01 April 2023

Ein laues Lüftchen

Vorgestern Nacht wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft New York gegen Donald Trump ein Strafverfahren eröffnet. Es ist schon historisch: Zum ersten Mal wird ein (ehemaliger) US-Präsident angeklagt. Vielleicht gibt es einen mug shot, wahrscheinlich aber keine Handschellen. Der Prozess wird sich wohl um mutmaßliche Schweigegeldzahlungen an zwei Frauen vor den Präsidentschaftswahlen 2016 drehen. Ist das der Gipfel der zahllosen Skandale des Donald Trump, womöglich sogar sein Ende? Wohl kaum. Tarik Abou-Chadi wies auf Twitter resigniert darauf hin, dass dieser Schritt wahrscheinlich wieder nicht der sei, der alles ändern würde. Im Gegenteil, wer auf den Medienzirkuszug aufspringe, helfe letztendlich nur dem potenziellen Kandidaten für die US-Wahlen im nächsten Jahr. In diesem Sinne ist Trump der König der Skandale schlechthin: wohl keine andere Figur des öffentlichen politischen Lebens kommt aus unzähligen Skandalen immer wieder unbeschadet, ja sogar gestärkt heraus. Anne Spiegel dagegen musste ihr Ministerinnenamt abgeben – nicht, weil sie 500 Millionen Euro Steuergeld verbrannt hat, sondern weil sie mit der Familie in den Sommerurlaub fuhr. Der Sturm, der Christine Lambrecht ihren Helm kostete, wäre für Trump oder Boris Johnson nicht mal ein laues Lüftchen gewesen. Warum schaden Skandale manchen Akteur*innen und anderen nicht? Was bedeutet es, wenn Skandale keine Konsequenzen haben? Haben sie das Potenzial, liberale Demokratien zu zersetzen?

Zeitgleich zu Trumps indictment ging das Parteienwissenschaftliche Symposion des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRUF) in Düsseldorf der Frage nach, was wir eigentlich über politische Skandale wissen. Wie funktionieren sie? Die Rechtswissenschaft, so stellte sich schnell heraus, steht bei diesen Fragen recht blank da – anders als andere Disziplinen. In Politikwissenschaft, Geschichte, Medienwissenschaft und Soziologie beschäftigt man sich durchaus intensiv mit dem Forschungsgegenstand. Und so war es einerseits notwendig, zugleich aber auch sehr gewinnbringend, dass das PRUF das Symposion interdisziplinär anlegte. Dabei zeigte sich, wie ambivalent der politische Skandal sein kann. Er kann für das politische System sehr wichtige, stabilisierende Funktionen übernehmen: Der Skandal legt Missstände frei, ermöglicht Reform und Korrektur und trägt dazu bei, soziale Normen zu aktualisieren. Im besten Fall kann der Skandal das System kathartisch reinigen. Im deutschen Kaiserreich etwa waren Skandale verbunden mit der Hoffnung auf eine Aufweitung demokratischer Mitbestimmung, wie Martin Kohlrausch in seinem Vortrag zeigte. Skandale können also eine partizipatorische Dimension entwickeln, die auch in Deliberation zum Ausdruck kommt; im öffentlichen Austausch, in der Kontroverse und in Einigung. Skandale leben vom Affekt, sie sind ein Aufmerksamkeitsfaktor für die Akteur*innen, aber auch für das politische System im Ganzen. Sie sind nicht zuletzt Unterhaltungsfaktor, um Sophie Schönberger (auch im Deutschlandfunk) zu zitieren: „Skandale machen irgendwie Spaß“. Und auch das war zu spüren in Düsseldorf, legten die vielen Verweise und Anekdoten eine reiche Geschichte politischer Skandale – ein kollektives Gedächtnis des politischen Skandals – frei. Skandale sind Referenzpunkte, eben auch in kultureller Hinsicht: Man lachte darüber, dass ein Spitzenpolitiker nur in Deutschland über ein Plagiat stolpert und fällt. In Italien hingegen wäre es schwer vorstellbar, dass ein Präsident sein Amt über eine Affäre mit seiner Praktikantin verliert.

Die Rechtswissenschaft aber fremdelt mit dem politischen Skandal. Dabei sind doch klare Parallelen erkennbar. Zuallererst kennzeichnet den Skandal eine Normübertretung. Selbstverständlich muss keine Rechtsnorm verletzt werden, es genügt ein Normbruch im weiteren gesellschaftlichen-politischen Sinn. Der Skandal lenkt Aufmerksamkeit auf die jeweilige Norm, kann zur Normklärung beitragen oder zu ihrer Verschärfung führen. Skandale sind in der Regel sanktionsbehaftet. Und damit spielen auch Fragen der Verantwortungsattribution, der Zurechnung eine Rolle: Skandale gehen üblicherweise auf menschliches Fehlverhalten zurück, sie sind der „menschliche Faktor der Politik“ (Sophie Schönberger). Das Recht aber trennt gern formalistisch zwischen Amt und Amtsträger, zwischen Organ und Organwalter. Im politischen Skandal scheint diese Trennung nicht zu funktionieren. Daran ist zu erkennen, dass der Prozess in einem anderen Kontext stattfindet; Politikwissenschaftler*innen würden von einer Arena sprechen. Bezeichnenderweise tauchte das Recht(swesen) in Ulrich von Alemanns „Matrix“ zur Systematisierung von Skandalen nicht als Arena auf, in der sich der Aushandlungsprozess des politischen Skandals vollziehen könnte.

Natürlich spielt das Recht in der Aufarbeitung eines Skandals eine Rolle, denn häufig werden Skandale in Rechtsverfahren überführt. Es zeigt sich aber auch, dass faustdicke politische Skandale nicht notwendigerweise in rechtlichen Sanktionen enden – man denke beispielsweise an Alfred Sauter und Georg Nüsslein, oder Christian Wulff. Die (straf-)rechtliche Aufarbeitung ist in den meisten Fällen vielmehr eine Nacharbeit, die gemessen an der Aufmerksamkeitsspanne der politischen Öffentlichkeit zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Das Recht scheint bei der Bewältigung von politischen Skandalen überfordert zu sein (Christoph Schönberger).

Sanktionen gibt es schließlich dennoch: Der politische Skandal fordert üblicherweise einen Rücktritt oder eine Entschuldigung – Begriffe, die auch die Rechtswissenschaft kennt, aber anders verwendet. Diese Sanktionen unterliegen einer anderen Logik, sie sind Kategorien anderer Arenen. Dort geht es um Aufmerksamkeit, um Empörungsdynamiken, nicht selten mit „unintended consequences“ (Stephan Malinowski). Zentrales Element eines Skandals – so scheint mir – ist nicht die Normübertretung, die gut und gerne sanktionslos bleiben kann, sondern deren Ereignishaftigkeit: ein Verstoß gegen eine Norm muss aufgegriffen und öffentlich gemacht werden und ein Publikum muss sich empören. Unendlich weit ist wohl das Dunkelfeld der Skandale, die es nicht geschafft haben, Skandal zu werden.

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Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht lädt in Kooperation mit der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart zu der Vortragsreihe „Ukraine?!- Völkerrecht am Ende?” ein. Am 03.04.2023, 18h, spricht Prof. Dr. Roman Petrov zum Thema „The impact of the war in Ukraine on the EU Accession”.

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Und doch erfüllt das Recht verschiedene Funktionen, wie Frederik Orlowski herausarbeitete: Es ist Gegenstand von politischen Skandalen und gleichzeitig Instrument ihrer Erfassung. Zudem bietet es Schutz vor Skandalen – ein „Recht des politischen Skandals“ oder „Skandalrecht“ gibt es hingegen nicht. Vielleicht ist das gut so. Muss Recht alles regeln? Abgesehen von „Rechtsverfahren mit inhärentem Skandalbezug“ (Julian Krüper nennt das Parteiverbot, Art. 21 Abs. 4 GG, die Grundrechtsverwirkung, Art. 18 GG, die Richter- und Präsidentenanklage, Art. 61, 98 Abs. 2 GG) ist der politische Skandal doch in den anderen Arenen viel besser aufgehoben. Dann muss sich die Rechtswissenschaft auch nicht weiter mit dem politischen Skandal beschäftigen. Auch wenn es Spaß macht.

Offene Fragen bleiben jedoch: Wo verläuft die Trennlinie zwischen Amt und Person, wenn der politische Skandal sie immer wieder ad absurdum führt. Ergibt diese Unterscheidung überhaupt Sinn? Wie funktioniert der politische Skandal eigentlich in Autokratien? Gar nicht? Welchen Machtstrukturen unterliegt der politische Skandal? Und was bedeutet das für demokratische Legitimationsfragen und Entscheidungsmechanismen? Wie verändern multiple Online-Öffentlichkeiten und künstliche Intelligenz den politischen Skandal?

Der emotionalste und persönlichste Beitrag in Düsseldorf kam von Anthony Glees, emeritierter Professor der University of Buckingham, der den Blick auf die Skandalkultur in England richtete: „Die Lage ist ernst.“ Natürlich ging es um Boris Johnson, der – in vielerlei Hinsicht Trumps kleiner Bruder – ganz natürlich Spielregeln bricht und Skandale für sich zu nutzen weiß. Zurzeit wird einer seiner vielen Skandale aufgearbeitet. Hat Johnson das Parlament, die Herzkammer der Demokratie, belogen? Es geht um die „Partygate“-Affäre, als zu Pandemiebeginn Partys in Downing Street 10 stattfanden, die unzweifelhaft im Widerspruch mit den damals geltenden Lockdown-Richtlinien standen. Johnson hatte vor dem Parlament im Dezember 2021 versichert, dass diese Richtlinien eingehalten wurden. Nun muss er sich vor einem Untersuchungsausschuss verantworten, der sich wohlgemerkt mehrheitlich aus Mitgliedern seiner Partei zusammensetzt. Sollte der Ausschuss die Aussagen Johnsons als Lüge werten, droht ihm eine Suspendierung, die ihn sein Abgeordnetenmandat kosten könnte.

Wenn nicht? Dann hat Boris Johnson den nächsten, seinen vielleicht schwerwiegendsten Skandal überwunden. Wenn das passiere, so Glees, dann werde das Parlament, die Institution selbst, beschmutzt. Dass Boris Johnson die parlamentarische Demokratie untergräbt, das sei der eigentliche Skandal: „Dann ist England Weimar“. Wie nationalkonservative Kräfte die Barmat- und Sklarek-Skandale instrumentalisierten, um die noch junge Weimarer Demokratie zu untergraben, und den Aufstieg der NSDAP begünstigten, hatte Stephan Malinowski zuvor eindrucksvoll gezeigt.

Vielleicht sollte sich die Rechtswissenschaft doch mit dem Phänomen des politischen Skandals beschäftigen. Gut, dass in Düsseldorf damit angefangen wurde.

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Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:

ELEONORA BOTTINI erläutert den verfassungsrechtlichen Mechanismus (Art. 49.3), der es der französischen Regierung ermöglichte, die Nationalversammlung zu umgehen und ihre Rentenreform zu verabschieden. Das Vorgehen der Regierung ist „vielleicht“ verfassungsgemäß, aber ist es auch demokratisch? „Eher nicht“, findet Bottini.

AEYAL GROSS bewertet den Status quo der israelischen Verfassungskrise, nachdem die Regierung angekündigt hat, das Gesetzgebungsverfahren vorerst auszusetzen. Gross meint, “es ist noch zu früh, um zu wissen, ob wir uns im Frühling der Hoffnung oder im Winter der Verzweiflung befinden.

In Bezug auf die Reform des Wahlrechts für den Bundestag legt EDOARDO D’ALFONSO MASARIÉ dar, dass territoriale Parteien – also solche, die nicht bundesweit tätig sind, wie z.B. die CSU – verfassungsrechtlich angemessen im Wahlrecht berücksichtigt werden müssten: „Dem Gesetzgeber steht wohl das Wie, nicht aber das Ob einer auch wahlrechtlichen Würdigung territorialer Parteien frei.“

JAN-LOUIS WIEDMANN nimmt die angekündigte Novelle des Bundes-Klimaschutzgesetzes (KSG) unter die Lupe. Laut Wiedmann gibt der Reformvorschlag „eine der entscheidenden klimapolitischen Errungenschaften des KSG auf“ und ist verfassungsrechtlich zweifelhaft.

Die jüngste Entscheidung des EuGH im Abgasskandal stellt die bisherige Beurteilung der Rechtssache durch deutsche Gerichte grundlegend in Frage. JOHANNES HERB meint, dies liege am (deutschen) privatrechtstheoretischen Verständnis, welches „aus europäischer Perspektive […] nur befremden“ könne.

Letzte Woche hat der EuGH ein Urteil zu den Grenzen des ne bis in idem-Prinzips – dem Verbot der Mehrfachbestrafung – gefällt. Mit Blick auf einen anhängigen Dieselskandal-Fall untersucht LAURA NEUMANN, inwiefern sich zwischenstaatliche Fälle von innerstaatlichen Fällen unterscheiden und welche Kriterien für erstere gelten könnten, wenn es um den Grundsatz ne bis in idem geht.

Sollte das Mindestalter der Strafmündigkeit von Kindern herabgesetzt werden? EKKEHARD STRAUSS warnt davor. Ein geringeres Mindestalter sei „wenig zielführend“ und verstoße gegen Deutschlands internationale Verpflichtungen.

Welches Verhältnis besteht zwischen dem Konditionalitätsmechanismus der EU und den Grundrechten, insbesondere der Wissenschaftsfreiheit? OLGA CERAN & YLENIA GUERRA gehen dieser Frage vor dem Hintergrund der ausgesetzten finanziellen Zuwendungen der EU an Ungarn nach.

Wo liegen die Grenzen der Kunstfreiheit? NINA KELLER-KEMMERER und HANS-JÜRGEN PAPIER nehmen Stellung zu antisemitischer Kunst auf der documenta fifteen. Während Keller-Kemmerer vor einfachen und verallgemeinernden juristischen Lösungsansätzen warnt, hält Papier es für an der Zeit „über das Verhältnis von Staat und Kultur ganz allgemein neu nachzudenken“ anstatt den staatlich finanzierten Kulturbetrieb „dem rechtsfreien Raum oder der Flucht in ein Geflecht privatrechtlicher Absprachen [zu] überlassen“.

KAI AMBOS rezensiert Benjamin Lahusens Monographie „Der Dienstbetrieb ist nicht gestört. Die Deutschen und ihre Justiz 1943-1948“, in der Lahusen nach einem möglichen Stillstand der Rechtspflege nach §245 ZPO fragt. Ambos Fazit: Lahusens Buch sei stilistisch elegant geschrieben und bereite – trotz der Thematik – ein „Lesevergüngen“.

 

Außerdem ging unsere Blog-Debatte 50 Years On: Ireland and the UK In and Out of the EU diese Woche weiter. Diesmal mit Beiträgen von IYIOLA SOLANKE, JANINE SILGA, FEDERICO FABBRINI und ELAINE FAHEY.

 

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Das war jetzt wirklich das letzte Editorial vor der Osterpause bis zum 14. April. Frohe Ostern!

 

Anm. d. Red.: Ein Fehler bezüglich der Zusammensetzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses wurde nachträglich korrigiert.

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SUGGESTED CITATION  Zillessen, Friedrich: Ein laues Lüftchen, VerfBlog, 2023/4/01, https://verfassungsblog.de/ein-laues-luftchen/, DOI: 10.17176/20230402-032720-0.

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