Die Deutschen und ihr Auto
Anmerkungen zur jüngsten EuGH-Entscheidung im Abgasskandal
Am 23. September 2015 trat Martin Winterkorn als Vorstandsvorsitzender von VW wegen des sog. Abgasskandals zurück. Man möchte meinen, dass fast acht Jahre später dessen juristische Aufarbeitung abgeschlossen oder zumindest weit vorangeschritten ist. Doch mit seiner vergangene Woche verkündeten Entscheidung stellt der EuGH die bisherige rechtliche Beurteilung des Bundesgerichtshofs und diverser Oberlandesgerichte grundlegend in Frage. Wie ist es dazu gekommen? Der Beitrag will versuchen, darauf eine weniger dogmatische, sondern primär privatrechtstheoretische Antwort zu geben. Meine These ist, dass hier hintergründig ein spezifisch privatrechtliches mit einem unionsrechtlichen Systemdenken konfligiert.
Abgasskandal 2.0
Gegenstand des aktuellen EuGH-Urteils ist dabei gar nicht mehr der Abgasskandal in seiner ursprünglichen Version. Im Ausgangspunkt hatte VW eine Umschaltsoftware verwendet, mit deren Hilfe die normierten Emissionswerte zwar im Prüfverfahren eingehalten, im regulären Straßenverkehr aber erheblich überschritten wurden. Als Reaktion auf das Bekanntwerden dieser Praxis entwickelte VW (und auch andere Hersteller, hier Mercedes) eine Software, welche die Einhaltung der gesetzlichen Grenzwerte auch ohne technische Nachrüstung sicherstellen sollte. Der Haken an dieser Lösung war allerdings, dass sie nur in einem recht schmalen Korridor an Außentemperaturen voll wirksam war. Das vorlegende LG Ravensburg kam etwa zur Einschätzung, dass die Abgasrückführung im streitgegenständlichen Fahrzeug bereits bei Temperaturen über 0 Grad Celsius verringert sei.1) Die Hersteller sahen darin gleichwohl kein Problem; die Abschaltung sei aus Gründen des Motorschutzes (vgl. Art. 5 II 2 lit. a Emissions-VO) gerechtfertigt. Damit sind wir beim Abgasskandal Version 2.0.
Ein EuGH-Quartett
Den EuGH hat diese Argumentation nicht überzeugt, wobei er seine Linie im Wesentlichen in vier Entscheidungen entwickelte:
- Bereits Ende 2020 interpretierte er die Ausnahmen des Art. 5 II 2 Emissions-VO eng, weswegen „nur unmittelbare Beschädigungsrisiken, die zu einer konkreten Gefahr während des Betriebs des Fahrzeugs führen“2), Abschalteinrichtungen rechtfertigen könnten. Solche Schäden waren in casu nicht zu befürchten.
- Im Sommer letzten Jahres stellte er klar, dass jede unzulässige Abschalteinrichtung auch zu einem erheblichen3) Sachmangel führe.4)
- Im November 2022 leitete er aus Art. 47 GRC i.V.m. Art. 9 III Aarhus-Konvention eine Klagebefugnis der Deutschen Umwelthilfe gegen die – rechtswidrigen – Freigabebescheide des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) ab.5) Das VG Schleswig hat diese Entscheidung im Februar bereits, wenn auch noch nicht rechtskräftig, umgesetzt.
- Am 21. März 2023 nun hat der EuGH Art. 5 II Emissions-VO i.V.m. Art. 18 I, 26 I und 46 I Rahmen-RL als die individuellen Käufer schützend eingeordnet.6) Die vom Hersteller jeden Käufer auszustellende Übereinstimmungsbescheinigung schaffe zwischen ihnen eine „unmittelbare Verbindung“ und begründe die berechtigte Erwartung des Erwerbers, dass keine unzulässige Abschalteinrichtung verwendet wird.7) Damit sind die deutschen Umsetzungsrechtsakte (§§ 6 I, 27 I, EG-FGV) Schutzgesetze i.S.v. § 823 II BGB. Auch wenn die Entscheidung in Vielem vage und im Begründungsniveau hinter dem Schlussantrag des Generalanwalts zurückbleibt, lässt sich sagen, dass damit jede Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu einer Fahrlässigkeitshaftung (auch) für reine Vermögensschäden bzw. für ungewollte Verträge führt. Die Tragweite dieser Lösung ist enorm, weil Käufer keinen Vorsatz mehr nachweisen müssen, wenn sie den Kaufpreis zurückverlangen wollen. Beim Abgasskandal 2.0 hatten die Hersteller das KBA nicht getäuscht, sondern sich schlicht auf die Zulässigkeit der Abschaltung berufen. Mit Blick auf eine Fahrlässigkeitshaftung bei Schutzgesetzverletzung können sich aber Personen, die „im Geschäftsleben“ stehen, „kaum jemals“ auf einen Rechtsirrtum berufen.8) Allein beim BGH sind deswegen mehr als 1.900 Verfahren anhängig.
Deutsche Verhinderungsbemühungen
Gegen dieses Entscheidungsquartett bildete sich in den Jahren nach Bekanntwerden des Abgasskandals eine – herstellerfreundliche – Viererfront:
- Das KBA verzichtete im Wesentlichen darauf, die Hersteller mit behördlichen Maßnahmen gegen Thermofenster zu behelligen. Mehr als ein Jahr nach dem ersten EuGH-Urteil beharrte es „kontrafaktisch“ auf der Einschätzung, Thermofenster seien unionsrechtskonform. Stattdessen fiel der Behördenchef durch Mails mit der Schlussformel „mit industriefreundlichem Gruß“ und das KBA insgesamt durch enge Abstimmungen mit der Auto-Industrie bei der Formulierung behördlicher Positionen auf.
- Die Bundespolitik reagierte auf die zu erwartende Klagewelle mit der Einführung einer weitgehend wirkungslosen Musterfeststellungsklage. Daneben setzte man sich nach Bekanntwerden des Abgasskandals im BMVI dafür ein, die Verbandsklagebefugnis des Umweltrechtsbehelfsgesetzes nicht auf Produktzulassungen – und damit auf Typgenehmigungen des KBA – zu erstrecken.
- Die Obergerichte sahen keinen Anlass, die berührten Unionsrechtsfragen dem EuGH vorzulegen – die Rechtslage war schließlich „von vornherein eindeutig“9).
- Teile der Privatrechtswissenschaft bereicherten die Debatte mit bemerkenswert kreativen, fast ausschließlich herstellergünstigen Beiträgen, die auf „Anfrage[n] aus der Praxis“ beruhten.10)
Divergierende Vorverständnisse
Dennoch meine ich, dass die deutsche Rechtsdogmatik von der jüngsten EuGH-Entscheidung nicht in erster Linie aus Gründen des Lobbyismus überrascht wurde. Vielmehr liegt dies am implizit zugrunde gelegten privatrechtstheoretischen Vorverständnis und daran, dass man es versäumte, sich in die Eigenrationalität des Unionsrechts hineinzuversetzen.
Die deutsche Sicht: Systemdenken
Die deutsche und deutliche Kritik im Vorfeld der Entscheidung sah durch den Schlussantrag eine unbegrenzte Vermögenshaftung eingeführt, obwohl die §§ 823 ff. BGB sich doch mit ihren drei kleinen Generalklauseln bewusst gegen eine derart weitgehende Verantwortlichkeit entschieden hatten.11) Eine Haftung wegen fahrlässiger Schutzgesetzverletzung drohe das „Gesamtsystem des deutschen Haftungsrechts“ und dessen „Fundamentalprinzipien“ zu untergraben sowie die abschließende Regelung des Mängelgewährleistungsrechts zu konterkarieren. Sie wäre contra legem.12) Mit dieser Sicht sind zwei Prämissen verbunden: Erstens wird damit die Aufgabe des Privatrechts in der Konstruktion eines möglichst widerspruchsfreien, einheitlichen, von innerer Stimmigkeit getragenen und dem staatsfernen Interessenausgleich zwischen Freien und Gleichen verpflichteten Systems gesehen.13) Alles, was sich innerhalb dieses Erwartungshorizonts nicht verdauen lässt, erscheint als Fremdkörper. Zweitens ist diese Sicht kaum sensibel für den Umstand, dass das deutsche Haftungsmodell mit seinem schwachen deliktsrechtlichen Schutz nicht nur international eher eine Sonderstellung14) einnimmt, sondern die daraus resultierenden Verwerfungen bereits selbst abfedern musste – meistens vertragsrechtlich, z.B. durch Culpa in contrahendo und Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter (VSD). Der Konflikt mit dem Unionsrecht wird zusätzlich dadurch verschärft, dass die privatrechtlichen Leitgedanken (hier: nur Schutz von Rechtsgütern/absoluten Rechten, Relativität der Schuldverhältnisse, keine Regulierung/Prävention) latent in der rechtstheoretischen Einordnung als harte Regeln statt als optimierungs- und eben abwägungsbedürftige Prinzipien begriffen werden. Der Konflikt verschiebt sich von der Dimension der Gewichtung hin zu jener der Geltung (hier: contra-legem-Vorwurf).
Unionsprivatrecht: Fragmentierung, fehlende Fachsäulentrennung, Effektivität, Marktfunktionsbezogenheit
Aus europäischer Perspektive kann dieses Verständnis nur befremden. Schon wegen des fragmentarischen Charakters des Unionsprivatrechts ist dieses skeptisch gegenüber dem deutschen Systemanspruch.15) Angesichts der „Herrschaft des Partikularen im EU-Privatrecht“16) kennt es keine strikte Trennung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht und hat wenig übrig für von der deutschen Privatrechtswissenschaft mit Verweis auf die Privatautonomie vorgetragene Sonderbehandlungswünsche. Dies spiegelt sich auch normativ wider, wenn Art. 4 II EUV den „verfassungsmäßigen Strukturen“ der Mitgliedstaaten deutlich bereitwilliger entgegenkommt als deren einfachrechtlichen Befindlichkeiten (Art. 4 III EUV).17) Zugleich steht die EU nicht im Zeitgeist des liberalen Bürgertums, das sich vom Obrigkeitsstaat seine Freiheiten erst erkämpfen musste. Ihre Legitimation findet sich in Grundrechtskatalogen (GRC, EMRK) und einer (wenngleich ausbaufähigen) demokratischen Partizipation. Staatliche Herrschaft ist deshalb nicht mehr allein freiheitsbeschränkend, sondern auch freiheitsermöglichend.18) Dem Unionsrecht fehlt der Glaube an eine vorstaatliche Freiheitsromantik, Verträge sind damit „kein Naturzustand, sondern ein kulturelles Konstrukt. Hinter jedem Vertrag steckt der Staat.“19) Wenn das Unionsrecht ein System kennt, dann ist dessen Bezugspunk nicht das glorifizierte Privatrechtssystem, sondern die Gesamtrechtsordnung des demokratischen Verfassungsstaates.20) Die Einbeziehung einer individualschützenden Regulierungsdimension in die Privatrechtsgestaltung ist vor diesem Hintergrund viel naheliegender als im deutschen Setting.
Hinzu kommen zwei weitere Aspekte: Zum einen befindet sich das Unionsrecht, das über keinen eigenständigen Rechtsdurchsetzungsapparat verfügt, in einem permanenten Selbstbehauptungskampf gegen mitgliedstaatliche Autonomieansprüche.21) Das Unionsrecht will effektiv sein und nicht nur auf dem Papier existieren; die spezifisch privatrechtliche Regulierungsdimension ergänzt also die Möglichkeiten des public enforcement durch jene des private enforcement, bei dem sich die Prozessparteien schon aus Eigeninteresse für ein starkes Unionsrecht einsetzen. Zum anderen ist das Unionsprivatrecht viel deutlicher als das deutsche Zivilrecht marktfunktionsbezogen.22) Diese Konfrontation mit dem regulatorisch arbeitenden Marktrecht wird durch die EU beschleunigt, beruht aber letztlich auf ökonomischen Notwendigkeiten.23)
Konsequenzen für das Vorlageverfahren: Ausgleich externer Effekte
Vor dieser Folie lässt sich eine deliktische Fahrlässigkeitshaftung für Vermögensschäden deutlich besser nachvollziehen, gerade weil die klassischen Auslegungsmethoden in dieser Frage kaum Handfestes bieten. Sie stellt sich aus martkfunktionalistischer Sicht zunächst als Reinternalisierung von Externalitäten dar, welche die Automobilhersteller mit ihrer – absurd weiten – Interpretation der Ausnahmen des Art. 5 II 2 Emissions-VO bewusst ausnutzen. Die Umwälzung von Gesundheits- und Umweltschäden, deren Vermeidung den