Kurzer Prozess für Klimaaktivist:innen in Berlin
Strafverfahren zero?
Um den Aktivist:innen der „Letzten Generation“ mit den Mitteln des Strafrechts zu Leibe zu rücken, schwingt die Generalstaatsanwaltschaft in München die große OK-Keule unter Einsatz des § 129 StGB. Die Staatsanwaltschaft Berlin scheint sich jetzt in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Sie greift in die strafprozessuale Mottenkiste und will das „beschleunigte Verfahren“ (§§ 417 ff. StPO) zum Einsatz bringen, ein zur Aburteilung Kleinkrimineller vorgesehenes Verfahren. Dazu sind Sonderabteilungen beim Amtsgericht Tiergarten geschaffen worden, die zur besonderen Verwendung durch die Staatsanwaltschaft Berlin eingerichtet sind. Das lässt den Eindruck von „Ausnahmegerichten“, eine Verletzung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 GG) und eine Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit entstehen.
Strafverfahren sind keine Schießbudenveranstaltung
Der Gesetzgeber des sogenannten Verbrechensbekämpfungsgesetzes (G v. 28. 10. 1994, BGBl I, S. 3186) hat schon in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts versucht, das sogenannte beschleunigte Verfahren, dessen Besonderheit sich vorher in der Verkürzung des Zwischenverfahrens erschöpfte, für den Einsatz gegen Kleinkriminalität zu vereinfachen. Davon versprach er sich erhebliche Entlastungseffekte für die Strafjustiz. Anklage kann beim Amtsgericht (auch Schöffengericht) mündlich erhoben werden. Ein Zwischenverfahren gibt es nicht. Die Ladungsfrist beträgt 24 Stunden. Das Beweisantragsrecht entfällt. Die Verlesung von Vernehmungsniederschriften kann die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen ersetzen.
In diesem wesentlicher Beschuldigtenrechte entkleideten Schnellverfahren kann dennoch neben Geldstrafe auf Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr erkannt werden, auch ohne Bewährung. Die Mitwirkung eines Verteidigers ist – abgesehen von Fällen der flankierend eingeführten Hauptverhandlungshaft (§ 127b StPO) – erst dann notwendig, wenn Freiheitsstrafe von mindestens fünf Monaten droht. Das beschleunigte Verfahren ist allerdings solchen Fällen vorbehalten, in denen „die Sache aufgrund des einfachen Sachverhalts oder der klaren Beweislage zur sofortigen Verhandlung geeignet ist.“ (§ 417 StPO)
Die Erwartungen des Gesetzgebers haben sich nicht erfüllt. Seine an Staatsanwaltschaften und Gerichte ausgestreckte Hand, sich der immer wieder beklagten Arbeitslast durch die Verwendung eines Strafverfahrens light entledigen zu können, befreit von den Fesseln prozessualer Förmlichkeiten und damit lästig hantierender Verteidiger:innen, ist nicht angenommen worden. Das spricht für die Strafjustiz. Bei allem Lamento über das unhandliche Verfahrensrecht herrscht dort doch immer noch die Überzeugung, dass ein Strafverfahren keine Schießbudenveranstaltung werden darf.
In Zahlen: Während der Anteil der beschleunigten Verfahren an der Gesamtzahl der amtsgerichtlichen Verfahren (bei starken regionalen Unterschieden) im Jahr 1990, also vor der Reform durch das „Verbrechensbekämpfungsgesetz“ bei 4,02 % lag (BT-Drs. 12/6853, S. 34), belief er sich im Jahr 2020 sogar nur noch auf 1,8 % (Rosenau in SSW-StPO, 5.A., 2023. Rn. 4, wiederum mit regionalen Unterschieden).
Berechtigte Kritik an Strafverfahren light für Klimaaktivist:innen
Die Mitte Juni bekannt gewordene Ankündigung, Klimaaktivist:innen in Berlin künftig diesem Strafverfahren light zuzuführen, hat sogleich die Kritik von Anwaltsverbänden auf den Plan gerufen. Republikanischer Anwält:innen Verein und die Vereinigung Berliner Strafverteidiger:innen wandten sich in einer gemeinsamen Presseerklärung vom 26. Juni 2023 gegen die Einrichtung von „Ausnahmegerichten für die ‘Letzte Generation’“ in Berlin. Was war geschehen?
Das Amtsgericht Tiergarten änderte seinen Geschäftsverteilungsplan, nachdem die Staatsanwaltschaft angekündigt hatte, künftig verstärkt Anträge nach § 417 StPO in den sich häufenden Verfahren, Klimaaktivist:innen betreffend, zu stellen. Es wurden fünf neue Abteilungen beim Amtsgericht eingerichtet, jeweils mit einem halben Richterpensum, von denen zwei bereits mit einer Proberichterin und einem Proberichter besetzt sind. Sie sind zuständig für beschleunigte Verfahren gegen Erwachsene, soweit es sich – und hier liegt ein besonders heikler Punkt – „um Verfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft Berlin handelt und eine Zuständigkeit der Richter des Bereitschaftsgericht nicht gegeben ist.“
Gewöhnlich werden in Berlin beschleunigte Verfahren auf Antrag der Amtsanwaltschaft eingeleitet. Hierfür bleiben die beiden bereits bestehenden Abteilungen zuständig, besetzt mit Lebenszeitrichterinnen mit vollem Pensum. Sie sitzen in Berlin im Gebäude des Polizeipräsidiums am Tempelhofer Damm, eine halbe Autostunde vom Kriminaljustizkomplex in Moabit entfernt. Hier werden in der Regel Verfahren gegen durchreisende Kleinkriminelle verhandelt, z.B. Personen, die im Kaufhaus erwischt wurden, als sie eine Handtasche mitnehmen wollten, ohne zu bezahlen.
Die Anwält:innen bezweifeln die Eignung des beschleunigten Verfahrens für die strafrechtliche Beurteilung von „Straßenblockaden“. Denn die Beweislage sei schwierig, die rechtliche Würdigung umstritten und uneinheitlich. Sie befinden sich damit grundsätzlich in Übereinstimmung mit dem Leiter der Berliner Staatsanwaltschaft, LOStA Raupach, der jedenfalls noch im September letzten Jahres, Presseberichten zufolge, im Rechtsausschuss des Abgeordnetenhauses erklärt haben soll, das beschleunigte Verfahren sei für solche Fälle nicht geeignet. Jetzt soll aber der Druck der Vielzahl anhängiger Verfahren und auch der Zuwachs an Erfahrung damit bei der Staatsanwaltschaft zu der Änderung der Haltung der Behörde geführt haben.
Die Kritik der Anwaltsverbände an der fehlenden Eignung des beschleunigten Verfahrens ist berechtigt, zumindest soweit der Vorwurf der Nötigung gegen die Blockierer:innen erhoben wird. Der „taz“ war zu entnehmen, dass das KG in einer Revisionsentscheidung darauf hinwies, dass Blockaden nicht grundsätzlich als Nötigung zu werten seien. Die konkreten Umstände des Einzelfalls müssten festgestellt werden. Etwa, in welchem Umfang sich ein Stau infolge der Aktion bilde. Das Landgericht Berlin hat einen Nötigungsvorwurf mit der Begründung zurückgewiesen, den Autofahrern sei ein Umsteigen auf den ÖPNV oder das Einplanen von mehr Zeit möglich. Aber auch einzelfallbezogene verfassungsrechtliche Abwägungen zwischen dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit und der Handlungsfreiheit von Autofahrer:innen sind gerade im mit politischen Manifestationen ebenso wie mit Baustellen reich gesegneten Berlin nicht einfach in einem „kurzen Prozess“ vorzunehmen. Schließlich erfordert die Strafzumessung eine Auseinandersetzung mit den Motiven, der „Gesinnung, die aus der Tat spricht (§ 46 Abs.2 2.Alt. StGB), dem Vorleben des Täters (§ 46 Abs. 2 5.Alt. StGB) und weiterer für seine Schuld relevanter Umstände, die gerade bei Handlungen besonders sorgfältig zu würdigen sind, mit denen mögliche öffentliche Missstände kritisiert werden sollen.
Verfassungsrechtlich zweifelhafter Weg in Berlin
Ob das beschleunigte Verfahren im Einzelfall für Klimakleber:innen in Betracht kommt, hat allerdings der angerufene Richter zu entscheiden. Die Staatsanwaltschaft hat lediglich die Möglichkeit, zwischen verschiedenen in Betracht kommenden Gerichten das in ihren Augen geeignete auszuwählen. Die sogenannte bewegliche Zuständigkeit, die es der Staatsanwaltschaft ermöglicht, Anklage je nach Besonderheit des Einzelfalls beim Amtsgericht, Einzelrichter oder Schöffengericht, oder gleich beim Landgericht zu erheben, hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten.
In Berlin liegen jetzt aber besondere Umstände vor, die bei einer Gesamtwürdigung den eingeschlagenen Weg verfassungsrechtlich zweifelhaft erscheinen lassen. Der Vorwurf der Anwaltsverbände, hier würden „Ausnahmegerichte“ geschaffen, ist danach insgesamt berechtigt.
Die geschaffene Sonderzuständigkeit der neu eingerichteten Abteilungen beschränkt sich auf solche Verfahren, in denen nicht – wie üblich – die Amtsanwaltschaft die Einleitung des beschleunigten Verfahrens beantragt. Die Staatsanwaltschaft hat es also in der Hand, diese Zuständigkeit zu begründen, indem sie Fälle, die sonst die Amtsanwaltschaft bearbeitet, an sich zieht oder in Fällen, in denen sie genuin zuständig ist, im beschleunigten Verfahren anklagt. Es handelt sich, zugespitzt formuliert, um Abteilungen, eingerichtet zur besonderen Verwendung durch die Staatsanwaltschaft Berlin. Auf Nachfrage begründet das Amtsgericht diese eigentümliche Regelung damit, dass die am Tempelhofer Damm angesiedelten Richterinnen, die bisher für das beschleunigte Verfahren zuständig sind, nicht mit den weiteren Verfahren belastet werden sollen. Auch räumliche Kapazitäten spielten eine Rolle, so dass die hinzugekommenen im Moabiter Justizkomplex tätig sein sollen. Die gefundene Regelung gehe nicht auf einen Vorschlag der Staatsanwaltschaft zurück.
Rund 20 Verfahren hat die Staatsanwaltschaft inzwischen im beschleunigten Verfahren anhängig gemacht. Sie gerät dabei an Richter:innen, deren Unabhängigkeit, weil sie Proberichter:innen sind, nicht vollständig gewährleistet ist. Anders als bei Lebenszeitrichter:innen können Proberichter:innen zum Ablauf des sechsten, zwölften, achtzehnten oder vierundzwanzigsten Monats nach ihrer Ernennung entlassen werden (§ 22 Abs.1 DRiG), in den beiden folgenden Jahren immer noch unter leichteren Voraussetzungen als bei Lebenszeitrichter:innen (§ 22 Abs.2 DRiG).
Werden sie das standing besitzen, die Durchführung des beschleunigten Verfahrens gegen Klimaaktivist:innen zu verweigern mit der Begründung, dass es für solche Verfahren nicht geeignet ist? Immerhin: Es kann ja sein, dass gerade jüngere Richter:innen (das sind Proberichter:innen in aller Regel) den Anliegen der „Letzten Generation“ näher stehen als ältere. Und dass sie, noch nicht abgestumpft von den Routinen amtsrichterlicher Tätigkeit, kritischer an die Verfahren herangehen als erfahrene Lebenszeitrichter:innen? Die ersten Erfahrungen mit dem Einsatz des beschleunigten Verfahrens am Amtsgericht Tiergarten gegen einen Klimakleber scheinen die gehegten Befürchtungen zu zerstreuen: LTO meldet, die zuständige Richterin habe „nach knapp dreistündiger Verhandlung“ beschlossen, die Sache solle im normalen Verfahren verhandelt werden. Es habe sich um einen „Test“ gehandelt, wird sie zitiert, die Sache sei aber nicht für beschleunigte Verhandlung geeignet. Es bleibt also abzuwarten, wie weitere „Tests“ verlaufen.
Problematisch bleibt der Eindruck, den die mit der Geschäftsverteilung geschaffene Regelung hinterlässt, ist das Entscheidende, hier solle mit einer bestimmten Gruppe politischer Protestierender kurzer Prozess gemacht werden. Mit der Garantie des gesetzlichen Richters, so hat das BVerfG mehrfach unterstrichen, soll die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden. „Dieses Vertrauen nähme Schaden, müsste der rechtssuchende Bürger befürchten, sich einem Richter gegenüberzusehen, der mit Blick auf seinen Fall und seine Person bestellt worden ist.“ (BVerfGE 95, 322 ff, 327). Der von Staatsanwaltschaft und Amtsgericht eingeschlagene Weg droht den Sinn des Strafverfahrens zu desavouieren, Rechtsfrieden zu stiften. Strafverfahren zero?
Dass diese Befürchtung nun gerade (auch) bei Personen geschürt wird, die ohnehin den Prozeduren des demokratischen Rechtsstaat skeptisch gegenüberstehen, wird nicht dazu beitragen, sie dazu zu bewegen, ihre Ziele auf den von ihm vorgegebenen Wegen zu verfolgen.
Politische Einflussnahme? Erwünscht, nur in die richtige Richtung
Der Abgeordnete der Berliner Linksfraktion Sebastian Schlüsselburg wird vom „Tagesspiegel“ mit den Worten zitiert: „Ich hoffe sehr, dass es hier keine politische Einflussnahme gegeben hat.“ Nach Presseberichten hat die Berliner Senatsverwaltung für Justiz allerdings dementiert, auf das Vorgehen der Staatsanwaltschaft Einfluss genommen zu haben. Aber was macht das besser? Ist es deshalb unpolitisch? Es ist eine seit vielen Jahren von den Berufsorganisationen der Staatsanwaltschaft verfolgte Forderung, sie von der Weisungsabhängigkeit gegenüber den Justizministerien und -senaten (§ 147 GVG) zu befreien (s. den Aufsatz des früheren Richterbunds-Vorsitzenden OStA Frank in ZRP 2010, 147). Das soll dem Einfluss der Politik auf ihre Arbeit Einhalt gebieten. Minister:innen und Senator:innen sind allerdings den Parlamenten gegenüber rechenschaftspflichtig. Eine unabhängige Staatsanwaltschaft wäre das nicht. Sie kann ihre Politik dann im parlamentarisch kontrollfreien Raum machen.
Und sie macht auch in Berlin, auch durch das kritisierte Vorhaben, Politik. Sie will mit Klimaaktivisten „kurzen Prozess“ machen. Die richtige Frage aus den Reihen des Parlaments ist daher nicht, ob es hier „politische Einflussnahme“ gegeben hat. Sie muss lauten: Warum nimmt die politisch verantwortliche Senatorin nicht Einfluss und unterbindet das Vorgehen der ihr nachgeordneten Staatsanwaltschaft? Mit der Einrichtung von Sonderzuständigkeiten für Verfahren gegen Klimaaktivisten wird man ihrer Störungen des öffentlichen Friedens nicht Herr werden. So wird nur noch mehr Schaden angerichtet.
Der Beitrag wurde im Nachhinein geringfügig angepasst, um zu berücksichtigen, dass ein beschleunigtes Verfahren ins normale Verfahren überführt werden muss.
Ein wirklich interessanter Beitrag. Diese Regelung im GVP des AG Tiergarten enthält massive Defizite. Bereits beim einmaligen Lesen fallen wenigsten drei Probleme auf.
Die Regelung zur Umverteilung nicht erlediger Geschäfte unterliegt so zumindest erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Es ist doch jedenfall stark erklärungsbedürftig, warum (im beschleungigten Verfahren!) eine unterjährige Umverteilung der Geschäfte notwendig sein sollte.
Ein weiteres Problem ergibt sich dadurch, dass der Turnus hier (wohl) nur von einer sehr geringen Zahl an Staatsanwält:innen gefüttert wird. Dadurch, dass der Turnus keinen weiteren Randomisierungsfaktor enthält, wird es den Dezernenten bei der Staatsanwaltschaft möglich, die Verfahren “abzuzählen” und eine Sache einem bestimmten Richter:in zuzuschreiben. Zu derartigen Manipulationsmöglichkeiten am Turnus gibt es zwar Rechtsprechung des BGH. Diese bezieht sich aber auf Sonderkonstellationen, in denen das nur deshalb möglich war, weil es bei den am Turnus teilnehmenden Spurchkörpern (Wirtschaftsstrafkammer; Staatsschutzsenat) sehr wenig Geschäfte gab.
Daneben dürfte auch die Regelung, wonach als “Altfall” auch die offene Bewährung zählt, hinreichende Bestimmtheit vermissen lassen, weil sich die offene Bewährung nicht mit dem sonstigen Verfahrensabschluss deckt und daraus Unklarheit beim fehlenden Eintritt der Rechtskraft entsteht. Ich habe eine derartige Regelung auch noch nie in einem Geschäftsverteilungsplan gesehen.
Alles in allem stellt sich die Frage, wer es für sinnvoll hielt, in einer (politisch) derart aufgeheizten Stimmung einen solchen GVP (offensichtlich unterjährig) zu entwerfen. Nicht sinnvoll ist es, dann auch noch Proberichter in diese Situation zu werfen.