17 November 2023

Wenn Björn Höcke sein Volk befragt

Am 1. September 2024, möglicherweise schon früher, wird in Thüringen ein neuer Landtag gewählt. In den Umfragen steht die von dem Rechtsextremisten Björn Höcke angeführte AfD seit Monaten stabil auf Platz 1. Rund ein Drittel der Thüringerinnen und Thüringer würden derzeit ihre Stimme der AfD geben.

Eine AfD, die über ein Drittel oder mehr der Sitze im Landtag verfügt, könnte alle Entscheidungen blockieren, die mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden müssen. Dazu gehören insbesondere Verfassungsänderungen. Wenn die bevorstehenden Wahlen einlösen, was die Umfragen versprechen, dann hieße das, dass die Thüringer Landesverfassung ohne Zustimmung der AfD nicht mehr geändert werden kann.

Noch ist es zumindest rechnerisch möglich, die Landesverfassung für die kommenden stürmischen Zeiten einigermaßen wetterfest zu machen. Noch können sich die demokratischen Parteien im Thüringer Landtag entschließen, wenigstens einige der klaffendsten Lücken zu schließen – darunter die Regelung zur Ministerpräsidentenwahl, die weiterhin auf fatale Weise offen lässt, ob und wie sich ein Kandidat ohne Mehrheit im Landtag an die Spitze einer Minderheitsregierung wählen lassen kann.

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Die Verfassung sieht in diesem Fall vor, dass im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt ist, wer »die meisten Stimmen« bekommt. Wenn Amtsinhaber Bodo Ramelow (Die Linke) im dritten Wahlgang ohne Gegenkandidaten antritt, wird er vermutlich mehr Nein-Stimmen und Enthaltungen bekommen als Ja-Stimmen. Hat er dann »die meisten Stimmen« bekommen? Die Antwort auf diese Frage wird die frisch gewählte Landtagspräsidentin oder der Landtagspräsident zu geben haben, die oder der das Ergebnis der Wahl feststellt. Das Vorschlagsrecht für diese Schlüsselposition liegt nach der Geschäftsordnung des Landtags bei der stärksten Fraktion. Das ist nach aktuellem Stand die AfD.

Die Landesverfassung ist zweideutig. Bisher ist es den Koalitionsfraktionen und der CDU nicht gelungen, sich auf eine Formulierung zu verständigen, die die Verfassung in dieser für die Demokratie in Thüringen essenzielle Frage vereindeutigt. Wichtiger als die Frage, worauf man sich einigt, wäre, dass man sich einigt. Sonst dürfte es zu einem langwierigen, riskanten und kontroversen Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht kommen. Die Verfassungskrise, die in der Zwischenzeit eintritt, wird das Narrativ der AfD nähren, dass die Demokratie in Thüringen nicht funktioniert und die »Altparteien« nichts zustande bringen, nicht einmal eine Regierung.

Beide mögliche Lesarten der Landesverfassung haben ihr Für und Wider, aber beide sind besser als der aktuelle Schwebezustand. Darauf hat auch der Präsident des Thüringer Verfassungsgerichtshofs, Klaus von der Weiden, kürzlich mit deutlichen Worten hingewiesen. In der aktuellen Situation kommt es nicht in erster Linie darauf an, für die jeweiligen Policy-Präferenzen verfassungsrechtliches Terrain zu gewinnen, sondern Schaden von der Demokratie abzuwenden. Darauf müssen sich alle Parteien, die für sich das Attribut »demokratisch« in Anspruch nehmen, verständigen können.

Ermittlung des »Volkswillens«

Eine verfassungsändernde Mehrheit ist auch für die Schließung einer anderen Lücke notwendig, über die bisher kaum gesprochen wurde: die Möglichkeit, sogenannte konsultative Volksbefragungen ein- und durchzuführen.

Die Thüringer Verfassung sieht vor, dass das Volk seinen Willen durch die Wahl des Landtags sowie durch Gesetzgebung im Wege von Volksbegehren und Volksentscheid verwirklicht. Volksbegehren und Volksentscheid sind Verfahren der direkten Demokratie: Sie sind Mittel des Volkes, sich gegenüber der Regierung Gehör und Einfluss zu verschaffen.

Volksbefragungen dagegen haben mit direkter Demokratie nichts zu tun. Sie sind Mittel der Regierung, nicht des Volkes. Sie sind ein Werkzeug in der Hand der Regierung, an den demokratischen Institutionen und Verfahren vorbei den Anschein einer höheren Legitimation für ihre Absichten und Handlungen zu erwecken. Gerade weil sie rechtlich nicht bindend sind und damit zu nichts konkret verpflichten, kann die Regierung das Ergebnis so deuten, wie sie es gerade braucht. Sie sind extrem missbrauchs- und manipulationsanfällig. Und gerade deshalb sind sie der Traum jeder autoritär-populistischen Regierung.

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Der Meister des Einsatzes dieses Werkzeugs ist Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident. Die Ungarinnen und Ungarn werden alle paar Monate mit einer neuen »nationalen Konsultation« behelligt, mit hochgradig suggestiven Fragen der Regierung. Ein Beispiel: »Stimmen Sie mit der ungarischen Regierung überein, dass es statt Einwanderung notwendig ist, ungarische Familien und ungeborene Kinder zu unterstützen?« Mit diesem Instrument kann die Regierung jeden rechtsstaatlichen oder demokratischen Widerstand, auf den sie mit ihrer Politik stößt, delegitimieren. Wer anderer Meinung ist – ob die EU oder das Verfassungsgericht oder der politische Gegner – stellt sich dem »Willen des Volkes« entgegen – einem Volkswillen, den die Regierung selbst herstellen und nach ihren Vorstellungen gestalten kann. Autoritärer Populismus in Reinkultur.

Die AfD hat längst erkannt, wie attraktiv ein solches Instrument für ihre Politik wäre, sollte sie eines Tages an die Macht gelangen. Im März 2023 hat die AfD-Bundestagsfraktion eine Grundgesetzänderung gefordert. In der Verfassung, so ihr Antrag, solle ein Artikel 62a aufgenommen werden, der die Bundesregierung ermächtigt, »dem Volk Sachfragen zur Ermittlung des Volkswillens vor(zu)legen«.

Auf Landesebene, in Thüringen, könnte sie sich auf den Standpunkt stellen, dass eine Verfassungsänderung nicht einmal nötig ist – Volksbefragungen also mit einfacher Mehrheit eingeführt werden könnten. Denn zum einen sieht die Landesverfassung ja, anders als das Grundgesetz, unmittelbare Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger zwischen den Wahlen ausdrücklich vor. Volksbefragungen nennt die Verfassung zwar nicht explizit, schließt sie aber auch nicht aus. Und zum anderen: Wer wollte dem Ministerpräsidenten Björn Höcke das Recht versagen, sein Volk zu befragen? Es geht ja »nur« um einfache Befragungen, nicht um rechtlich verbindliche Volksentscheide.

Auf diese Flasche muss der Landtag einen Korken setzen, solange das noch möglich ist. Die zu erwartende Debatte, dass die »Altparteien« damit nur wieder das Volk knebeln wollen, sollten diese Parteien mitsamt der demokratischen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft offensiv führen und gewinnen: Dass es nicht das Volk ist, das durch ein solches Instrument ermächtigt wird, sondern die Regierung, ist nicht schwer zu verstehen und zu erklären. Eine Klarstellung in der Verfassung, dass die dort vorgesehenen direktdemokratischen Elemente abschließend sind, ist nicht schwer zu formulieren und wäre mit keinem politischen Preis verbunden: Es würde ja nichts abgeschafft und irgendwem weggenommen, sondern nur verhindert, dass etwas eingeführt wird.

Darauf sollte eine Verständigung möglich sein, sofern und solange der politische Wille und damit die nötigen Mehrheiten im Landtag vorhanden sind. Die Demokratie in Thüringen wäre damit – ohne nennenswerte Kosten – ein erhebliches Stück widerstandsfähiger. Das ist in diesen Zeiten allemal ein lohnenswertes Ziel.

Dieser Text wurde zuerst auf SPIEGEL Online veröffentlicht.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von MAXIMILIAN STEINBEIS:

Das Bundesverfassungsgericht hat der Ampelkoalition 60 Milliarden Euro aus dem Haushalt gestrichen, die diese dort unter Umgehung der Schuldenbremse zur Finanzierung von Klimaschutzvorhaben hineingeschrieben hatte. TILL VALENTIN MEICKMANN sieht das “das Ende der Großzügigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Staatsschuldenrecht” gekommen. DAVID SCHWARZ begrüßt die Klarstellung, “dass sich tiefgreifende gesellschaftliche Konflikte nicht mit Kassentricks kitten lassen — es führt kein Weg daran vorbei, sie auszutragen.”

Der Wind dreht sich gerade massiv nach rechts und füllt die Segel nicht zuletzt der AfD in nie gekanntem Maße. Aus unserem Thüringen-Projekt ist der Artikel von JULIA LESER entstanden, der Erkenntnisse der politischen Anthropologie zur “Mikropolitik des Rechtsrucks” in die Debatte einspeist. Rechtspopulistische Parteien werden nicht trotz, sondern wegen ihrer menschenfeindlichen, rassistischen Inhalte gewählt, und ethnografische Forschung zu den “Komfortzonen der Rechten” kann verstehen helfen, wie das kommt und wie das sein kann.

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Apropos Rechtsruck: In Italien deckt Regierungschefin Meloni, nachdem ihre geduldige außen- und europapolitische Kreidefresserei den erwarteten Erfolg gezeitigt und ihr zu einem behaglichen Platz inmitten des europäischen Staatenlenkergemeinschaft verholfen hat, ihre postfaschistischen Karten auf: Die Regierung strebt an, die Verfassung zu ändern und das Regierungssystem in eine entschieden plebiszitär-populistische Richtung zu schubsen, mit einer Direktwahl des Regierungschefs durch das Volk und einer Verankerung eines Wahlsiegerbonus von 55% der Sitze im Parlament für die Regierungskoalition direkt in der Verfassung. CARLO FUSARO und  STEFANO CIVITARESE MATTEUCCI liefern detaillierte und kritische Analysen, was die geplanten Änderungen im Detail implizieren und welch problematische Folgen sie nach sich ziehen würden. ANDREA DE PETRIS erklärt, warum der Vergleich mit dem deutschen konstruktiven Misstrauensvotum völlig daneben liegt, anders als der mit dem amerikanischen Sturm auf das Kapitol.

Einen weiteren Plan hat die italienische Ministerpräsidentin angekündigt: Italien hat mit Albanien ein Abkommen zur Unterbringung von Geflüchteten abgeschlossen, die von italienischen Schiffen im Mittelmeer gerettet wurden. LORENZO PICCOLI hält den Plan für weder legal noch praktikabel.

Den britischen Plan, Geflüchtete nach Ruanda auszufliegen, hat der Oberste Gerichtshof einstimmig für rechtswidrig erklärt. ALICE DONALD und JOELLE GROGAN erklären, was es mit dem Urteil auf sich hat und wie die britische Regierung darauf reagieren könnte.

In Frankreich will Präsident Macron das Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankern. Keine gute Idee, warnt BAPTISTE CHARVIN: Die Verfassung droht zu einem Inventar von Dingen zu werden, die auch per gewöhnlicher Gesetzgebung garantiert werden können, in der Absicht, sie derselben zu entziehen. “Ultimately, the Constitution is stripped of its privilege: in attempting to revitalize it, the constituent power may inadvertently extinguish it.”

Im Vereinigten Königreich ist der Online Safety Act in Kraft getreten. BEATRIZ KIRA und LAURA SCHERTEL MENDES untersuchen, wie es jetzt mit der Plattformregulierung in Großbritannien weitergeht.

In der Türkei weigert sich das Kassationsgericht, den Oppositionspolitiker Can Atalay freizulassen, obwohl das Verfassungsgericht dessen Inhaftierung für verfassungswidrig erklärt hatte – und beschuldigt das Gericht, das über die Einhaltung der Verfassung wacht, dieselbe zu verletzen und ultra vires zu handeln. Eine intrajustizielle Verfassungskrise also, und wohl ein weiteres Zeichen, dass die AKP-Regierung sich der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bzw. dessen, was von ihr übrig ist, nunmehr endgültig entledigen will, sagen GÜLCIN BALAMIR COSKUN und ERTUG TOMBUS. DORUK ERHAN widerspricht der Diagnose einer Verfassungskrise, denn darin sei eine Verfassung vorausgesetzt, die überhaupt noch Bindungskraft entfalte. Und das sei schon länger nicht mehr der Fall in der Türkei.

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Wie gestalten das deutsche und europäische Recht die digitale und die ökologische Transformation gestalten? Wie gelingt dabei die administrative Kooperation und Koordination im Mehrebenensystem? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt der Arbeit des Lehrstuhls für Deutsches und Europäisches Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften (Prof. Dr. Arne Pilniok). Wir suchen eine*n engagierte*n wissenschaftliche*n Mitarbeiter*in, der*die sich aktiv in die Forschung einbringt und für gute Lehre engagiert. Die Ausschreibung finden Sie hier. (Bewerbungsende: 3.12.2023).

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In Australien ist das Verfassungsreferendum gescheitert, das den indigenen Australier*innen eine “Stimme” im Regierungssystem hätte verschaffen sollen. ANNE TWOMEY untersucht, woher der Erfolg der Nein-Kampagne kam.

Das Zerstörungswerk, das der “weltweit coolste Diktator” Nayib Bukele, Präsident von El Salvador, mit seinem erneuten Amtsantritt in der Verfassung angerichtet hat, schaut sich LUKAS GRAUTE genauer an.

Die Ankündigung von US-Präsident Biden, die Regulierung von künstlicher Intelligenz voranzutreiben, nimmt NATHALIE A. SMUHA zum Anlass, sich Gedanken über das entstehende KI-Völkerrecht zu machen.

Die Bundesregierung will es dem Bundesamt für Verfassungsschutz ermöglichen, künftig auch Privatleute darüber zu informieren, dass jemand unter Beobachtung steht. MARYAM KAMIL ABDULSALAM und TOBIAS ROSS halten den neu gefassten § 20 BVerfSchG nicht nur in dieser Hinsicht für gesetzestechnisch misslungen und für verfassungsrechtlich bedenklich.

Was das Versammlungsrecht hergibt, um antisemitische Demonstrationen in Deutschland zu unterbinden, haben TILL HENDLMEIER, CHRISTOPH  SCHUCH und LAURA SCHWARZ zusammengetragen.

Die Unionsfraktion im Bundestag hat ein Sexkaufverbot gefordert. Keine gute Idee, findet TERESA KATHARINA HARRER.

Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht wird 100 – aus welchem Anlass wir, verbunden mit Glückwünschen, einen Blogpost von PHILIPP GLAHÉ und ALEXANDRA KEMMERER zu diesem Thema crossposten.

Soviel für diese Woche. Ihnen alles Gute!

Ihr

Max Steinbeis


SUGGESTED CITATION  Heußner, Hermann, Pautsch, Arne; Steinbeis, Maximilian: Wenn Björn Höcke sein Volk befragt, VerfBlog, 2023/11/17, https://verfassungsblog.de/wenn-bjorn-hocke-sein-volk-befragt/, DOI: 10.59704/68d9a5a099dbd529.

13 Comments

  1. Michael Schneider Fri 17 Nov 2023 at 22:08 - Reply

    Zum Thema Volksbefragungen ist zu ergänzen, dass diese bereits 2015 in Bayern eingeführt, dann jedoch vom bayerischen Verfassungsgerichtshof gekippt wurden (VerfGH Bayern, 21.11.2016 – 15-VIII-14, 8-VIII-15).

    War die damalige CSU-Alleinregierung in den Augen der Autoren dann eigentlich auch eine “autoritär-populistische” oder gar rechtsextreme Regierung?

    • cornelia gliem Mon 20 Nov 2023 at 14:51 - Reply

      uiuiui – äh ja? eine CSU, die in Bayern seit Jahrzehnten nahezu allein regiert und besonders populistisch auffällt? so gefragt: aber ja!

    • Christian Tue 21 Nov 2023 at 16:13 - Reply

      In den Augen des Chefredakteurs vermute ich durchaus, dass er die CSU mindestens als autoritär-populistisch sieht. Rechtsextrem ggf. wohl nicht, obschon aus der Sicht des Verfassungsblogs wahrscheinlich hart an der Grenze.

    • Thorsten Linke, M.A. Mon 27 Nov 2023 at 09:19 - Reply

      In meinem Blog habe ich bereits im Hinblick auf das Brexit-Referendum die
      Frage untersucht, ob Referenden ein “gutes demokratisches Mittel” sind. Ich habe das verneint. Die Argumente gelten nicht weniger für “Volksbefragungen”.

      Blog-Artikel: Der Brexit und der Verfall der politischen Kultur (2019)

      http://hugins-blog.de/359-der-brexit-und-der-verfall-der-politischen-kultur

  2. frank müller Wed 22 Nov 2023 at 09:44 - Reply

    In Österreich ist das zum Teil anders : Nur Ergebnisse von Volkabstimmungen sind bindend. Auf Grund von für die Regierenden negativen Ergebnissen in der Vergangenheit, gibt es fast nie Volksabstimmungen und nur Befragungen.Selbst diese werden erst bei entsprechendem Druck ermöglicht und verpflichten die Regierenden -außer einer parlamentarischen Behandlung ,die einer Pflichtübung darstellt – zu nichts.

  3. Thomas Kleine-Brockhoff Wed 22 Nov 2023 at 16:55 - Reply

    Warum sind eigentlich nach Ihrer Auffassung Volksbegehren und Volksentscheid Mittel des Volkes (anders als Volksbefragungen, die Mittel der Regierung seien)?

    Auch Volksbegehren können m.E. Mittel der Regierung sein, besonders dann, wenn eine Regierungspartei sich in ihrer Koalition nicht vollständig durchsetzen kann und das Volk per “Begehren” zu Hilfe ruft, was dann gern mit Hilfe von geneigten Vorfeldorganisationen, die finanziell gut gepolstert sein können, angestrengt wird.

    • Jakob Weickert Mon 13 May 2024 at 20:31 - Reply

      Das Begehren kann nicht komplett von oben gesteuert und vorgegeben werden (bzgl. Frage und Narrativ). Es erfordert eine Initiative aus der Bevölkerung. Klar nicht ohne jedes Missbrausrisiko, aber das ist am Ende jeder demokratische Prozess.

  4. Franz Wagner Wed 22 Nov 2023 at 17:13 - Reply

    “Die Landesverfassung Thüringens lasse es in fataler Weise offen, ob und wie sich ein Kandidat ohne Mehrheit im Landtag an die Spitze einer Minderheitsregierung wählen lassen könne”.

    Stellt sich dieses Problem wirklich?

    Unterschiede zwischen der Landesverfassug Thüringens und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vermag ich nicht zu erkennen. Auch nach Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG ist zum Bundeskanzler gewählt, “wer die meisten Stimmen erhält”. Warum ist das so? Das GG hat den Kanzler in Abkehr von der Weimarer Reichsverfassung massiv gestärkt. Der Kanzler bedarf nun nicht mehr des Vertrauens des Parlaments (so aber noch Art. 54 WRV), er kann nur noch dadurch abgewählt werden, indem sich das Parlament auf einen Nachfolger einigt (Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG). Ist das Parlament zerstritten oder nicht handlungsfähig, führt der Kanzler die Regierungsgeschäfte weiter.
    Art. 63 GG und Art. 70 Abs. 3 S. 2 Verf TH führen diesen Gedanken fort: Um so einen Kanzler / Ministerpräsidenten zu wählen, bedarf es nur im ersten Wahlgang der absoluten Mehrheit der Parlamentarier. Später reicht die relative Mehrheit aus – im Grundgesetz kann der Bundespräsidenten einen schwachen Kanzler (ohne eigene parlamentarische Mehrheit) ernennen, in Thüringen wird dieser sogar ohne weiteres Ministerpräsident.
    Die Rechtslage ist vor diesem teleologischen Hintergrund eindeutig: Beide Verfassungen wollen die Regierungebildung erleichtern.
    Und das theoretische Schreckgespenst eines Landtagspräsidenten, der sich dem allen widersetzt und eine “Demokratiekrise” herbeizaubern will? Gibt es m.E. schlechterdings nicht. Eine gerichtliche Klärung der Wahl dürfte in überschaubarer Zeit erfolgen können. Und ohnehin ist es die Sache der Landtagsmehrheit in Thüringen, für eine effektive Geschäftsordnung zu sorgen. Wenigstens dafür dürfte auch nach der nächsten Landtagswahl eine Mehrheit der Parlamentarier zu gewinnen sein.

  5. Britta Wed 22 Nov 2023 at 17:51 - Reply

    Ich möchte die Diskussion in eine etwas andere Richtung lenken. Ausgehend davon, dass Björn Höcke als Gallionsfigur der AFD verbrieft verfassungsfeindliche Positionen vertritt und damit eine Gefahr für die Demokratie darstellt, wäre Artikel 18 eine Möglichkeit, dieser Partei zumindest symbolisch das Schwert des Rechtsstaats zu zeigen. Der Artikel besagt nämlich, dass diejenigen, die ihre Freiheitsrechte dazu benutzen die demokratische Grundordnung zu zerstören, das Recht auf politische Aktivität verlieren. Dazu bedarf es eines Antrags der Bundes-oder Landesregierung.

    • Franz Wagner Fri 24 Nov 2023 at 08:18 - Reply

      “wäre Art. 18 GG eine Möglichkeit, dieser Partei zumindest symbolisch das Schwert des Rechtsstaats zu zeigen”.

      Meinen Sie wirklich die “Partei AfD”, oder doch eher den “Grundrechsträger Björn Höcke”?

      Und warum “symbolisch”? Je nach Ergebnis zeigt sich das Schwert des Rechtsstaats doch entweder tatsächlich, oder gar nicht.

      Rein tatbestandlich erfordert Art. 18 GG nicht eine “Gefahr für die Demokratie” (dies dogmatisch unpräzise Prosa sollte man Medien und Politikern überlassen), sondern (i) einen Missbrauch, zu (ii) Kampf (!) gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung. Letzteres umfasst Rechtsstaatlichkeit, Demokratieprinzip und Menschenwürde. Alles das ist positiv durch das BVerfG festzusellen – die Wiedergabe des Meinungsteils von Tagespresse und online-Medien wird dafür nicht ausreichen.

      Höcke ist ein “brauner Zündler”. Kontrollierte Grenzüberschreitungen, ein “hat er das wirklich soi gesagt?” sind seine Masche. Unappetitlich, ja. Aber eine demokratischer Rechtsstaat muss und wird das aushalten.

      • Britta Sun 26 Nov 2023 at 17:40 - Reply

        Ja, ich meine Björn Höcke und ich kann nur sagen, dass ich hoffe, dass die Demokratie ihn aushält. Der Ausdruck “ein brauner Zündler” scheint mir verharmlosend. Das haben die Leute zur Zeit der Weimarer Republik auch schon mal gedacht.

  6. Klaus Thu 28 Dec 2023 at 15:54 - Reply

    Ich kann nur davor warnen, mithilfe von Verfassungsänderungen die AfD bekämpfen zu wollen. Eine solche Steilvorlage würde mit Sicherheit dieser Partei weiteren Zulauf bescheren.
    “Verfassungsänderungen” zur Ausschaltung politischer Gegner (hier die “Kommunisten”) waren schon unter den Nazis ein beliebtes Mittel.
    Solche “Vorbilder” sollten eigentlich schon rein gedanklich tabu sein.
    Helfen würde eher eine kritische Analyse eigener Politik, die, insbesondere in den letzten drei Jahren, nicht unbedingt den Volkswillen widerspiegelt.
    Diesbezüglich verweise ich auch auf die diversen Auslandseinsätze der Bundeswehr sowie die Politik gegenüber Russland.
    Wer das leugnet, wird künftig ein weiteres Anwachsen der Stimmenanteile radikaler Parteien in Kauf nehmen müssen.

  7. Philipp R. Sat 13 Jan 2024 at 21:17 - Reply

    Ich bin einigermaßen schockiert darüber, dass hier bei der Wahl des MInisterpräsidenten im dritten Wahlgang eine Uneindeutigkeit in der Verfassung konstruiert wird, die der Text schlicht nicht hergibt.

    Der Text ist aus mathematischer Sicht eindeutig: egal, auf wieviele Namen am Ende Stimmen entfallen, gewonnen hat die- oder derjenige, der die meisten Stimmen hat. Und diese Person hat dann auch gewonnen. Ja, auch wenn gerade Vollmond ist und es nur einen Vorschlag gab. Da muss man gar nicht auf die Intention der die Verfassung schreibenden spekulieren oder das Vereinsrecht zum Vergleich herziehen: das steht einfach da.

    Die anderen Probleme der Verfassung sind real und (noch) lösbar, aber durch die Vermengung mit einer widerlegten Einzelmeinung tun sich die Autoren dieses Artikels keinen Gefallen. Und die Behauptung, die Verfassung lasse (in jedem Fall) “offen, […] ob sich ein Kandidat ohne Mehrheit im Landtag an die Spitze einer Minderheitsregierung wählen lassen kann”, ist schlichtweg falsch. Das ist möglich. Steht da. Hier wird Glaubwürdigkeit zerstört, die dringend notwendig wäre.

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