04 April 2024

Die Verfassung der Sanktionspolitik

Nicht jede/r in der kleinen, aber gut ausgelasteten Welt der Sanktionsrechtler versteht so richtig warum, aber es hat sich gezeigt, dass es „Mariupol“ war, an dem sich jüngst in den Medien in Deutschland die Frage entzündet hat, ob die Sanktionspolitik der EU gegenüber Russland richtig und gut ist. Das Magazin MONITOR berichtet in einem Beitrag von heute, wie diverse deutsche Firmen legale, also nicht-sanktionierte Korridore in den Russland-Sanktionen nutzen, um so Regionen wie Mariupol (unter übrigens enormen sanktionsrechtlichen und völkerrechtlichen Risiken) mit wichtigen Baustoffen zu beliefern oder beliefern zu lassen. In den sozialen Medien und unter Politikern ist sehr schnell, nämlich noch vor der eigentlichen Ausstrahlung der MONITOR-Sendung am heutigen Donnerstag, breite Empörung darüber entstanden, dass hier offenbar eines der wichtigsten Kriegsziele Russlands im wahrsten Sinne des Wortes mit deutscher Hilfe zementiert wird.

Die massive Empörung über die Geschäfte ist nachvollziehbar, die allgemeine Verwunderung darüber, dass hier offenbar eine Sanktionslücke klafft, ist allerdings deshalb ein wenig überraschend, weil die EU seit immerhin schon über zwei Jahren eine Sanktionspolitik praktiziert, die ich andernorts mehrfach als „Flickenteppich“ bezeichnet habe. Der Boomer-Begriff, für den ich mich bei den Millennial-Leser/innen des Verfassungsblog entschuldigen möchte, bezieht sich auf den cringe-worthy, weil atemberaubend fragmentierten Zustand der Russland-Sanktionen der EU.

„Never get high on your own supply”

Es geht hier also gerade nicht um die leidige Frage der „Effektivität“ der Sanktionen. Unter dieser Frage leiden wir, die täglich im Sanktionsbereich arbeiten, deshalb, weil sie schon falsch gestellt ist, meist tendenziös ist und von einem fehlenden Verständnis von der Natur und vom Zweck der Sanktionen zeugt. Es geht hier vielmehr um die viel spannendere Frage, ob es Maßstäbe geben darf, geben sollte oder geben muss (ja, alle drei), die den Erlass von Sanktionen, also: die Sanktionspolitik, rechtlich zwingend leiten oder sogar bestimmen.

Die Diskussion hierüber wurde bisher ausgerechnet durch die Befürchtung einer Schwächung der Sanktionen und ihrer Ziele gebremst. Hier gilt die alte Regel von Biggie: „Never get high on your own supply“. Denn es sollte mittlerweile gerade denen, die die Ziele der Russland-Sanktionen mit Nachdruck weiterhin erreicht sehen wollen, klar sein, dass dort, wo gar keine Sanktionen bestehen, auch ihre Durchsetzung nicht erreichbar ist.

Oligarch ohne Sanktionen

Die Frage, die jetzt alle mit Blick auf den deutschen Zement in Mariupol stellen, ist: Warum ist das noch erlaubt? Die Antwort lautet: Die Frage ist falsch gestellt. Richtiger ist die Frage: Gibt es dafür, wer und was sanktioniert wird, Maßstäbe und einen festen Plan in der europäischen Sanktionspolitik gegen Russland? Die Antwort darauf lautet: Beides ist nicht erkennbar: Holz wurde ganz früh sanktioniert (Frühjahr 2022), Diamanten als extrem wichtige Einnahmequelle Russlands erst jetzt, Import von Stahl ist verboten, Export nicht, von dem bekannten Chaos bei Öl – und dem direkten Vergleich zwischen Gas (nein), Öl (ja und nein) und LNG (oh ja) – ganz zu schweigen. Die Beispiele ließen sich endlos verlängern. Auch für die „Oligarchen“. Dort wird es ganz finster. Denn wer wann und wer warum nicht und warum später sanktioniert wird, das kann niemand erklären, von Abramowitsch, der sehr lange nicht und dann nur in Teilen des Westens sanktioniert war, bis zu Potanin, der passenderweise beide Titel auf sich vereint: „Systemrelevanter Oligarch“ (MM) und „Oligarch ohne Sanktionen“ (FAZ).

Dabei könnte es so einfach sein. Sanktionsmaßnahmen gehören bei verfassungsrechtlicher Betrachtung zu den grundrechtsintensivsten Maßnahmen, die westliche Demokratien zur Verfügung haben, übertroffen in der Tiefe des Eingriffs nur noch vom finalen Rettungsschuss und grundrechtsintensiver sogar als der Strafvollzug. Grund: Das vollständige Fehlen der prozessualen Safeguards des Verfassungsstaates, vom rechtlichen Gehör bis hin zum Recht auf Rechtsbeistand. Das macht sie weder unanständig noch unrechtmäßig. Aber es macht, dass Sanktionen eine Stellung und Bedeutung im modernen Verfassungsstaat zukommen, die das Pathos von der „Verfassung der Sanktionspolitik“ rechtfertigen mag, was ich in Anlehnung an meinen (unfreiwilligen) Lehrer Günter Frankenberg1) für den Titel gewählt habe. Jedenfalls sollte Sanktionspolitik als eminent invasives Instrument der Gefahrenabwehr nicht ohne rechtstaatlich konturierte Struktur und verfassungsrechtlich verbindliche Grenzen auskommen dürfen.

Wir brauchen Sanktionspläne

Minimalanforderung hieraus ist, dass der Sanktionsgeber einen Sanktionsplan aufstellen sollte. Was das bedeutet? Es bedeutet drei einfache Schritte:

Erstens: Sanktionen sind vorübergehende Maßnahmen zur Abwehr, Einhegung oder (wo möglich) Heilung eines massiven Völkerrechtsverstoßes. Das Völkerrecht entfaltet ein Kontinuum der Schwere. Am äußersten Rand müssen Genozid, „ethnische Säuberungen“ und vergleichbare Menschheitsverbrechen liegen. In einem ersten Schritt bestimmt daher der Sanktionsgeber, wo auf diesem Spektrum der jeweilige Verstoß liegt. Das ist, neben Anderem, ein Gebot der Verhältnismäßigkeit.

Zweitens: In einem zweiten Schritt analysiert der Sanktionsgeber, welche Maßnahmen geeignet sind, den Völkerrechtsverstoß zu heilen oder mindestens einzuhegen. Hierzu bedient sich der Sanktionsgeber fachlicher Expertise, idealiter einer Expertenkommission aus Ökonomie- und Landes-Expert/innen, die sagen können, was zum Beispiel für eine bestimmte unmittelbare wie mittelbare Kriegswirtschaft besonders einträglich ist. Hierzu legt die Kommission eine Liste mit allen Güterbewegungen, Personen und Organisationen vor, die sanktioniert werden müssen, um das Ziel der Sanktionen zu erreichen.

Drittens: Wer dann wie stark sanktioniert wird, entscheidet in einem weiteren Schritt der Sanktionsgeber entsprechend des völkerrechtlichen Spektrums, in dem er/sie den Völkerrechtsverstoß sieht. Jetzt erfolgt der entscheidende Punkt: Der Sanktionsgeber legt vorab (!) fest, wer und was wie sanktioniert wird. Das mag graduell, es mag in Wellen, mag stoßweise erfolgen, aber es gibt einen Plan, wie und auf welcher Grundlage es geschehen muss.

Gerade die linksliberale Öffentlichkeit in diesem Land verkennt die Bedeutung eines solchen Sanktionsplans. Er liegt nämlich nicht zuletzt in einer diskursiven Öffnung der Sanktionspolitik. Aktuell ist sie – so sehr dies auch politisch alternativlos gewesen sein mag im Februar 2022 – das sehr volatil verwendete supranationale Instrument in der Hand einer von Ursula von der Leyen mal progressiv, mal konservativ geprägten Politik – aber ein gesellschaftlicher Diskurs darüber, wen und was und wann und wen nicht und warum eigentlich nicht wir als Gesellschaft sanktionieren wollen, findet praktisch nicht statt. Dabei kenne ich wenige gesamtgesellschaftliche Fragen, die so unmittelbar mit Menschenleben verknüpft sind wie diese. Ein munteres Drauflos-Sanktionieren ist auch insoweit unpassend und falsch. Für mich als „alten“ Linken liegt das auf der Hand. Und wer sich innerhalb der Linken nicht mit meinem verfassungsrechtlichen Vibrato anfreunden mag, sollte auf das bisherige Sanktions-Chaos wenigstens mit Groucho Marx blicken: „Whatever it is, I’m against it“.

References

References
1 G. Frankenberg, Die Verfassung der Republik. Autorität und Solidarität in der Zivilgesellschaft, Frankfurt/Main 1998 (zuerst Baden-Baden 1996).

SUGGESTED CITATION  Winkler, Viktor: Die Verfassung der Sanktionspolitik, VerfBlog, 2024/4/04, https://verfassungsblog.de/die-verfassung-der-sanktionspolitik/, DOI: 10.59704/ccd466122fc5b217.

3 Comments

  1. cornelia gliem Fri 5 Apr 2024 at 16:45 - Reply

    Da kann ich Ihnen nur zustimmen: hier bedarf es einer ansatzweisen Kodifizierung des Sanktioneneinsatzes. Was 2022 noch vertretbar war in seinem Chaos, ist es jetzt – 2 Jahre später – längst nicht mehr.

  2. Hans-Jochen Luhmann Sat 6 Apr 2024 at 07:40 - Reply

    Ein sehr kluger Artikel, endlich eine rechtspolitische Einordnung, nach der ich schon lange (vergeblich) Ausschau gehalten habe. “Grundrechtsintensiv” ist also die zentrale Vokabel, welche die Juristen mit dem Motiv der “Dezenz” wählen.
    Überrascht hat mich das Urteil, die aus Anlass des Ukraine-Krieges gewählten Sanktionen seien “nicht unrechtmäßig”. Die Begründung würde ich gerne lesen. Bei dem geschilderten Chaos liegt der Einwand der Unverhältnismäßigkeit doch auf der Hand.

    • Henning Blatt Tue 9 Apr 2024 at 18:44 - Reply

      Eine Aussage, die aus Anlass des Ukraine-Krieges gewählten Sanktionen seien nicht unrechtmäßig, wird vom Verfasser des Artikels nicht getätigt. Er schreibt lediglich – ganz allgemein und ohne spezifischen Bezug auf die Sanktionen anlässlich des Ukraine-Krieges -, dass das vollständige Fehlen der prozessualen Safeguards des Verfassungsstaates Sanktionen nicht unrechtmäßig machten. Das bedeutet natürlich nicht, dass Sanktionen nicht an anderen Rechtmäßigkeitsmängeln leiden können, so z.B. an fehlender Verhältnismäßigkeit.

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