22 December 2023

Jede hat ihr Kreuz zu tragen

Zum bayerischen Kreuzerlass-Urteil des BVerwG vom 19.12.2023 - 10 C 5.22

Bayerische Behörden sind verpflichtet, „als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns gut sichtbar ein Kreuz“ in ihrem Eingangsbereich anzubringen. So sieht es § 28 AGO vor, den das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in seinem Urteil vom 19.12.2023 nach einer Klage unter anderem vom Bund für Geistesfreiheit (BfG) für rechtmäßig befunden hat. Bereits die Vorinstanz hatte die Bayerische Anordnung nicht durchkreuzt: Sie stellte zwar einen Verstoß gegen die objektiv-rechtliche Verpflichtung des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität fest, verneinte aber eine subjektive Rechtsposition der Kläger aus Art. 4 Abs. 1, 2 und Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. Das BVerwG weist nun die Klage auf Aufhebung von § 28 AGO mangels Außenwirkung der Norm als unzulässig zurück, da es sich um eine Verwaltungsvorschrift handelt. Soweit die Klage sich auf das Anbringen der Kreuze richtet, sei sie unbegründet. Eine Verletzung der Kläger*innen in ihren Rechten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG wird zutreffend verneint, weil die Kläger*innen als Weltanschauungsgemeinschaften kein Recht auf Konfrontationsschutz haben. In den weiteren Punkten weicht die Argumentation des Gerichts indes nicht nur geradezu provokativ von etablierten verfassungsrechtlichen Maßstäben ab, sondern verstrickt sich dabei auch in Wertungswidersprüche.

Keine religiöse Diskriminierung

Um einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG i.V.m. dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates zu verneinen, beruft sich das BVerwG in der bereits veröffentlichten Pressemitteilung zu dem Urteil auf eine vermeintlich bindende Tatsachenfeststellung der Vorinstanz. Eine Bevorzugung christlicher Glaubensgemeinschaften habe der VGH München „bindend in tatsächlicher Hinsicht gerade nicht festgestellt, sondern einen Werbeeffekt für diese durch die Anbringung der Kreuze verneint” (Pressemitteilung 96/202 vom 19.12.2023). Ob es sich bei den Ausführungen des VGH um Tatsachenfeststellungen i.S.v. § 137 Abs. 2 VwGO handelt, muss bereits bezweifelt werden. Das BVerwG prüft hier zudem – anders als die Vorinstanz – das Diskriminierungsverbot in Verbindung mit dem Neutralitätsgrundsatz. Während es zutreffend ist, dass der VGH einen Verstoß gegen das Verbot religiöser Diskriminierung verneint hat, hat er dennoch in derselben Entscheidung – in höchst wertungswidersprüchlicher Weise – einen Verstoß von § 28 AGO gegen das Neutralitätsgebot bejaht. Es erscheint daher geradezu paradox, dass das BVerwG sich nun darauf zurückzieht, der VGH habe eine Bevorzugung der christlich-religiösen Symbolik abgelehnt, wenn selbiger tatsächlich “eine sachlich nicht begründete Bevorzugung des christlichen Symbols” im Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Kruzifix angenommen hat.

Ist das Kreuz neutral?

Genauso wenig kann die Positionierung des BVerwG zum staatlichen Neutralitätsgebot überzeugen. Das Gericht geht davon aus, dass nach “Kontext und Zweck der Verwendung des Kreuzsymbols” keine Identifikation des Staates mit dem Kreuz vorliege. Hierzu beruft sich das Gericht in erster Linie auf den Wortlaut von § 28 AGO, der statt der religiösen Bedeutung des Kreuzes dessen kulturelle und geschichtliche Wirkmacht in den Mittelpunkt stellt. Die Norm soll nach Auffassung des Gerichts also keine Privilegierung einer Religion darstellen, weil sie sich so geriert, als würde sie sich mit Religion überhaupt nicht befassen.

Das Gericht erkennt an, dass das Kreuz für den objektiven Betrachter ein zentrales Symbol des christlichen Glaubens darstellt, hält dem Normgeber aber zugute, sich ausschließlich auf die kulturelle und geschichtliche Bedeutung des Symbols bezogen zu haben. Auf diesem Wege Geschichte und Kultur als Gegenbegriffe zur Religion zu verwenden, unterschlägt die engen und vielfältigen Verstrickungen zwischen Gesellschaft und Religion. Nicht nur im engeren Sinne kultische Handlungen und Symbole, sondern auch religiös geprägte gesellschaftliche Riten und Gebräuche können exkludierend wirken – ob sie subjektiv so gemeint sind oder nicht. Dem*der gemeinen Behördenbesucher*in wird überdies der Normtext von § 28 AGO nicht vertraut sein. Warum es also für die Bewertung der Frage, ob sich der Staat mit dem Kreuz identifiziert auf den subjektiven Willen des Normgebers und nicht etwa auf die objektive Wirkung dieses Symbols ankommen soll, bleibt unklar. So formuliert auch das BVerfG in seinem Kruzifix Urteil deutlich: „Die Ausstattung eines Gebäudes oder eines Raums mit einem Kreuz wird bis heute als gesteigertes Bekenntnis des Besitzers zum christlichen Glauben verstanden.” Auch wenn Mitarbeitende vorliegend nicht „unter dem Kreuz entscheiden”, so hat der Staat dennoch bereits den Anschein mangelnder Objektivität zu vermeiden, um das Vertrauen in die Amtsführung aufrechtzuerhalten. Nicht zuletzt benachteiligt ein Ansatz, der auf die kulturelle Dimension des Kreuzsymbols abstellt, zwangsläufig andere Glaubensrichtungen. Denn anderen Religionen wird eine entsprechende Aufwertung nicht zuteil. Die Folge ist ein Verstoß gegen das Verbot religiöser Diskriminierung aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG.

Keine Flucht in die Verwaltungsvorschrift

In keinster Weise thematisieren die Gerichte die Tatsache, dass die Regelung eines derart grundrechtssensiblen Bereichs in einer Verwaltungsvorschrift vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips und insbesondere der Wesentlichkeitstheorie höchst problematisch ist. Verwaltungsvorschriften können – im Gegensatz zu Rechtsverordnungen und Satzungen – nicht zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen herangezogen werden. Belastendes Handeln auf Grundlage von Verwaltungsvorschriften setzt voraus, dass außenwirksames Recht eine vollständige Grundrechtsschranke formuliert. Eine solche erhöhte Grundrechtssensibilität liegt hier vor. Denn selbst wenn im konkreten Fall eine Beeinträchtigung der Kläger*innen in ihrer negativen Religionsfreiheit zutreffend verneint wird, so stellt das Anbringen von Kreuzen im Eingangsbereich von Behörden doch einen Eingriff in die negative Religionsfreiheit von Behördenbesucher*innen aus Art. 4 Abs. 1 GG dar. Bei einem Behördengang wird jede*r durch die Positionierung des Kreuzes unvermeidbar mit dessen Anblick konfrontiert. Zwar wird der*die Besucher*in durch die Anbringung des Kreuzes im Eingangsbereich nicht zu einer längeren Betrachtung des Kreuzes gezwungen, aber gerade die Wahrnehmung eines objektiv religiösen Symbols zu Beginn eines Behördenganges kann für den weiteren Verlauf des Besuchs prägend sein. Insbesondere der Feststellung des VGH, es handele sich bei dem Kreuz um ein „im wesentlichen passives Symbol ohne missionierende oder indoktrinierende Wirkung”, ist zu widersprechen. Auch wenn es durch den Anblick der Kreuze wohl nicht zu spontanen Konvertierungen kommen wird, so erweckt ein prominent platziertes christliches Symbol den Eindruck, dass sich der Staat hinter die Werte und Überzeugungen dieser Religion stellt. Zudem bleibt offen, warum dem Kreuz nur eine passive Symbolwirkung zukommen soll. Eine aktive Wirkung christlicher Symbole wird wohl nicht erst bei einer bischöflichen Segnung der Behördenbesucher*innen anzunehmen sein.

Auch der Hinweis der Vorinstanz darauf, dass auch im Straßenbild Kreuzsymbole zu sehen seien, überzeugt nicht. Denn während Kreuzdarstellungen im öffentlichen Raum auf die freie Religionsausübung von Privatpersonen zurückzuführen und aus diesem Grund im Regelfall für Dritte als zumutbar zu erachten sind, werden die Kreuze im vorliegenden Fall von einer staatlichen Stelle angebracht.  In einer Behörde tritt der Staat dem*der Bürger*in zudem – anders als etwa in einer Schule – in klassisch-hoheitlicher Funktion gegenüber. Daher ist von einer erhöhten Beeinträchtigungswirkung durch das eindeutige Machtverhältnis auszugehen.

Aufgrund der nicht nur unerheblichen Beeinträchtigung von Grundrechten hätte die Verpflichtung zum Anbringen von Kreuzen in Behörden somit einer Rechtsverordnung oder eines Parlamentsgesetzes bedurft.

Fazit

Auch wenn sich die bayerische Regierung in einem christlich geprägten Kulturkreis verortet, so entbindet dies nicht von der Pflicht zur Wahrung des staatlichen Neutralitätsgebotes oder der Grundrechte. Schon aus rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten sollte dem Freistaat daran gelegen sein, bereits den Eindruck zu vermeiden, dass Bayerns Behörden ihre Amtsgeschäfte nicht neutral, sondern unter religiös geprägtem Einfluss walten.

Die Pflicht, Kreuze in Behörden anzubringen, kann nur schwerlich als lediglich kultureller Akt verstanden werden. So schrieb auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder kurz nach Bekanntwerden des Urteils bei X (vormals Twitter): „Wir begrüßen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Das #Kreuz ist ein Zeichen unserer christlichen und kulturellen Prägung. Es gehört zu #Bayern.” Wir machen jedenfalls drei Kreuze, wenn das Bundesverfassungsgericht Bayern diesbezüglich ins Gebet nimmt.


SUGGESTED CITATION  Jacobs, Christina; Middeler, Maike: Jede hat ihr Kreuz zu tragen: Zum bayerischen Kreuzerlass-Urteil des BVerwG vom 19.12.2023 - 10 C 5.22, VerfBlog, 2023/12/22, https://verfassungsblog.de/jede-hat-ihr-kreuz-zu-tragen/, DOI: 10.59704/90da38e83d1eb7e5.

3 Comments

  1. Julian B. Fri 29 Dec 2023 at 09:09 - Reply

    Danke für den sachlichen Artikel.
    Eine Farce bleibt es allemal. Entweder sind die Richter halt selbst (bewusst oder unbewusst) voreingenommen, oder sie dienen sich dem Ministerpräsidenten an.
    Hunderte von Arbeitsstunden für nichts, traurig.
    Dass Kreuze DAS Symbol christlichen Glaubens sind und daher nichts im Eingangsbereich von staatlichen Institutionen zu suchen haben, ist so simpel und einleuchtend, dass jeder Versuch es anders darzustellen einfach nur beschämend ist.

  2. Laubeiter Sat 30 Dec 2023 at 23:54 - Reply

    Ist es etwas, das Bayern gegenüber anderen Bundesländern auszeichnet, dieses Beharren auf einem christliches Symbol in durch Steuergelder finanzierten Diensträumen? Bei Bayerns Besonderheiten kann man nach diesem Urteil also denken an (a) diesen Sieg vor Gericht darin, Kreuze in den Räumlichkeiten von Behörden verpflichtend anbringen lassen zu können, als auch (b) an einen Sieg eines Mitglieds der Landesregierung darin, auch nach Bekanntwerden einer früheren aktiven Beteiligung an einem antisemitischen Flugblatt in der Landesregierung verbleiben zu können. Man könnte also sagen: Bayerns Regierung lässt Symbole einer Religion, die antisemitische Strömungen jahrhundertelang unterfüttern und vorangetrieben hat, in allen Diensträumen aufhängen, und Bayerns Regierung lässt einen Menschen, der sich mal dem Antisemitismus verschrieben, als Minister walten. Und wer die Kreuze lieber aus Behörden verbannt sehen möchte, ist in den Augen der Regierenden vermutlich jemand, der die Werte, in denen sich Bayern von andern Bundesländern angeblich unterscheidet, nicht teilt. What a mess!

  3. cornelia gliem Fri 5 Jan 2024 at 15:15 - Reply

    die Pflicht (!) ein Kreuz aufzuhängen – man fragt sich wirklich, ob Bayern die Aufklärung verschlafen hat….

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