstände
Dem sächsischen Verfahren lag ein Normenkontrollantrag gegen verschiedene Rechtsvorschriften der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung vom 17. April 2020 zugrunde, die mit Ablauf des 3. Mai 2020 außer Kraft getreten ist. Der Antragsteller hatte die Feststellung begehrt, dass die Verordnungsregelungen über die Kontaktbeschränkung für den Aufenthalt im öffentlichen Raum, über die Schließung von Einrichtungen wie Sportstätten für den Publikumsverkehr sowie über die Untersagung von Gastronomiebetrieben unwirksam gewesen sind. Das erstinstanzlich zuständige Oberverwaltungsgericht hatte den Normenkontrollantrag am 15. Oktober 2021 abgelehnt, weil die angegriffenen Regelungen rechtmäßig gewesen seien. Es hat angenommen, dass die Ermächtigungsgrundlage des § 32 i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG i.d.F. des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprochen habe. Es ist des Weiteren davon ausgegangen, dass der Antragsgegner von dieser Ermächtigung durch den Erlass der fraglichen Verordnungsbestimmungen in nicht zu beanstandender Weise Gebrauch gemacht habe. Die Rüge mangelhafter Sachverhaltsermittlung sah es als nicht durchgreifend an. Angesichts der damals herrschenden Unsicherheit über die Gefährlichkeit, die Übertragungswege und die Auswirkungen einer Ansteckung mit dem Coronavirus SARS-CoV-2, einer fehlenden effektiven Medikation zur Behandlung von COVID-19 und einer zu diesem Zeitpunkt fehlenden Impfmöglichkeit habe sich der Antragsgegner vorrangig auf die fachlichen Empfehlungen und Stellungnahmen des Robert-Koch-Instituts als der dafür gesetzlich vorgesehenen sachverständigen Stelle stützen dürfen. Danach seien die angeordneten Maßnahmen verhältnismäßig gewesen. Dem Antragsgegner komme bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit von Infektionsschutzmaßnahmen ein Einschätzungsspielraum zu, dessen Grenzen er nicht überschritten habe. Gegen dieses Urteil hatte sich die vom Oberverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Revision des Antragstellers gerichtet.
Gegenstand des zweiten Verfahrens war die Ausgangsbeschränkung durch die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 i.d.F. der Änderungsverordnung vom 31. März 2020 (außer Kraft getreten mit Ablauf des 19. April 2020). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte mit Beschluss vom 4. Oktober 2021 auf den Normenkontrollantrag der beiden Antragsteller festgestellt, dass die Ausgangsbeschränkung unwirksam gewesen war. Der Antragsgegner habe den Ausnahmetatbestand der „triftigen Gründe“, die zum Verlassen der eigenen Wohnung berechtigten, so eng gefasst, dass die Ausgangsbeschränkung im Ergebnis unverhältnismäßig gewesen sei. Denn von der Beschränkung sei auch das Verweilen im Freien alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes erfasst gewesen. Dass diese Maßnahme zum Zweck der Hemmung der Übertragung des Coronavirus erforderlich gewesen sei, hatte der Antragsteller im Verfahren nicht hinreichend begründen können. Jedenfalls sei die landesweite Ausgangsbeschränkung unangemessen gewesen. Der Antragsgegner könne sich nicht auf einen gerichtlich nicht vollständig überprüfbaren Einschätzungsspielraum bei der Auswahl der Schutzmaßnahmen berufen. Die Verhältnismäßigkeit der Ausgangsbeschränkung unterliege der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Gegen diese Entscheidung hatte sich der Antragsgegner mit der vom Verwaltungsgerichtshof wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision gewandt.
Der epidemische Einschätzungsspielraum ist groß, aber nicht grenzenlos
Das BVerwG hat einmal „Top“ und einmal „Flop“ gesagt: Die am 24. März 2020 erlassenen Ausgangsbeschränkungen in Bayern erklärte es wegen unverhältnismäßigen Grundrechtseingriffs für rechtswidrig, während es die Kontaktbeschränkungen in Sachsen nach der dortigen Corona-Verordnung für rechtmäßig hielt. Angesichts der im Frühjahr 2020 bestehenden Ungewissheiten sei die Generalklausel des § 28 i.V.m. § 32 IfSG ausreichend gewesen, um die sächsische Corona-Verordnung zu legitimieren; der sächsische Verordnungsgeber habe seinen Einschätzungsspielraum – entgegen dem bayerischen Verordnungsgeber – nicht überschritten.
Zusammengelesen machen die beiden Entscheidungen deutlich, dass der Einschätzungsspielraum des Verordnungsgebers in einer Zeit großer Ungewissheit und Unsicherheit – wie in einer Pandemie – zwar groß ist (Sachsen), aber doch nicht grenzenlos (Bayern). Hier findet das BVerwG einen situationsangemessenen Mittelweg. Denn in der Anfangszeit einer Pandemie herrschen häufig große Unbekannte: Wie genau und wo überträgt sich das Virus? Welche Verhaltensweisen sind besonders riskant, welche Personen(-gruppen) besonders gefährdet…? Wir erinnern uns an die ersten Monate der Corona-Pandemie: Niemand wusste Genaueres, es wurde viel spekuliert und es herrschte Unsicherheit und Angst. Damit der Staat gerade in solchen Zeiten seinem Schutzauftrag für Leben und Gesundheit der Bürger (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) effektiv gerecht werden kann, ohne stets Gefahr zu laufen, im Nachgang, wenn mehr bekannt ist, des unverhältnismäßigen Handelns bezichtigt zu werden, muss ihm ein entsprechend großer Einschätzungsspielraum bei der Prognose der geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen zugestanden werden. Vor allem dürfen die staatlichen Verantwortlichen – und damit schließt sich das BVerwG der Rechtsprechung des BVerfG an – die Bewertung der entsprechenden Fachgremien (etwa des Robert-Koch-Instituts) zugrunde legen. Doch der Staat hat auch in Zeiten der Ausnahmesituation keine prognostische Narrenfreiheit, sondern muss sich stets am Ziel der Reduktion der Virusübertragung orientieren. Er darf sich nicht zu pauschalen „Rundumschlägen“ hinreißen lassen, die offensichtlich unsinnig sind. Das heißt: Auch wenn der Handlungsdruck groß ist und die Zeit zum Handeln knapp, muss der Staat ein situationsangemessenes rechtsstaatliches Augenmaß wahren und muss sein Handeln zumindest einer Plausibilitätskontrolle standhalten.
Verhältnismäßigkeitsprinzip und Wesentlichkeitsgrundsatz sind nicht statisch
Die Entscheidungen bestätigen, was bereits viele unterinstanzliche Gerichte und auch das BVerfG in den Entscheidungen über coronabedingte Grundrechtseinschränkungen immer wieder deutlich gemacht haben: Es gibt nicht „das“ Verhältnismäßigkeitsprinzip und „den“ Wesentlichkeitsgrundsatz, sondern diese beiden rechtstaatlichen Ausprägungen sind jeweils situationsangemessen mit Inhalt zu füllen. Heißt: Sie sind stets vor dem Hintergrund der aktuellen Situation auszulegen, in der der Staat eine Entscheidung zu treffen hat– und dann dynamisch anzupassen, wenn sich die Situation (insbesondere aufgrund zunehmenden Wissens und abnehmender Unsicherheit) entwickelt und verändert. Dementsprechend können auch Generalklauseln in der ersten Zeit der Unsicherheit stärkere Grundrechtseingriffe legitimieren, als sie es mit zunehmendem Wissen später vermögen. Mit zunehmenden Erkenntnissen werden bestimmtere Eingriffsgrundlagen kodifikationsreif und der Gesetzgeber zur Nachschärfung verpflichtet.
Die Judikative funktioniert
Die beiden Entscheidungen des BVerwG machen einmal mehr deutlich, dass die Judikative auch in Zeiten von Pandemien funktioniert: Sie spielt sich einerseits nicht zur allwissenden Epidemiologin auf und stellt überzogene Anforderungen, scheut sich andererseits aber auch nicht, die staatlichen Verantwortlichen in gewisse – vernünftige und realistische – Schranken zu weisen. Damit lebt sie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz selbst vor: Sie erweist sich als unabhängige ex-post-Prüfinstanz, wahrt dabei aber ein situationsangemessenes Maß. Dass eine solche Rechtsprechung als richtungsweisend gilt, ist nicht nur aus rechtsstaatlicher Sicht beruhigend.
Mit diesen beiden Entscheidungen ist nicht alles geklärt. In Sachsen ist die Sache klar: Die sächsische Verordnung war damals rechtmäßig. Theoretisch hätte der Antragsteller zwar noch die Möglichkeit, vor das BVerfG zu ziehen. Die Erfolgsaussichten einer solchen Verfassungsbeschwerde dürften aber gering sein. Folgefragen bleiben indes hinsichtlich der Entscheidung über die bayerische Verordnung. Dies betrifft zwar nicht das Schicksal der Verordnung selbst; denn sie ist nicht mehr in Kraft. Klärungsbedürftig ist indes, ob aufgrund der bayerischen Verordnung verhängte Bußgelder an die Betroffenen zurückzuzahlen sind und wie es um die theoretisch denkbare Wiederaufnahme derartiger Verfahren steht.
Hallo, danke für den lesenswerten Artikel – was ist nun die Konsequenz? Wird gegen die Bay Landesregierung wegen dieses Grundrechtseingriffs strafrechtlich ermittelt und wird dies Rücktritte zur Folge haben? Oder passiert hier de facto Nichts?!