11 November 2023

Antisemitismus – eine Gefahr

Über antisemitismus(un)kritische Prognosen im Versammlungsrecht

Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf die israelische Zivilbevölkerung haben auch die antisemitischen Vorfälle in Deutschland enorm zugenommen. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS) geht in seinem Monitoring-Bericht für den Zeitraum vom 07.10.23 bis zum 15.10.23 von einem Anstieg von 240 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum aus – eine akute Bedrohungslage für Jüdinnen:Juden in Deutschland (S. 5). Auch auf Versammlungen kam es dabei zu antisemitischen Äußerungen und Ausschreitungen im Zusammenhang mit dem Terrorangriff der Hamas (S. 14).

Im Rahmen des Beitrags wird aufgezeigt, dass unter hohen Voraussetzungen auch (drohende) antisemitische Handlungen und Äußerungen Einschränkungen von Versammlungen durch Auflagen, Auflösungen oder gar Verbote rechtfertigen können. Dabei wird die grundsätzliche Notwendigkeit einer antisemitismuskritischen Gefahrenprognose ins Zentrum gestellt. Aufmerksamkeit hat mehrfach der Vorgang in Frankfurt a. M. auf sich gezogen, der der näheren Betrachtung lohnt. Dort erfolgte für eine geplante Versammlung zunächst ein Verbot, das das VG Frankfurt im Eilrechtsschutz anschließend aufhob. Der VGH Kassel revidierte diese Entscheidung wiederum, sodass die besagte Demonstration letztlich rechtskräftig verboten wurde. Die Entscheidungen sind nicht allein aufgrund ihrer – in erster Instanz – negativen Wirkung auf Jüdinnen:Juden relevant, sondern auch für die Frage von antisemitismus(un)kritischen Gefahrenprognosen im Versammlungsrecht allgemein.

Versammlungsfreiheit, Gefahrenprognose und das Strafrecht oder: Antisemitismus als unmittelbare Gefahr

Die Versammlungsfreiheit ist – das braucht eigentlich nicht eigens betont zu werden – ein hohes Gut des freiheitlichen Verfassungsstaates (BVerfGE 69, 315 ff.). Sie ermöglicht, besonders aktuell, auch Kritik an der Politik der israelischen Regierung, Kritik an der Hamas, Streit über Menschenrechte, Rassismus und Antisemitismus, oder Solidarität mit der israelischen wie auch der palästinensischen Zivilbevölkerung. Gleichwohl schlagen pro-palästinensische Versammlungen auch immer wieder in anti-israelische, bisweilen antisemitische und terrorverharmlosende Tendenzen um. Dies kann strafrechtsrelevant sein und damit auch zu Maßnahmen gegen Versammlungen berechtigen.

Wie populistische, rassistische Rufe nach Ausbürgerungen, Ausweisungen etc. (dazu sachlich hier) ist auch der verallgemeinernde Appell nach Durchführung oder Verbot aller pro-palästinensischen Versammlungen unterkomplex. Dass sich pauschale Antworten verbieten und – wie so oft – die Umstände des Einzelfalls entscheidend sind, sollte dabei insbesondere Jurist:innen bekannt sein. Schnell abhaken lässt sich jedenfalls hier nichts so einfach. Maßgeblich ist der konkrete (Lebens-)Sachverhalt, auf Grundlage dessen die zentrale Gefahrenprognose zu erstellen ist.

Die Voraussetzungen für ein Versammlungsverbot sind zu Recht sehr hoch (grundlegend BVerfGE 69, 315 ff.). Der Schutz von friedlichen Versammlungen in geschlossenen Räumen oder unter freiem Himmel durch Art. 8 GG und die einfachrechtlichen Versammlungsgesetze (Bund und Länder) „gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens.“ (BVerfGE 69, 315). Ein Verbot einer Versammlung kann allenfalls zum Zwecke des Schutzes wichtiger Gemeinschaftsgüter erfolgen, wobei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz strikt anzuwenden ist. Nur als ultima ratio, wenn also keine gleich wirksamen, milderen Mittel vorliegen, kann im Falle einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit ein Verbot ausgesprochen werden (BVerfGE, 69, 315, 352 f.). Eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung ist – wenn das jeweilige Versammlungsgesetz diese überhaupt beinhaltet – in der Regel nicht ausreichend (BVerfGE, 69, 315, 352 f.; so nun auch die meisten Landesversammlungsgesetze).

Das Vorliegen einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestimmt die Behörde mittels der zentralen Gefahrenprognose zum Zeitpunkt des Verbotserlasses. Dabei muss die Behörde ein substantiiertes „Wahrscheinlichkeitsurteil“ treffen, konkrete sowie nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte vorbringen und nicht allein Vermutungen aufstellen (BVerfGE, 69, 315, 353 f.). Als Indizien können auch vorherige Versammlungen miteinbezogen werden im Hinblick auf Thema, Ort, Zeit sowie den Beteiligtenkreis (BVerfG, Beschluss vom 4. September 2009 – 1 BvR 2147/09, Rn. 13). Auch Gegenindizien sind jeweils zu prüfen (Ebd, Rn. 9).

Anzunehmen ist eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit jedenfalls bei wahrscheinlich drohenden Straftaten gegen zentrale Rechtsgüter, wie Leben, Menschenwürde, Gesundheit, Freiheit und Ehre des Einzelnen. Im Rahmen dieser sind auch die Rechte von in Deutschland lebenden Jüdinnen:Juden zu berücksichtigen, so etwa neben dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG) vor allem das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 1 I GG iVm. Art. 2 I GG, unter Umständen sogar die Menschenwürde nach Art. 1 I GG.1) Für den aktuellen Kontext der pro-palästinensischen Versammlungen sind die genannten Rechtsgüter durch die Straftatbestände der Volksverhetzung nach § 130 StGB, die Belohnung und Billigung von Straftaten nach § 140 StGB, die öffentliche Aufforderung zu Straftaten nach § 111 StGB und die Beleidigung nach § 185 StGB geschützt (siehe dazu bereits hier).

Das Strafrecht schützt also auch vor bestimmten (Artikulations-)Formen des Antisemitismus. Bei der strafrechtlichen Bewertung (antisemitischer) Äußerungen gilt es jedoch, das bestehende Spannungsverhältnis zwischen der Meinungsfreiheit des:der Äußernden nach Art. 5 I 1 Alt. 1 GG und dem strafrechtlichen Diskriminierungsschutz des:der Bezeichneten durch die zu schützenden Rechtsgüter der jeweiligen Norm zu beachten.2) Diese beiden sich gegenüberstehenden Positionen müssen im Rahmen der rechtlichen Würdigung der antisemitischen Äußerung durch Abwägung in ein Verhältnis gebracht werden. Dabei gilt es zu beachten, dass antisemitische Äußerungen nicht immer unter den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallen, nämlich dann nicht, wenn es sich nicht um eine Meinung, sondern um eine falsche Tatsachenbehauptung handelt. Fällt die antisemitische Äußerung unter den Schutzbereich der Meinungsfreiheit, muss diese mit dem durch die Äußerung betroffenen Rechtsgut abgewogen werden. Auch israelbezogener Antisemitismus (grundlegend dazu Bernstein, Holz/Haury) – wie er insbesondere aktuell im Kontext pro-palästinensischer Versammlungen vermehrt artikuliert wird – ist daher weder schlicht bedauernswert („bad, if true“) noch eine bloße Belästigung, die „Dritte im allgemeinen ertragen müssen“ (BVerfGE 69, 315, 353), sondern mitunter strafrechtsrelevant.

Nur ein paar Beispiele für mögliche strafrechtlich relevante Formen des (israelbezogenen) Antisemitismus: Die antisemitische Äußerung „From the river to the sea – Palestine will be free!”, die in der Konsequenz die Auslöschung des israelischen Staates fordert, kann im konkreten Einzelfall durchaus als Volksverhetzung gem. § 130 I Nr. 1 StGB in Form des Aufstachelns zu Hass eingeordnet werden. Maßgeblich ist hier die kontextualisierte Deutung der Äußerung, also die Ermittlung des objektiven Sinngehalts unter Berücksichtigung der Umstände – auch des verdeckten Inhalts. Wird die benannte Parole im Kontext des Angriffs der Hamas vom 07.10.2023 getätigt, kommt ggf. sogar eine Strafbarkeit wegen der Billigung von Straftaten nach § 140 Nr. 2 StGB in Betracht, denn dies legt nahe, dass die Parole als Aufruf zur Vernichtung der in Israel lebenden Jüdinnen:Juden verstanden werden soll. Darüber hinaus kommt bei Äußerung besagter Parole eine Strafbarkeit nach § 86a StGB wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger oder terroristischer Vereinigungen in Betracht, sieht man die Parole als Kennzeichen der Hamas (AG Mannheim, Urteil vom 17.01.2023; nun auch vom BMI als solches eingeordnet; dazu hier). Auch die Verwendung von Plakaten mit dem Slogan „One Holocaust does not justify another – free Palestine“ enthält die strafrechtlich relevante Gleichsetzung der Selbstverteidigung Israels mit dem Holocaust und kann zur Strafbarkeit wegen Volksverhetzung nach § 130 III StGB führen.3) Des Weiteren kann die Parole „Khaibar, Khaibar, ya yahud, jaish muhammad saya‘ud!“4) im Einzelfall den Straftatbestand der öffentlichen Aufforderung zur Begehung von Straftaten nach § 111 StGB erfüllen (in Betracht kommen hier §§ 6, 7 VStGB sowie § 211 StGB). Nicht zuletzt kommt es im Rahmen von Versammlungen – so auch jüngst – immer wieder zu strafrechtlich relevanten Beleidigungen5) durch die Verwendung von herabwürdigenden Äußerungen oder Chiffren wie beispielsweise „Judenpresse“ oder „Zionistenmedien“. All dies ist im Rahmen der Gefahrenprognose zu berücksichtigen.

Vom VG Frankfurt zum VGH Kassel

Wie dies misslingen kann, illustriert die bereits angesprochene Entscheidung des VG Frankfurt. Das Gericht hatte es in seiner Entscheidung vom 13.10.2023 mit einer Verbotsverfügung der Stadt Frankfurt a. M. vom 12.10.2023 zu tun, die die Versammlung zum Thema „Ein freies Palästina“ betraf. Diese war für den 14.10.2023 angesetzt und sollte als Kundgebung am Frankfurter Opernplatz mit anschließendem Demonstrationszug durch die Innenstadt stattfinden. Die Anmelderin hatte bereits am 7.10.2023, dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung, eine Spontanversammlung in Berlin zum wortgleichen Thema durchgeführt.

Das VG Frankfurt hob das Verbot der Versammlung auf und stellte dabei insbesondere auf die nicht „ausreichend konkrete und nachvollziehbare Tatsachengrundlage“ für die Gefahrenprognose ab (Rn. 33 ff.). Dabei hatte die Stadt Frankfurt vorgebracht, dass es zu Straftaten und Gewalt kommen würde und zog vergleichend die Versammlung am 7.10.2023 in Berlin heran. Durch die Anmeldung der Versammlung am 7.10. in Berlin durch dieselbe Antragstellerin sei ein ähnlicher Teilnehmendenkreis zu befürchten, etwa aus dem Umfeld der inzwischen verbotenen Gruppe Samidoun und weiteren Gruppen, die schon im Vorfeld als Mobilisierung zur Frankfurter Versammlung durch Verteidigung des Terrorangriffs der Hamas am 7.10. Terrorverharmlosung betrieben hätten. Außerdem wurden Äußerungen der Antragstellerin aufgeführt, die neben antisemitischen Äußerungen auch das Existenzrechts Israels verneinte und die Hamas nicht als Terrororganisation, sondern als legitimen palästinensischen Widerstand einordnete. Mildere Mittel seien letztlich auch nicht sinnvoll, da es der Versammlung gerade um die Verherrlichung von Straftaten gehe (Rn. 8 ff.).

Die sich auf diese Gefahrenprognose der Stadt beziehende Begründung des Gerichts ist aus mehreren Gründen problematisch, insbesondere im Hinblick auf die Einordnung des wahrscheinlichen Vorkommens (straf-)rechtsrelevanten Antisemitismus und aufgrund einer lebensfernen Beurteilung durch das Gericht. So wurde etwa der Bezug zur Berliner Versammlung als nicht überzeugend abgetan. Die Tatsachengrundlage im Verbotsurteil des VG Berlin sei „dichter strukturiert“ gewesen. Auch Aussagen der Antragstellerin, dass sie antisemitische Teilnehmer:innen ausschließen würde, keine Straftaten dulde und sich von Samidoun sowie von Gewalt als Mittel der Politik distanziere, wurden vom Gericht angeführt (Rn. 33 ff.). „[W]eshalb sie [die Antragstellerin] dann – anders als von ihr angeführt – Straftaten nicht verurteilen und diese nicht zu verhindern versuchen sollte, ist für das Gericht nicht ersichtlich.“ (Rn. 35).

Was dem VG Frankfurt „nicht ersichtlich“ war, zeigt es dann dadurch, dass es die versammlungsrechtlich legitime und hier sachlich zutreffende Berücksichtigung der Versammlung in Berlin schlicht abschneidet. Es verkennt dabei, dass die selbst dargelegte Tatsachengrundlage in Frankfurt ebenfalls ähnlich dicht strukturiert ist, wie dies beim VG Berlin der Fall war. Schließlich vollführt das VG Frankfurt schlicht eine antisemitismusunkritische, lebensferne und letztlich rechtlich falsche Einordnung der Gefahrenprognose. Erst kurz zuvor, also rund um den 7.10. getätigte Aussagen der Antragstellerin, wie „Palästina hat gezeigt, dass es sich selbst befreien kann, es hat sein Gefängnis gesprengt – jetzt ist unsere Aufgabe an der Seite unserer Geschwister zu stehen und ihren Kampf auf die Straße zu bringen.“ (Rn. 8) egalisiert das Gericht durch diesen Äußerungen grotesk widersprechende, rein strategische Erklärungen der Antragstellerin in ihrer Antragsbegründung.6) Konkrete Einordnungen zum Strafrecht wie eine Abwägung fehlen beim Geri