Unsichere Vermutung
Die politische Verfolgung syrischer Militärdienstverweigerer
Laut Überzeugungsgrundsatz müssen Richter:innen in Asylverfahren von Tatsachen überzeugt sein, auf deren Grundlage sie einen Schutzstatus vergeben. Zu dieser knappen tautologischen Aussage lässt sich das jüngste Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu Militärdienstverweigerern (MDV) aus Syrien zusammenfassen, die bereits im Januar fiel und deren Begründung seit Anfang Juli vorliegt. Zuvor hatte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in der zentralen Frage, ob MDV vom syrischen Regime nicht nur bestraft, sondern auch politisch verfolgt werden, festgestellt, dass dafür die Tatsachengrundlage „in gewissem Maße diffus bleibt und für eine vollständige gerichtliche Überzeugungsbildung eher nicht genügen dürfte“, dann aber trotzdem einen Flüchtlingsstatus zugesprochen. Es stützte sich dazu auf ein Urteil des EuGH von November 2020 zum gleichen Thema, in dem dieser die „starke Vermutung“ (Rn. 57) äußert, dass syrische MDV politisch verfolgt werden. Ein Schutzstatus auf ‚diffuser‘ Grundlage und vor allem ohne volle Überzeugung sei allerdings nicht rechtmäßig, sagt nun das Bundesverwaltungsgericht und hat gut 20 Verfahren nach Berlin zurückverwiesen.
Bei Asylentscheidungen müssen Richter:innen eine Rückkehrprognose auf Grundlage unvollständiger Tatsachen fällen. Diesen Entscheidungen wohnt deshalb eine unvermeidbare empirische und prognostische Unsicherheit inne: Das Wissen über die Herkunftsstaaten bleibt immer lückenhaft und die Zukunft lässt sich nicht vorhersagen. Diese Unsicherheit wird allerdings nur bei der Zukunftsprognose berücksichtigt. Während ein Risiko nach der Rückkehr nur mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ eintreten muss, um einen Schutzstatus zu erhalten, müssen Richter:innen von den Tatsachen, auf denen diese Prognose fußt, die „volle Überzeugungsgewissheit“ erlangen. Das Bundesverwaltungsgericht nutzt die Entscheidungsbegründung zwar dazu, die seit dem EuGH-Urteil in Rechtspraxis und -wissenschaft vieldiskutierte „starke Vermutung“ als „Erfahrungssatz“ auf den deutschen Kontext zu übertragen. Es verpasst es allerdings, die Anforderungen an den Umgang mit Erfahrungssätzen in Asylverfahren zu konkretisieren und ergreift nicht die naheliegende Möglichkeit, angesichts unsicherer Tatsachen den Maßstab der „vollen Überzeugungsgewissheit“ abzuschwächen.
Was bisher geschah – syrische Militärdienstverweigerer vor deutschen Gerichten
Ob das syrische Regime Männer, die sich durch ihre Ausreise dem Militärdienst entzogen haben, als politische Gegner betrachtet, ist seit 2016 ein zentraler Streitpunkt der Asylrechtsprechung. Bis 2018 bildeten sich zwei etwa gleich große obergerichtliche Lager: Zwar stellten nahezu alle Gerichte fest, dass MDV nach ihrer Rückkehr drakonisch betraft würden (Verfolgungshandlung), allerdings nahm nur ein Teil der Gerichte darüber hinaus an, dass diese Bestrafung mit der Unterstellung einer politischen Gesinnung einhergehen würde (Verknüpfung mit Verfolgungsgrund). Nur die Gerichte, die eine solche Verknüpfung bejahten, erteilten syrischen MDV einen Flüchtlingsstatus, alle anderen lediglich subsidiären Schutz. Die Tatsachengrundlage für sämtliche Entscheidungen war dünn, weil weder Berichte über die Bestrafung zurückkehrende MDV noch explizite Aussagen des Regimes vorlagen, dass es diese Männer als politische Gegner betrachte. Die Gerichte überbrückten diese Informationslücken mit Überlegungen, ob die Unterstellung einer politischen Gesinnung aus Sicht des syrischen Staates plausibel sei und halfen sich mit Annahmen etwa derart, dass ein Staat, der in einem Bürgerkrieg um sein politisches Überleben kämpft, zurückkehrende Männer eher seiner Armee zuführen würde als sie politisch zu verfolgen. Andere Gerichte kritisierten diese Annahme eines rationalen Regimes und gingen davon aus, dass ein totalitärer Staat in einer solchen Situation alle, die nicht mit ihm kämpfen, als Verräter und damit Dissidenten ansehen würde.
Die Meinung, dass MDV nicht als politische Gegner verfolgt würden und deshalb keinen Flüchtlingsschutz erhalten sollten, setzte sich ab 2019 zunehmend auch bei den Gerichten durch, die ursprünglich dem anderen Lager angehörten. In diese Zeit fiel Ende 2020 das Urteil des EuGH, in dem er die „starke Vermutung“ für die Verknüpfung von Verfolgungshandlung und -grund äußerte: Laut EuGH bestehe vor allem dann, wenn Militärdienstverweigerung stark sanktioniert werde, ein „starker Wertekonflikt oder ein Konflikt politischer oder religiöser Überzeugungen zwischen dem Betroffenen und den Behörden des Herkunftslandes“ (Rn. 59). Außerdem gebe es insbesondere in einem Bürgerkrieg und bei fehlender legaler Möglichkeit der Verweigerung „die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Verweigerung des Militärdienstes von den Behörden unabhängig von den persönlichen, eventuell viel komplexeren Gründen des Betroffenen als ein Akt politischer Opposition ausgelegt wird“ (Rn. 60).
In Deutschland blieb die EuGH-Entscheidung weitgehend wirkungslos. Die meisten Gerichte nehmen spätestens seit 2019 an, dass der Bürgerkrieg so weit abgeklungen sei, dass der syrische Staat kein Interesse mehr daran habe, MDV als Verräter und damit Dissidenten zu bestrafen. Einige Gerichte gehen sogar davon aus, dass Verweigerer überhaupt nicht mehr bestraft würden, dass also schon keine Verfolgungshandlung mehr vorliege. Die „starke Vermutung“ des EuGH sei deshalb widerlegt.
Anderer Ansicht sind nur die OVG Berlin-Brandenburg und Bremen. Beide gehen davon aus, dass Wehrpflichtige weiterhin an Kriegsverbrechen beteiligt seien, dass sie für eine Verweigerung bestraft würden und dass diese Bestrafung mit der Unterstellung einer politischen Gesinnung einhergehe. Zu diesem Ergebnis, und das ist der springende Punkt, kommen beide Gerichte aber nicht, weil sie das Urteil des EuGH und dessen „starke Vermutung“ vollkommen anders interpretieren als die Gerichte des anderen Lagers, sondern weil sie die zentralen Erkenntnismittel anders auslegen, gewichten und bewerten. Im Kern unterstellen sie dem syrischen Regime keine „rationalen Erwägungen“ (OVG Bremen, Rn. 80) oder „rationale Muster“ (OVG Berlin-Brandenburg, Rn. 30) und interpretieren die Tatsachengrundlage deshalb anders.
Vermutungen und Erfahrungssätze
Die Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg hätte wie die des OVG Bremen problemlos bestehen können, wäre da nicht die unglückliche Formulierung, dass die Tatsachengrundlage „für eine vollständige gerichtliche Überzeugungsbildung eher nicht genügen dürfte“. Damit hat das Bundesverwaltungsgericht nun kurzen Prozess gemacht. Denn die Berliner Richter:innen haben die Tatsachen umfassend ermittelt und ausgewertet und sind offensichtlich durchaus zu der Überzeugung gelangt, dass die „starke Vermutung“ des EuGH weiterhin gilt. Dass die Tatsachen hinsichtlich der zentralen Frage, ob der syrische Staat MDV eine politische Gesinnung unterstellt, „diffus“ sind, ist unvermeidbar, eben weil die Erkenntnismittel hier nur dünne und außerdem widersprüchliche Angaben machen. Gerade deshalb behelfen sich alle Syrienentscheidungen mit besagten Annahmen zum rationalen oder eben irrationalen Charakter des Regimes, die die Wissenslücken überbrücken.
Erwägungen, wie sich ein totalitäres Regime in einem Bürgerkrieg gegenüber denen verhält, die an diesem Krieg nicht teilnehmen, sind Erfahrungssätze – ebenso wie die Begründung der starken Vermutung des EuGH. Erfahrungssätze sind „empirisch begründete, generalisierende Schlussfolgerungen“, die sich aber nicht einfach geradlinig aus den Erkenntnismitteln ergeben, sondern denen Annahmen beigemischt sind, die auch anders ausfallen können. Das Bundesverwaltungsgericht hat sein Urteil nun dazu genutzt, genau das klarzustellen: Die „starke Vermutung“ des EuGH bedeutet nicht eine Umkehr der materiellen Beweislast, sondern ist ein Erfahrungssatz, den Richter:innen zwar berücksichtigen müssen, der aber widerlegbar ist. Dass viele Gerichte annehmen, die Vermutung sei aufgrund der Lageentwicklung in Syrien widerlegt, andere aber nicht, fällt dann in den richterlichen Ermessensspielraum bei der Überzeugungsbildung, auf den das Bundesverwaltungsgericht zumindest in diesem Verfahren keinen Zugriff hatte.
Es hätte sein Urteil aber für eine differenziertere Klarstellung nutzen können, wie genau Tatsachengerichte in Asylverfahren mit Erfahrungssätzen umgehen sollen. Diese Sätze erleichtern die Überzeugungsbildung, insbesondere in Kontexten, in denen die zentrale Information – unterstellt der syrische Staat MDV eine politische Gesinnung? – nicht offen vorliegt. Das hatte der EuGH im Sinn, als er die „starke Vermutung“ formulierte. Beweiserleichterung statt Beweislastumkehr.
Dass für das Bundesverwaltungsgericht daraus lediglich folgt, dass die Anforderungen an die Asylantragsbegründung der Kläger:innen „nicht überspannt“ werden dürfen (Rn. 47), ist unbefriedigend. Denn das dürfen sie ohnehin nicht; sachtypische Beweisnot und Amtsermittlungsgrundsatz gelten auch ohne EuGH-Urteil. Die relevante Tatsachenfrage, auf die sich der Erfahrungssatz bezieht, betrifft außerdem gar nicht den individuellen Vortrag der Asylsuchenden, sondern fallübergreifend die Motive des syrischen Staates, nämlich ob er zurückkehrenden MDV eine politische Gesinnung unterstellt. Auch die Feststellung, dass für die letztlich entscheidende Rückkehrprognose Erfahrungssätze „heranzuziehen“ sind (Rn. 51), hätte einer genaueren Erläuterung bedurft.
Das Urteil hätte Gelegenheit geboten für eine Klarstellung, wie genau Gerichte Informationslücken zu fallübergreifenden Tatsachenfragen mit Erfahrungssätzen überbrücken können. Ein erster Schritt wäre die Anforderung gewesen, diese Sätze insbesondere zu den Motiven des syrischen Staates explizit zu formulieren und damit transparent zu machen. Der EuGH hat vorgemacht, wie das gehen kann.
Überzeugungen und Wahrscheinlichkeiten
Das Bundesverwaltungsgericht hätte in diesem Zusammenhang außerdem die Möglichkeit gehabt, die Bedeutung von Erfahrungssätzen für das Beweismaß der „vollen richterlichen Überzeugungsgewissheit“ zu reflektieren. Bei einfachen Erfahrungssätzen (also solchen, die nicht auf naturwissenschaftlich gesicherten Ursache-Wirkung-Beziehungen beruhen) handelt es sich um „Wahrscheinlichkeitsaussagen“, die Ausnahmen zulassen. Ihr Gehalt und damit ihre beweiserleichternde Funktion bemisst sich an der Wahrscheinlichkeit, mit der die formulierte Aussage eintritt.
Eine Orientierung an Wahrscheinlichkeiten ist aber etwas Anderes, als die „volle richterliche Überzeugungsgewissheit“ von empirischen Tatsachen zu verlangen. In Asylentscheidungen wird das Beweismaß erst für die finale Rückkehrprognose herabgestuft, die auf die Auswertung der Tatsachen folgt: Weil die Zukunft nicht vorhersehbar ist, müssen Richter:innen hier nicht mehr „Überzeugungsgewissheit“ von einer drohenden Gefahr erlangen, sondern nur annehmen, dass diese Gefahr „beachtlich wahrscheinlich“ ist. Asylverfahren sind aber nicht nur von prognostischer, sondern ebenso von empirischer Unsicherheit geprägt. Die Verfahren zu syrischen MDV sind dafür ein gutes Beispiel, eben weil die Motive des Staates nicht offenliegen. Eine dahingehende „Überzeugungsgewissheit“ wird es nie geben. Bundesverwaltungsgericht (Rn. 45) und EuGH (Rn. 56) betonen, dass es letztlich darum geht, die „Plausibilität“ der Verknüpfung von Verfolgungshandlung und -grund zu prüfen. Es wäre naheliegend, auch für diese Plausibilitätsprüfung ein abgestuftes Beweismaß zu verwenden und von „Wahrscheinlichkeit“ statt von „Überzeugungsgewissheit“ zu sprechen. Der unvermeidbaren Unsicherheit in Asylverfahren würde so Rechnung getragen und das OVG Berlin-Brandenburg müsste nicht gut 20 Syrienverfahren neu aufrollen.