Separatisten vor dem EuGH
Der Kampf um die Auslieferung der führenden katalanischen Autonomiepolitiker geht weiter
Seitdem die führenden Politiker:innen der katalanischen Autonomiebewegung aufgrund drohender spanischer Strafverfolgung ins Ausland geflohen sind, versucht die spanische Justiz, ihre Auslieferung nach Spanien zu erreichen. Ursprünglich ging es in den Verfahren unter anderem um den Tatbestand der Rebellion, der zwar kürzlich abgeschafft wurde, gleichwohl wird die Strafverfolgung wegen des Vorwurfs der Veruntreuung fortgesetzt. Um die Auslieferung der katalanischen Politiker:innen zu erreichen, stellte die spanische Justiz bereits mehrfach Europäische Haftbefehle aus (etwa an das OLG Schleswig, vgl. dazu hier). Nach einigem „hin und her“ (Puigdemont, Comín und Posantí sind MdEP geworden, die zwischenzeitlich entzogene Abgeordnetenimmunität besteht während eines [anderen] aktuell laufenden EuGH-Verfahrens fort) wurde schließlich die belgische Justiz mit der Vollstreckung der Europäischen Haftbefehle befasst.
Nachdem die belgische Justiz die Vollstreckung abgelehnt hatte, ging durch das vorliegende EuGH-Verfahren der Streit um die Auslieferung in eine neue Runde: Begründet haben die belgischen Gerichte die Verweigerung der Auslieferung vor allem damit, dass das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof Spaniens), vor dem das Strafverfahren gegen Puigdemont et. al. in Spanien stattfindet und welches gleichzeitig auch die Europäischen Haftbefehle ausgestellt hat, hierfür nach spanischem Recht nicht zuständig sei. Zur Begründung stützt sich die belgische Justiz unter anderem auf einen Bericht der „UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen“, die 2019 in einem Bericht bemängelt hatte, dass das Tribunal Supremo in Fällen der Strafverfolgung im Zusammenhang mit der katalanischen Autonomiebewegung die gerichtliche Zuständigkeit an sich gezogen habe, obwohl hierfür vielmehr katalanische Gerichte zuständig gewesen wären (vgl. ebd., Rn. 134 f.) – mit Blick auf die drakonischen Strafen gegen die Autonomiebewegung durch das Tribunal Supremo und die aktuelle Krise der spanischen Justiz schlagen bei einem solchen Vorgehen jedenfalls die rechtsstaatlichen Warnsignale an.
Um sich gegen die belgische Weigerungshaltung zur Wehr zu setzen, hat sich das Tribunal Supremo mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gewandt, über das der EuGH vorliegend entschieden hat. Der EuGH nutzt die Gelegenheit, seine Rechtsprechung zur Reichweite von Art. 47 Abs. 2 GRC im Rahmen des „Aranyosi-Tests“ fortzuentwickeln und Vorgaben aufzuzeichnen, unter welchen Umständen die Unzuständigkeit des späteren Strafgerichts die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls rechtfertigen kann.
Verfahrensgang und Vorlagefragen des Tribunal Supremo
2019 hatte das Tribunal Supremo mehrere Europäische Haftbefehle an die belgischen Behörden übermittelt. Infolgedessen leiteten die belgischen Behörden gegen drei der Politiker (Puigdemont, Comín und Puig) die Vollstreckung der Europäischen Haftbefehle ein – nach der Wahl von Puigdemont und Comin zu Mitgliedern des Europäischen Parlaments wurde die Vollstreckung dieser beiden Haftbefehle ausgesetzt – bezüglich Puig (der bis zu seiner Flucht Kulturminister von Katalonien war) jedoch fortgesetzt. 2020 weigerte sich zunächst das „belgische Gericht erster Instanz“, anschließend auch der „Brüsseler Appellationshof“, den Europäischen Haftbefehl gegen Puig zu vollstrecken – begründet wurde dies unter anderem mit der bereits angesprochenen Unzuständigkeit des Tribunal Supremo nach spanischem Recht – weder sei das Tribunal für die Strafverfolgung im konkreten Fall zuständig noch sei es die „zuständige Justizbehörde“ zur Ausstellung des Europäischen Haftbefehls (vgl. Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehls [RbEuHb]). Somit müsse die Auslieferung mit Blick auf den Grundrechtsschutz abgelehnt werden.
Neben den materiellen Fragen springt dabei zunächst ins Auge, dass die beiden belgischen Gerichte diese Rechtsauffassungen vertraten, ohne den EuGH im Wege der Vorabentscheidung einzubinden, was mit Blick auf eine eventuell sogar bestehende Vorlagepflicht (Art. 267 Abs. 3 AEUV) jedenfalls nahegelegen hätte (nehmen die belgischen Gerichte hier doch eine neue, ungeschriebene Ausnahme von der grundsätzlichen Kooperationspflicht nach Art. 1 Abs. 2 RbEuHb an).
Keine Berufung auf innerstaatliche Ablehnungsgründe
Zunächst befasst sich der EuGH mit der Frage, ob sich die Vollstreckungsbehörde auf einen Grundrechtsvorbehalt in ihrem innerstaatlichen Recht berufen kann, soweit der Ablehnungsgrund über die im RbEuHb Enthaltenen (vgl. Art. 3, 4, 4a RbEuHb) hinausgeht (Rn. 66-79). Dies lehnt der EuGH (erwartbar) mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des Europäischen Haftbefehls ab: Wenn sich jeder Mitgliedstaat auf Vorgaben des nationalen Rechts berufen könnte, würde die durch den RbEuHb anvisierte Erleichterung und Beschleunigung des Auslieferungsverkehrs gefährdet (Rn. 75 f.), weshalb Ablehnungsgründen im nationalen Recht lediglich eine deklaratorische Funktion zukomme (Rn. 78 f.) – insoweit bewegt sich der EuGH in bekannten Fahrwassern (vgl. EuGH, Rs. Melloni, Rn. 55 [insb. Rn. 63], st. Rspr.).
„Justizbehörde“ bedeutet nicht zuständige „Justizbehörde“
Anschließend (Rn. 81-89) setzte sich der EuGH mit der Frage auseinander, ob die Vollstreckungsbehörde dazu ermächtigt ist nachzuprüfen, ob die nach dem innerstaatlichen Recht des Anordnungsstaates zuständige „Justizbehörde“ den Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat. Im Rahmen dessen zitiert der EuGH zunächst seine Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs der „Justizbehörde“ in Art. 6 Abs. 1 RbEuHb (in der bekanntermaßen die Weisungsgebundenheit der deutschen Staatsanwaltschaften auf Kritik gestoßen ist) und weist darauf hin, dass die Vollstreckungsbehörde prüfen müsse, ob eine „Justizbehörde“ in diesem Sinne gehandelt hat (Rn. 85). Aber besteht auch die Befugnis zur Prüfung, ob eine zuständige Justizbehörde gehandelt hat? Der EuGH verneint dies mit Verweis darauf, dass die Festlegung der gerichtlichen Zuständigkeit Sache der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sei, was mit Blick auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nicht durch die Vollstreckungsbehörden nachgeprüft werden könne (Rn. 88).
Festigung der Rechtsprechung zum „Aranyosi-Test“
Zwar ist es der Vollstreckungsbehörde nach dem grade Gesagten untersagt, die Vollstreckung mit Verweis auf eine Unzuständigkeit der Anordnungsbehörde zu verweigern, in den weiteren Vorlagefragen stellte sich jedoch die Frage, ob sich aus Art. 47 Abs. 2 GRC („fair trial“) ein Ablehnungsgrund ergeben kann, wenn dem Betroffenen im Ausstellungsstaat ein Strafverfahren vor einem unzuständigen Strafgericht droht (Rn. 90 ff.)
Zunächst betont der EuGH in bekannter Art und Weise, dass die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung (auf denen der RbEuHb beruht) im Unionsrecht „fundamentale Bedeutung“ haben (Rn. 93). Gleichwohl hat der EuGH in seinem „berühmt-berüchtigten“ Gutachten 2/13 zum Beitritt der Europäischen Union zur EMRK (dazu etwa Wendel) die Tür für Ausnahmen vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauen für den Fall „außergewöhnlicher Umstände“ geöffnet. In der nachfolgenden Rechtsprechung hat der EuGH den sogenannten „Aranyosi-Test“ (zum Begriff etwa Wendel, EuConst 15 [2019], S. 17 [23]) eingeführt, um zu bestimmen, ob zugunsten des (freilich europäischen!) Grundrechtsschutzes die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ausnahmsweise abgelehnt werden kann. Dieser Test, den der EuGH in der Rechtssache Aranyosi u. Căldăraru für die Zustände in ungarischen beziehungsweise rumänischen Gefängnissen wegen einer dort drohenden „unmenschlichen Behandlung“ (Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK) entwickelt hat, wurden durch den EuGH 2018 in der vielbeachteten Entscheidung LM schließlich auf das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 47 Abs. 2 GRC „übertragen“, worauf sich der EuGH vorliegend mehrfach bezieht.
Nach diesem Test ist es erforderlich, dass „systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems“ (Rn. 97) oder „Mängel, die eine objektiv identifizierbare Personengruppe betreffen und der die betreffende Person angehört“ (Rn. 102), bestehen. Daneben müssen (kumulativ, wie der EuGH bekanntlich betont [Rn. 110]) Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass bei einer Überstellung eine „echte Gefahr“ für eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 47 Abs. 2 GRC) besteht (Rn. 96 f.). Dieser Maßstab wurde in LM entwickelt und in den nachfolgenden Entscheidungen (der EuGH beruft sich ausdrücklich auf die Rs. Openbaar Ministerie) beibehalten, worin sich die vorliegende Entscheidung grundsätzlich einreiht (beachtlich ist jedoch, dass der EuGH die Prüfung vorher ausdrücklich auf den „Wesensgehalt“ von Art. 47 Abs. 2 GRC beschränkt hat – eine solche Einschränkung findet sich nun nicht mehr; ob daraus für die Zukunft jedoch tatsächlich eine Maßstabserweiterung folgt, bleibt abzuwarten).
Unzuständigkeit des Strafgerichts nach erfolgter Überstellung als Verletzung von Art 47 Abs. 2 GRC?
Entscheidende Frage des Verfahrens war schließlich, ob durch Verstöße bei der Zuständigkeitsbestimmung des nach einer Überstellung urteilenden Strafgerichts die Voraussetzungen des „Aranyosi-Tests“ in Bezug auf Art. 47 Abs. 2 GRC erfüllt sein können.
In Rückgriff auf die EGMR-Rechtsprechung zur Auslegung von Art. 6 EMRK (Rn. 99) führt der EuGH aus, dass ein „auf Gesetz beruhendes Gericht“ entscheiden müsse, womit die Zuständigkeit des später entscheidenden Strafgerichts in engem Zusammenhang stehe (Rn. 99). Ein Verstoß hiergegen sei jedenfalls dann anzunehmen, wenn „ein nationaler Oberster Gerichtshof, der in erster und letzter Instanz in einem Strafverfahren entscheidet, ohne über eine ausdrückliche Rechtsgrundlage zu verfügen, die ihm die Zuständigkeit verleiht, über sämtliche Angeklagte zu urteilen“ (Rn. 100).
Darüber hinaus kann eine Ablehnung durch die Erfüllung beider Stufen des „Aranyosi-Tests“ begründet werden (Rn. 102 ff.):
Auf der ersten Stufe sei „eine Gesamtwürdigung des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaates im Hinblick auf das Erfordernis eines durch Gesetz errichteten Gerichts“ vorzunehmen (Rn. 102). Aus dieser Gesamtwürdigung müsse sich ergeben, dass im Ausstellungsstaat im Allgemeinen oder jedenfalls für eine bestimmte Personengruppe im Besonderen (denkbar: katalanische Autonomiepolitiker:innen), der der Betroffene angehört, ein unzuständiges Gericht entscheidet (Rn. 103), da „eine solche fehlende Zuständigkeit geeignet wäre, legitime Bedenken insbesondere hinsichtlich der Unparteilichkeit des betreffenden Gerichts zu wecken“ (Rn. 108). Die Gefahr eines „systemischen Mangels“ sei insbesondere dann anzunehmen, wenn nach dem innerstaatlichen Recht keine Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe die innerstaatliche Zuständigkeit des Gerichts überprüft werden kann (Rn. 103). Hierbei sei es jedoch bereits ausreichend, dass ein Rechtsbehelf bei dem Strafgericht selbst eingereicht werden kann (Rn. 103, 112). Um dies zu bestimmen, wird es in der vorliegenden Konstellation maßgeblich auf die Stichhaltigkeit der Argumente, die gegen die Unzuständigkeit des Tribunal Supremo für Straftaten im Zusammenhang mit der Autonomiebewegung sprechen, ankommen – ein Lichtblick für die Autonomiepolitiker:innen ist hierbei, dass der EuGH später (Rn. 126) erläutert, dass ein Bericht einer UN-Arbeitsgruppe (wie er hier vorliegt, siehe oben) „zusammen mit anderen Gesichtspunkten“ potenziell eine Begründungsgrundlage darstellen kann.
Bei der anschließenden „zweiten Stufe“ muss die Vollstreckungsbehörde schließlich prüfen, inwieweit diese „systemischen“ Bedenken zu einer „echten Gefahr“ für die konkret betroffene Person führen (Rn. 106). Dafür ist es erforderlich, dass das in dem Ausgangsverfahren tätig werdende Gericht des Ausstellungsstaates nach dem innerstaatlichen Recht offensichtlich nicht zuständig ist (Rn. 107), was wiederum eine Frage der Umstände des Einzelfalls sein wird. Anschließend wiederholt der EuGH, dass eine Ablehnung der Vollstreckung nur in Betracht komme, soweit beide Stufen des „Aranyosi-Tests“ erfüllt sind (Rn. 110 ff.).
Darüber hinaus erklärt der EuGH, dass die Ausstellung aufeinanderfolgender Europäischer Haftbefehle zulässig ist (Rn. 137 ff.), was er (insoweit überraschend) auch nach einer unionsrechtswidrigen Ablehnung der Vollstreckung für erforderlich hält (Rn. 141). Dass die spanischen Behörden hiervon Gebrauch machen werden, kann als ausgemacht gelten.
Einordnung und Folgen des Urteils
Juristisch ist zunächst festzustellen, dass der EuGH die Prüfkompetenz der Vollstreckungsbehörde bezüglich der Zuständigkeit der Ausstellungsbehörde zu Recht beschneidet. Gleichwohl reiht sich das vorliegende Urteil in aktuelle Rechtsprechungsentwicklungen, im Rahmen derer sich die „Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten“ einem steigenden unionsrechtlichen Einfluss ausgesetzt sieht ein (vgl. etwa die EuGH-Urteile betreffend die Weisungsgebundenheit der deutschen Staatsanwaltschaft, die Associação Sindical dos Juízes Portugueses sowie das Verfahren Kommission/Polen).
Darüber hinaus festigt der EuGH seinen zweistufigen Prüfungsaufbau zur Begründung von Ausnahmen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens mit Blick auf ein faires Verfahren nach Art. 47 Abs. 2 GRC, den man wohl sehr bald als „ständige Rechtsprechung“ bezeichnen kann.
Mit Blick auf die weitere Entwicklung der Auslieferung der Autonomiepolitiker:innen kann festgestellt werden, dass die Ablehnung der Vollstreckung durch die belgische Justiz jedenfalls mit der bisherigen Begründung nicht aufrechterhalten werden kann; auf den ersten Blick kann insofern das Urteil als Etappensieg für die spanische Justiz bezeichnet werden. Ob Carles Puigdemont, Antoni Comín (nachdem über ihre Immunität entschieden wurde) sowie Lluis Puig (der kein MdEP ist) tatsächlich nach Spanien ausgeliefert werden, ist durch das Urteil jedoch keinesfalls ausgemacht (insoweit hilft der zweite Blick): Dies wird maßgeblich davon abhängen, ob die vorliegende Strafverfolgung durch das Tribunal Supremo dem „Aranyosi-Test“ standhält – der EuGH hat sich hierfür die vorliegende Konstellation betreffend jedenfalls offen gezeigt und die Anforderungen an die zweistufige Prüfung näher konkretisiert.
Inwieweit die grundrechtlichen Bedenken gegen die Auslieferung letztlich durchschlagen, muss nun durch die belgische Justiz entschieden werden, wo die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit Spannung erwartet werden kann.
Ich gratuliere Ihnen zu dieser Bewertung und Analyse. Ich stelle aber fest, dass das umstrittene Wort “Separatisten”, das im Titel verwendet wird, im Haupttext nicht vorkommt. Es ist unnötig, diese abwertende Terminologie zu verwenden, und ich verstehe nicht, warum sie an prominenter Stelle im Titel zu finden sein soll.
Die politischen Führer Kataloniens sind Befürworter der Unabhängigkeit von Katalonien. Die Katalanen sind eine objektiv identifizierbare Gruppe von Menschen, die wegen ihrer legitimen politischen Ansichten verfolgt werden. Auf die Worte kommt es auch an.