22 August 2022

Lehrstück der Verhältnismäßigkeitsprüfung

Zur „Impfpflicht“ für Kitakinder gegen die Masern

„Zielgerichtete mittelbare Grundrechtseingriffe“, die durch den „Standard medizinischer Vernünftigkeit“ als Richtlinie und Maßstab des Elterngrundrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gerechtfertigt sind – so lässt sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. August zur Nachweispflicht einer Masernimmunisierung für Kinder, die in Kindertagesstätten betreut werden sollen, grob zusammenfassen. Die Entscheidung ist wissenschaftsbasiert, realistisch und abgewogen – das Lehrstück einer Grundrechtsprüfung – und keine Verhältnismäßigkeit auf Leerlauf.

Die Entscheidung und ihre Hintergründe

Das Bundesverfassungsgericht hat am 18. August 2022 entschieden, dass die gemeinhin (und so nicht ganz richtig) als Masern-„Impfpflicht“ bezeichnete Auf- und Nachweispflicht einer Masernimmunisierung nach § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG verfassungskonform ist – allerdings nur unter der Maßgabe einer verfassungskonformen Auslegung von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG im Wege einer teleologischen Reduktion. Die Entscheidung kommt nicht überraschend, denn schon im Mai 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht einen entsprechenden Eilantrag abgelehnt.

Zum Hintergrund: Masern ist eine hochansteckende Krankheit mit potenziell tödlichem Ausgang, deren Ausrottung Ziel der WHO ist. Die Durchimpfungsrate in Deutschland bei den Kindern, die nach der aktuellen STIKO-Empfehlung im impffähigen Alter sind, beträgt statt der erforderlichen 95% (sog. Herdenimmunität) nur 73,9%. In Deutschland gibt es nur Kombinationsimpfstoffe, mit denen gleichzeitig auch gegen Mumps, Röteln und teilweise Windpocken geimpft wird. Laut RKI wird ein Teil der Kinder deutlich später als empfohlen oder gar nicht geimpft. Seit dem 31. Juli 2022 gilt deshalb nach § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG für alle Kinder, die in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nr. 1 und Nr. 2 IfSG (z.B. Kindertageseinrichtungen oder erlaubnispflichtige Kindertagespflege) betreut werden, dass sie nur dann dort betreut werden dürfen, wenn sie einen ausreichenden Impfschutz oder eine Immunität gegen Masern auf- und nachweisen können.

Wissenschaftsbasiert und kompetenzwahrend

Die eingangs in den Entscheidungsgründen sehr ausführliche Darstellung der medizinisch-wissenschaftlichen Ausgangs- und Erkenntnislage liest sich wie ein Epidemiologisches Bulletin des RKI und macht deutlich, dass – im Gegensatz zu Corona – angesichts weitestgehend gesicherter Erkenntnisse nur ein sehr geringes Maß an Unwissenheit und Unsicherheit besteht: Die Nebenwirkungen einer Impfung und mögliche Impfreaktionen sind milder Natur, während die Gefahren und Folgen einer Masernerkrankung gerade für kleine Kinder und vulnerable Risikogruppen gravierend und sogar tödlich sein können. Das Bundesverfassungsgericht macht deutlich: Der Gesetzgeber darf sich auf der sicheren Seite wähnen, wenn er sich in medizinisch-wissenschaftlicher Hinsicht an die renommierten Expertengremien (etwa RKI, PEI, STIKO und WHO) hält. Die Ausführungen zu diesen Gremien in den Entscheidungsgründen sind eine deutliche Absage an die gerade auch während der Corona-Pandemie immer wieder geäußerte Kritik vermeintlich einseitiger medizinisch-wissenschaftlicher Politikberatung und der Behauptung einer Monopolstellung dieser wissenschaftlichen Beratungsgremien.

Die Entscheidung zeigt einmal mehr die Relevanz der einzelnen Disziplinen und vor allem ihres Zusammenspiels sowie der Kenntnis der eigenen (Kompetenz-)Grenzen. Gerichte und Gesetzgeber können keine Naturwissenschaft und keine Medizin, sondern sind auf die dafür eingerichteten und anerkannten Institutionen und deren Erkenntnisse angewiesen. Spiegelbildlich dazu dürfen sie sich dann aber auch auf diese Erkenntnisse stützen und sie ihren Entscheidungen zugrunde legen. Das Bundesverfassungsgericht erkennt diese Trennungen und Verflechtungen an und hält sie sauber auseinander, ohne selbst in die Versuchung zu kommen, Gesetzgeber oder Naturwissenschaftler zu spielen.

Für den Gesetzgeber folgt aus dem Beschluss: Je mehr der Gesetzgeber sich in dem Gesetzgebungsverfahren mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft auseinandersetzt und je mehr er die entsprechenden Expertengremien und Sachverständigen auf seiner Seite hat, desto eher ist eine Impfpflicht verfassungskonform. Eine medizinisch-wissenschaftlich erwiesene große Gefahrennähe und eine hohe Wirksamkeit eines entsprechenden Impfstoffes sind gleichsam ein „Anscheinsbeweis“ für das Überwiegen der staatlichen Schutzpflichten.

Verfassungsrechtlich „eingefrorener“ Kombinationsimpfstoff

Ein wesentlicher Streitpunkt ist und bleibt die fehlende Existenz eines Monoimpfstoffes gegen die Masern. Zwar beschränkt das Bundesverfassungsgericht im Wege einer teleologischen Reduktion die Auf- und Nachweispflicht nach § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG auf die zum Zeitpunkt des Gesetzeserlasses existenten Kombinationsimpfstoffe; nicht wenige halten aber eine entsprechende Immunisierungsnachweispflicht nur bei der Existenz eines Monoimpfstoffes für rechtfertigungsfähig.1)

Warum hat das Bundesverfassungsgericht nicht vorgegeben, dass es als Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit der Auf- und Nachweispflicht einen reinen Masernimpfstoff geben muss? Durch den in Deutschland einzig vorhandenen Mehrfachimpfstoff müssen Kinder immer auch gegen Röteln, Mumps (und ggf.Windpocken) geimpft werden, obwohl die Nachweispflicht nur für Masern gilt und es in der Schweiz durchaus reine Masern-Impfstoffe gibt. Die Karlsruher Begründung ist pragmatisch-realistisch (und nicht dünn). Das BVerfG setzt sich in Rn. 29 infolge der Anhörung sachkundiger Dritter (Rn. 44) ausführlich mit dem Risikoprofil der Mehrfachimpfstoffe gegenüber Masernmonoimpfstoffen auseinander. Auch im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung geht es vertieft auf die Problematik der fehlenden Monoimpfstoffe gegen die Masern ein und kommt zu dem – pragmatisch-realitätsgerechten, wenn auch nicht erfreulichen – Ergebnis, dass die Verpflichtung des Staates auf Beschaffung eines Monoimpf­stoffes angesichts des Fehlens eines solchen in Deutschland und in der EU und vor allem angesichts des fehlenden entsprechenden Marktes kein milderes, gleich effizientes Mittel ist. Die dezidierten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts machen zudem deutlich, dass die Bewertung wohl anders ausfiele, wenn der Mehrfachimpfstoff gegenüber einem Monoimpfstoff das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen wesentlich erhöhen würde (Rn. 138). Es bleibt also eine auf die einzelne Erkrankung und den einzelnen Impfstoff bezogene, nicht verallgemeinerbare Entscheidung.

Manch einer hätte sich sicherlich gewünscht, dass das Bundesverfassungsgericht den Staat verpflichtet hätte, nachdrücklich auf die Entwicklung eines Monoimpfstoffes hinzuwirken, wenn eine entsprechende Auf- und Nachweispflicht Bestand haben soll. Unabhängig davon, dass das Bundesverfassungsgericht dies für die streitgegenständliche Pflicht schon nicht für erforderlich hält (Rn. 152), sähe es sich angesichts der Marktsituation und der Komplexität der Impfstoffentwicklung dann aber mit Sicherheit von anderer Seite dem Vorwurf der Kompetenz- und Kenntnisüberschreitung ausgesetzt. Immerhin weisen die Richter auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Ansbach hin, wonach der Schweizer Monoimpstoff (auf eigene Kosten) nach Deutschland eingeführt und hier geimpft werden kann. Auch so könne man die Nachweispflicht erfüllen. Dies wirft allerdings – dies war aber nicht Entscheidungsgegenstand – die Frage auf, ob es gleichheitskonform ist, dass die Privatbeschaffung eines Monoimpfstoffes aus der Schweiz – dessen Verimpfung der Nachweispflicht genügt – privat finanziert werden muss, während die Impfung mit dem Mehrfachimpfstoff eine Kassenleistung darstellt.

Diplomatisches Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht ist sichtbar bemüht, durch umfangreiche und kleinteilige Begründung die Akzeptanz der Entscheidung zu erhöhen. Schon im zweiten Satz der Begründetheitsprüfung wird betont, dass die angegriffenen Vorschriften in der Tat Eingriffe in die geltend gemachten Grundrechte darstellen. Der Senat versucht nicht, die Ziele der Regelung zu beschönigen, sondern spricht klar aus, dass es dem Gesetzgeber gerade darum ging, „zielgerichtet mittelbar“ in die Elternentscheidung einzugreifen. Auch spielt Karlsruhe die Impfung nicht als „nur kleinen Piks“ herunter, sondern stuft sie als relevante Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit ein (Rn. 80 f.). Im Anschluss wird detailliert und lehrbuchartig ausgeführt, warum diese „zielgerichtet mittelbaren“ Eingriffe dennoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt sind.

In der Rechtfertigungsprüfung kommt das Gericht den Beschwerdeführenden dahingehend „entgegen“, dass § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG nur bei teleologischer Reduktion auf die zur Zeit des Inkrafttretens der Norm existenten Kombinationsimpfstoffe mit dem Wesentlichkeitsgrundsatz vereinbar ist. Dadurch haben Eltern zumindest Gewissheit, dass sie nicht zu einer Impfung ihres Kindes mit einem beliebigen anderen Kombinationsimpfstoff angehalten werden können.

Kein Leerlauf, sondern ein Lehrstück der Verhältnismäßigkeitsprüfung

Der Vorwurf, die Entscheidung stelle „die Verhältnismäßigkeitsprüfung auf Leerlauf“ (hier und hier), wird der Ausführlichkeit und der Tiefe, mit der der Senat die widerstreitenden Grundrechte und Grundrechtsdimensionen (Abwehrrechte auf der einen, Schutzpflichten auf der anderen Seite) gegeneinander abwägt, nicht gerecht. Vielmehr handelt es sich dogmatisch um das Lehrstück einer schulmäßigen Grundrechtsprüfung, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert, ohne sich selbst naturwissenschaftliche Erkenntnisfindung anzumaßen, und die im Verhältnis zur Legislative den Kompetenzbereich der Judikative nicht verlässt und damit die Gewaltenteilung wahrt – und dies nicht zuletzt durch die Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf eine Vertretbarkeitskontrolle, weil der Gesetzgeber über Unsicherheiten zu entscheiden hat (Rn. 121).

Masern bleiben Masern und Corona bleibt Corona

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Auf- und Nachweispflicht einer Immunisierung gegen die Masern lässt sich nicht auf eine etwaige „Corona-Impfpflicht“ übertragen, auch wenn das Bundesverfassungsgericht erst im April die einrichtungsbezogene Nachweispflicht einer Corona-Immunisierung bestätigt hat. Die Unterschiede sind immens und betreffen diejenigen Begründungsstränge, auf denen die Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe durch die Nachweispflicht einer Masernimmunisierung entscheidend beruhen: Während die Masernimpfung seit Jahrzehnten etabliert und vergleichsweise gut erforscht ist, basiert die Corona-Impfung auf einer neuen Impftechnologie, die Impfstoffe wurden in einem abgekürzten Verfahren geprüft und zugelassen und müssen immer wieder neu an die gerade vorherrschende Virusvariante angepasst werden. Es gibt für die Corona-Impfung noch keinen vergleichbaren „Standard medizinischer Vernünftigkeit“. Außerdem kann eine Impfung gegen COVID-19 bislang nicht – eine Impfung mit dem etablierten Impfstoff gegen die Masern aber schon – mit einem lebenslangen Impfschutz punkten. Vielmehr ist die Dauer des Impfschutzes der Covid-19-Impfstoffe laut RKI auf wenige Monate begrenzt und die Transmission kann trotz Impfung nicht verhindert werden. Masern bleiben also Masern und Corona bleibt Corona, sowohl in medizinisch-wissenschaftlicher als auch in rechtlicher Hinsicht.

References

References
1 So etwa Gebhard, Impfpflicht und Grundgesetz, S. 285 ff. mwN.; Amhaouach/Kießling, MedR 2019, 853 (861).

SUGGESTED CITATION  Hollo, Anna-Lena: Lehrstück der Verhältnismäßigkeitsprüfung: Zur „Impfpflicht“ für Kitakinder gegen die Masern, VerfBlog, 2022/8/22, https://verfassungsblog.de/lehrstuck-der-verhaltnismasigkeitsprufung/, DOI: 10.17176/20220822-181847-0.

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