Niemand steht über dem (Klimaschutz-)Gesetz
Weil die Regierung trotz Zielverfehlung noch immer kein Klimaschutz-Sofortprogramm verabschiedet hat, klagt der Umweltverband Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) nun vor dem OVG Berlin-Brandenburg auf Beschluss eines solchen. Die Klage gibt Anlass für eine nähere Betrachtung der rechtlichen Pflichten, die das Klimaschutzgesetz (KSG) für den Fall einer Zielverfehlung auferlegt.
Die gesetzlichen Grenzen klimapolitischer Prokrastination
Es knirscht gewaltig in der Regierungskoalition. Nur kurzfristig von Diskussionen zu Panzerlieferungen überschattet, bleibt der Klimaschutz weiterhin Zankapfel der Ampel. Ausgerechnet bei der Bewältigung der gesamtgesellschaftlichen Herkulesaufgabe tritt die Koalition des selbsternannten „Klimakanzlers“ seit Monaten auf der Stelle. Die Grünen drängen nicht erst seit den Diskussionen um ihre Rolle bei der Räumung Lützeraths auf weiteren Fortschritt beim Klimaschutz. Davon unbeirrt weigert sich der Verkehrsminister, wirksame Maßnahmen vorzulegen, obwohl die Emissionen in seinem Sektor zuletzt sogar gestiegen sind. Stattdessen möchte er den Autobahnausbau beschleunigen und seine Partei fordert, die Sektorziele des Klimaschutzgesetzes (KSG) einfach abzuschaffen. Dass Eile angesichts einer fortschreitenden Klimakrise geboten wäre, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Der Expertenrat für Klimafragen hat erst im November klargestellt, dass die Klimaziele für 2030 nur mit einem Paradigmenwechsel in der deutschen Klimaschutzpolitik erreicht werden können.
Dieser klimapolitischen Lethargie versuchen Klima-Aktivist*innen seit letztem Sommer unter Verweis auf sich schließende Zeitfenster mit immer drastischeren Mitteln entgegenzuwirken. Sekundenkleber und Kartoffelbrei lösten dabei eine Kontroverse um die Grenzen legitimen Klimaprotests aus, die zeitweise den Anlass aus den Augen verlor und bisweilen in eine Polemik abdriftete, die mit der Wahl des Wortes „Klimaterroristen“ zum Unwort des Jahres treffend beschrieben ist. Harsche Kritik an den Protestformen kam auch aus den Reihen der Ampelkoalition und Forderungen nach der „Härte des Rechtsstaats“ erlebten einmal mehr ein Comeback. Zuletzt sah sich sogar der Bundesjustizminister höchstpersönlich veranlasst, in einer Talkshow zur „Verteidigung des Rechtsstaates“ gegen die Aktivist*innen der „Letzten Generation“ aufzutreten.
Hauptanliegen des Rechtsstaats ist jedoch die Einhegung hoheitlicher Machtausübung durch Bindung der Staatsgewalt an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG). Diese Gesetzesbindung gilt selbstverständlich auch für die Bundesregierung als Spitze der Exekutive, welcher der Justizminister angehört. An sie richtet sich das Gebot der Rechtsstaatlichkeit und verpflichtet zur Einhaltung der Gesetze – einschließlich des eigenen Klimaschutzgesetzes. Genau das erscheint aber zunehmend fraglich, weshalb in der aktuellen Klimadebatte der Ruf eines Bundesministers nach dem Rechtsstaat leicht zum Boomerang zu werden droht.
Das Klimaschutzgesetz schreibt in Anlage 2 sektorale Emissionsmengen („Sektorziele“) vor, die im Jahr 2021 in den Sektoren Verkehr und Gebäude überschritten wurden. Nach § 8 KSG hätten daher Sofortprogramme vorgelegt (Abs. 1) und anschließend von der Regierung beschlossen werden müssen (Abs. 2). Das ist aber noch immer nicht passiert.
Bislang konzentrierte sich die Diskussion über die rechtlichen Konsequenzen der klimapolitischen Verweigerungshaltung auf das Verkehrsministerium. Zwar hatte Verkehrsminister Wissing im Juli 2022 ein mit „Sofortprogramm“ überschriebenes Papier vorgestellt; darin klaffte aber eine Klimaschutzlücke bis 2030 von ca. 260 Millionen Tonnen CO2. Der Expertenrat für Klimafragen bewertete das Programm als „schon im Ansatz ohne hinreichenden Anspruch“ und forderte eine Beschleunigung der Reduktionsbemühungen des Sektors um das 14-Fache (Rn. 323). Die Deutsche Umwelthilfe reichte daraufhin Klage gegen das Ministerium ein; inzwischen stuft auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages das Programm als rechtswidrig ein.
Das entscheidende Element des Sanktionsmechanismus aus § 8 KSG wurde indes kaum beleuchtet. Die Vorlage der Sofortprogramme durch die zuständigen Ministerien nach Absatz 1 ist kein Selbstzweck, sondern ein erster, vorbereitender Schritt. Auf dieser Grundlage muss die Bundesregierung anschließend nach Absatz 2 wirksame Maßnahmen beschließen und umsetzen. Erst dadurch kann die Rückkehr auf den Reduktionspfad des KSG erreicht werden. Im November 2022 hatte das Wirtschaftsministerium ein entsprechendes Eckpunktepapier vorgelegt, scheiterte damit jedoch am Widerstand der FDP (hier). Seitdem wurde viel gestritten, aber nichts beschlossen – und das, obwohl das Gesetz ein „schnellstmögliches“ Handeln der Regierung vorsieht.
Diese möglicherweise rechtswidrige Untätigkeit der Bundesregierung adressiert die nun erhobene verwaltungsgerichtliche Leistungsklage auf Beschluss eines Sofortprogramms nach § 8 Abs. 2 S. 1 KSG.
Zulässigkeit: Klagebefugnis aus dem Europarecht
Ein Klagerecht von Umweltverbänden gegen beziehungsweise auf den Erlass von Sofortprogrammen nach § 8 KSG ist im deutschen Recht eigentlich nicht vorgesehen. Das Umweltrechtsbehelfsgesetz (UmwRG) lässt Verbandsklagen nur gegen die in § 1 abschließend aufgeführten Entscheidungen zu. Warum dieser Katalog zu eng ist, und durch eine Generalklausel ersetzt werden sollte, wurde bereits erörtert (hier). Jedenfalls macht § 1 Abs. 1 Nr. 4 lit. a UmwRG Klagen gegen behördliche Programme von der Pflicht zur Durchführung einer Strategischen Umweltprüfung (SUP) abhängig. Die Sofortprogramme nach § 8 KSG wurden allerdings bewusst nicht in Anlage 5 zum UVPG aufgenommen. Sie sind deshalb in aller Regel (vgl. aber § 35 Abs. 2 UVPG) nicht SUP-pflichtig und wären folglich nicht beklagbar. Die Begründung dafür erscheint angesichts der alljährlichen Zielüberschreitung mittlerweile fast zynisch: Die Sofortprogramme seien ohnehin „nur im Ausnahmefall“ aufzustellen (S.47).
Die Klagebefugnis ergibt sich jedoch aus dem Europa- und Völkerrecht. Nach der „Protect“-Rechtsprechung des EuGH verlangt Art. 9 Abs. 3 Aarhus Konvention i.V.m. Art. 47 Grundrechte-Charta eine gerichtliche Überprüfbarkeit der Einhaltung jeglicher umweltrechtlicher Vorschriften. Die Entscheidung zur Typengenehmigung (dazu hier) stellte zudem klar, dass eine Beschränkung des Rechtsschutzes auf bestimmte Klagegegenstände nicht zulässig ist. Vielmehr muss gegen alle Handlungen, die potenziell Umweltrecht verletzen, ein Rechtsmittel gegeben sein. Das gilt auch für den Erlass beziehungsweise das Unterbleiben eines Klimaschutz-Sofortprogramms. Ob sich die Klagebefugnis des BUND deshalb aus einer europarechtskonformen Auslegung von § 1 UmwRG, oder aber direkt aus Art. 9 Aarhus Konvention und Art. 47 Grundrechte-Charta ergibt, kann an dieser Stelle dahinstehen.
Begründetheit: „Schnellstmöglich“ bedeutet nicht „nach Belieben“
In der Sache rügt die Klage eine Verletzung von § 8 Abs. 2 S. 1 KSG. Danach berät die Bundesregierung über die zu ergreifenden Klimaschutz-Maßnahmen und „beschließt diese schnellstmöglich“. Für die Begründetheit der Klage kommt es daher entscheidend darauf an, welche zeitliche Schranke sich aus diesem unbestimmten Rechtsbegriff ableitet. Mangels einschlägiger Rechtsprechung und gesetzlicher Konkretisierung ist dies nach herkömmlicher juristischer Dogmatik durch Auslegung zu ermitteln.
Dem Wortlaut lässt sich freilich kein klar abgrenzbarer Zeitraum für Beratung und Beschlussfassung entnehmen. Eine Maximalfrist von sechs Monaten wurde im Gesetzgebungsprozess diskutiert (S. 13), aber letztlich verworfen. Die vage Formulierung erkennt vielmehr an, dass der Beschluss einen politischen Aushandlungsprozess erforderlich macht, der nicht durch eine starre Frist beschränkt werden soll. § 8 Abs. 2 KSG gesteht der Bundesregierung einen erheblichen Entscheidungsspielraum bei der Wahl der Maßnahmen zu. Während das zuständige Ministerium nach Absatz 1 ein Sofortprogramm erstellen muss, welches für sich genommen die Einhaltung der Sektorziele sicherstellt, kann die Bundesregierung anschließend auf verschiedene Werkzeuge zurückgreifen, um künftigen Zielverfehlungen entgegenzuwirken: Neben sektoralen und sektorübergreifenden Maßnahmen kann sie auch europarechtliche Flexibilitätsmechanismen berücksichtigen und die Jahresemissionsmengen sogar abändern (§ 4 Abs. 5 KSG). Je nach Art und Umfang der erforderlichen Nachsteuerung können von punktuellen Ergänzungen bis hin zu grundlegenden Richtungsänderungen unterschiedlich komplexe Maßnahmenpakete und damit unterschiedliche Zeiträume für die Aushandlung erforderlich sein. Das kann erklären, warum das Gesetz statt einer strikten Deadline lediglich vorgibt, die Zeit für Beratung und Beschlussfassung möglichst kurz zu halten.
Nichtdestotrotz bringt das Adverb „schnellstmöglich“ eine hohe Dringlichkeit zum Ausdruck und stellt klar, dass der Zeitraum für den Prozess nicht unbeschränkt sein kann – anderenfalls wäre es obsolet. Vielmehr knüpft es die zulässige Dauer an die Grenze des unter den gegebenen Umständen Möglichen. Dabei sprechen gewichtige Argumente dafür, dass eine Beschlussfassung zumindest bis zum Ende des laufenden Kalenderjahres zu fordern ist.
Zunächst ist der gesamte Mechanismus nach § 8 KSG auf eine kurzfristige Korrektur (S. 32) von Zielverfehlungen ausgerichtet. Er ist „das zentrale Instrument zur Nachsteuerung“ (S.9) und soll durch „Eil- oder Ad-Hoc-Maßnahmen“ die schnelle Rückkehr auf den in Anlage 2 KSG definierten Emissionspfad gewährleisten. Dafür gilt ein straffer Zeitplan: Bis zum 15. März des Folgejahres müssen die Emissionsdaten für das Berichtsjahr vorgelegt (§ 5 Abs. 1 KSG) und innerhalb eines Monats vom Expertenrat bewertet werden (§ 12 Abs. 1 KSG). Weisen die Zahlen eine Überschreitung in einem Sektor aus, legt das zuständige Ministerium innerhalb von drei Monaten ein geeignetes Sofortprogramm vor (§ 8 Abs. 1 KSG). Somit liegen spätestens am 15. Juli konkrete Vorschläge für Minderungsmaßnahmen auf dem Tisch, die sodann von der Bundesregierung als Kollegialorgan zu beschließen sind (§ 8 Abs. 2 KSG). Diese Fristenregelung ergäbe wenig Sinn, wenn der letzte und entscheidende Schritt viele Monate hinausgezögert werden könnte. Zudem beginnt im folgenden Januar der jährliche Monitoring- und Compliance-Zyklus von neuem. Bei Verschiebung des Beschlusses bis in das folgende Frühjahr droht eine Überlagerung mehrerer Nachsteuerungspflichten. Vor diesem Hintergrund hält auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages eine Frist zum Jahresende für „nachvollziehbar“ (S. 8).
Ebenso spricht die in § 4 Abs. 1 S. 9 KSG klargestellte rechtliche Verbindlichkeit der Sektorziele für diese Auslegung. Denn ihre Überschreitung stellt einen Gesetzesverstoß dar, der durch den Mechanismus aus § 8 KSG nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung umgehend abgestellt werden soll. Die Vertagung der Nachsteuerung ins Folgejahr würde eine weitere Ziel- und damit Gesetzesüberschreitung billigend in Kauf nehmen, was mit Art. 20 Abs. 3 GG schwer vereinbar wäre.
Außerdem formuliert Absatz 1 die wirkungsbezogene Anforderung, dass die zu beschließenden Maßnahmen eine Einhaltung der Sektorziele „in den folgenden Jahren“ sicherstellen müssen. Diese ebenfalls auslegungsbedürftige zeitliche Referenz verpflichtet dazu, ab dem auf die Feststellung der Zielverfehlung folgenden Kalenderjahr wieder „auf KSG-Kurs“ zu sein – so jedenfalls die überzeugende Argumentation in der Klageschrift (S. 40 ff.), das Verständnis des Expertenrats für Klimafragen (Rn. 21, außerdem hier Rn. Z4), und wohl auch des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages unter Berufung auf diverse Literaturmeinungen (S. 7-8). Mit dieser inhaltlichen Vorgabe ist es unvereinbar, den Beschluss der Maßnahmen (und damit auch ihre Umsetzung) in das Folgejahr zu verschleppen, in dem eine Zieleinhaltung bereits sichergestellt werden soll.
Schließlich sprechen auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus dem Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts für einen engen zeitlichen Rahmen. Mit den Klimazielen des KSG beschreibt die Gesetzgebung einen Reduktionspfad, der das zur Einhaltung des verfassungsrechtlich maßgeblichen Temperaturziels aus dem Pariser Übereinkommen verbleibende nationale Restbudget beachtet. Durch die Formulierung dieses Reduktionspfads nimmt der Staat den Verfassungsauftrag wahr, die mit dem THG-Ausstoß verbundenen Freiheitschancen verhältnismäßig und schonend über die Zeit zu verteilen. Dazu ist er verpflichtet, weil mit jedem Anteil, der vom endlichen CO2-Budget verzehrt wird, Reduktionslasten und damit Freiheitschancen in die Zukunft verschoben werden und sich folglich die Gefahr einer „Vollbremsung“ mit massiven Freiheitsbeeinträchtigungen erhöht (Rn. 187). Es entspricht also dem verfassungsrechtlichen Klimaschutzauftrag, Überschreitungen des Reduktionspfades umgehend zu korrigieren und keine längerfristige Zielverfehlung zuzulassen.
Nach alledem wird „schnellstmöglich“ so zu verstehen sein, dass der Beschluss innerhalb möglichst kurzer Zeit, spätestens bis zum Ablauf des Kalenderjahres gefasst sein muss, sofern nicht im Einzelfall gewichtige Gründe (z.B. ein zwischenzeitlicher Regierungswechsel) einen längeren Zeitraum dringend erfordern. Dabei können weder die Weigerung eines Ministeriums, einen geeigneten Vorschlag nach § 8 Abs. 1 KSG vorzulegen, noch regierungsinterne Meinungsverschiedenheiten über die Wahl der Maßnahmen, einen solchen Grund darstellen. § 8 Abs. 2 KSG nimmt die Bundesregierung als Kollegialorgan in die Pflicht und stellt ihr verschiedene Optionen zur Zielerreichung bereit. Notfalls ermöglicht es die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers (Art. 65 S. 1 GG), einen Beschluss herbeizuführen.
Die Klage des BUND hat daher in der Sache Aussicht auf Erfolg. Für die Verzögerung des Beschlusses nach § 8 Abs. 2 S. 1 KSG bis ins Frühjahr 2023 gibt es keine triftigen Gründe. Weder das offensichtlich unzureichende Sofortprogramm des Verkehrsministers noch die Streitereien über die Abschaffung der Sektorziele oder die Beschleunigung des Straßenbaus hindern die Regierung, wirksame Maßnahmen rechtzeitig zu beschließen. Auch der gebetsmühlenartig wiederholte Verweis auf das im Koalitionsvertrag (S. 55) für 2022 angekündigte, umfassende Klimaschutzprogramm der gesamten Regierung kann eine Verschleppung nicht rechtfertigen. Konkrete Vorschläge mit unmittelbarer Reduktionswirkung lagen seit Monaten auf dem Tisch und hätten längst beschlossen werden können. Noch nicht einmal die (unzureichenden) Maßnahmen aus den vorgelegten Sofortprogrammen wurden beschlossen. Stattdessen verhindert das Ausbleiben eines Beschlusses die Gegensteuerung, zu der die Regierung nach § 8 KSG verpflichtet ist, ohne erkennbaren Grund.
Klimaschutz ist Freiheitsschutz, das hat das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich klargestellt. Vehementer Einsatz für konsequente Klimapolitik wäre von einer liberalen Koalitionspartnerin daher eigentlich zu erwarten. Es ist gut möglich, dass bei der Tagung des Koalitionsausschusses am 26. Januar 2023 der Knoten endlich platzt und ein Sofortprogramm in naher Zukunft Realität wird. Sofern ein solches den Anforderungen von § 8 KSG genügt und die Einhaltung der Sektorziele ab 2023 sicherstellt, würde sich die Klage des BUND erledigen. Da jedoch erste Zahlen für das Jahr 2022 auf eine erneute Überschreitung der Sektorziele in den bekannten Sektoren hindeuten, und deshalb voraussichtlich weitere Sofortprogramme erstellt und beschlossen werden müssen, wäre eine gerichtliche Klärung von Inhalt und Reichweite der Pflichten nach § 8 KSG wünschenswert. Zumindest aber kann die Klage die Bundesregierung daran erinnern, dass in einem Rechtsstaat auch sie nicht über dem Gesetz steht.
Disclaimer:
Philipp Schönberger arbeitet als juristischer Referent für Klimaschutz und Verkehr bei dem Verein Green Legal Impact e.V., bei dem auch der Umweltverband BUND Mitglied ist.
Vielen Dank für diesen sehr informativen Text! Ein m.E. sehr wichtiger Aspekt bleibt darin allerdings unbeachtet:
Im viertletzten Absatz wird das CO2-Budget als grundlegende Orientierungsgröße für den erforderlichen Emiss.-Reduktionspfad genannt. Aber weder in diesem Text noch im Klimaschutzgesetz ist die Größe dieses Budgets beziffert.
Laut KSG inkl. Anlagen 2 u. 3 lautet das Ziel, bis 2045 Klimaneutralität zu erreichen (das IPCC nennt 2050). Doch die Vorgabe 2050 bzw. 2045 bezieht sich auf GLOBALE Klimaneutralität; ALLE Länder müssen SPÄTESTENS dann die Netto-Null-Emission erreicht haben. Die höchstemittirenden Länder jedoch müssen wegen ihres hohen Ausgangsniveaus die Null-Emiss. deutlich früher erreichen, so auch Deutschland.
Die Reduktionspfade der einzelnen Länder müssen sich folglich an NATIONALEN CO2-BUDGETS orientieren, abgeleitet vom globalen CO2-Budget – mit der Konsequenz, dass jedes Land klimaneutral handeln muss, sobald die auflaufenden jährlichen CO2- (eigentlich sogar THG-)Emissionen die Budgetgrenze erreicht haben.
Der vom KSG in Anlage 2 vorgegebene Reduktionsweg ist nicht an der nationalen CO2-Budgetgrenze, sondern an einer Jahreszahl orientiert, die aber einzig durch das Erreichen eben dieser Grenze bestimmt wird.
Meine Schlussfolgerung: Die Bundesregierung muss mit Rechtsmitteln gezwungen werden, das nationale CO2-Buget zu benennen, dessen Nicht-Überschreitung den deutschen anteiligen Beitrag zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze (möglichst nahe an 1,5 Grad, bei hoher Erfolgsaussicht) für die globale Erwärmung sicherstellt. Das KSG in jetziger Form führt dazu, dass Deutschland 2045 mehr als doppelt so viel CO2 ab 2020 emittiert haben wird, wie ihm nach Pro-Kopf-Ansatz zusteht.
In der Sache sicher richtig, allerdings beschäftigen sich weder die Klage des BUND noch der Artikel mit der Frage, ob das KSG überhaupt einen Paris-kompatiblen Reduktionspfad formuliert, sondern fordert zunächst nur mit dem Verstoß gegen das KSG in seiner derzeitigen Fassung.
Zu ihren Ausführungen: Das Bundesverfassungsgericht hat den viel diskutierten nationalen Budget-Ansatz aufgrund der damit verbundenen erheblichen normativen Wertungen (Verteilung nach historischen Emissionenm? pro-kopf? pro BIP?) bewusst nicht zum zahlengenauen Maß für die Bewertung der Verfassungsmäßigkeit von Klimaschutzbemühungen gemacht, sondern zieht dieses lediglich zur Bewertung der Plausibilität der Reduktionsbemühungen heran. Das Bundesverfassungsgericht setzt implizit also die Existenz eines völker- und verfassungsrechtlich determinierten deutschen Restbudgets voraus, ohne aber zu sagen, wie groß es ist oder wie es zu berechnen ist. Siehe dazu auch hier: https://verfassungsblog.de/die-freiheit-der-zukunft/
Das Grundgesetz verpflichtet die Gesetzgebung demnach nicht dazu, ein Budget zu formulieren, sondern lediglich im Ergebnis das zur Einhaltung der verfassungsrechtlich maßgeblichen Temperatur-Schwelle (möglichst 1,5°C, deutlich unter 2°C) verbleibende Budget einzuhalten. Gerichtlich Einklagen lässt sich die Formulierung eines Budgets daher m.E. nicht, wohl aber seine Einhaltung.
Weil das BVerfG aber für diese Plausibilitätsprüfung auf die Berechnungen des deutschen Restbutgets durch den Sachverständigenrat der Bundesregierung (SRU) abstellt, bieten sich dessen Zahlen natürlich (auch als rechtlicher) Referenzpunkt an. Und nach den jüngsten Berechnungen des SRU wäre auf dem Reduktionspfad des KSG das verbleibende Budget für 1,5°C schon bis 2027, das Budget für 1,75°C bereits 2034 aufgebraucht: https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2022_06_fragen_und_antworten_zum_co2_budget.pdf?__blob=publicationFile&v=30 (S. 15). Insofern haben Sie Recht mit der Feststellung, dass das KSG einen Reduktionspfad formuliert, der gemessen an den Zahlen das SRU (die das BVerfG ebenfalls heranzieht) Emissionen zulässt, die in der Summe wesentlich mehr als das zur Einhaltung der verfassungsrechtlich maßgeblichen Temperaturschwelle verbleibende Budget verbrauchen.
Damit stellt sich natürlich erneut die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des KSG. Die Verfassungsbeschwerde der DUH hat das BVerfG letztes Jahr ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen – vermutlich weil die Umsetzungsfrist aus dem Klima-Beschluss des BVerfG noch nicht abgelaufen war (Ende 2022). Früher oder später wird sich diese Frage also erneut stellen.
Lieber Herr Schönberger, Sie begründen die Klagebefugnis der Umweltverbände, die der deutsche Gesetzgeber offensichtlich ausschließen wollte, unter Hinweis auf die EuGH-Rechtsprechung in den Fällen Protect und Typengenehmigung. Setzt die Anwendung dieser Rechtsprechung aber nicht einen spezifischen EU-(Umwelt)Rechtsbezug voraus? So ging es ja beispielsweise bei der Typengenehmigungsentscheidung um die Durchsetzung der entsprechenden EU-Verordnung Nr. 715/2007. Und wenn es einen solchen spezifischen EU-(Umwelt)Rechtsbezug braucht, woraus ergibt sich dieser im Fall des Klimaschutzgesetzes? Genügt insoweit der allgemeine Hinweis in § 1 KSG auf die Umsetzung der europäischen Klimaschutzziele? Oder müssten Sie nicht auch mit Blick auf das Europarecht eine weitere Konkretisierung der vorgegebenen Verpflichtungen vornehmen? Und lässt sich eine solche Konkretisierung angesichts der vergleichsweise großen Flexibilitäten des EU-Klimaschutzrechts erreichen?
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Bernhard Wegener