Von Flüssen und Dieselabgasen
Rechte der Natur am LG Erfurt
Rechte der Natur sind eine derzeit viel diskutierte Reaktion auf die multiplen Umweltkrisen. Immer häufiger finden solche Rechte, seien es Rechte von Flüssen, Wäldern oder einzelnen Tieren, Eingang in konkrete Gerichtsverfahren. In den letzten Wochen fanden tausende Kilometer voneinander entfernt zwei derartige mündliche Verhandlungen statt. In Ecuador – dem bislang einzigen Land, das der Natur in seiner Verfassung eigene Rechte zuspricht – reichten Aktivist*innen öffentlichkeitswirksam eine Klage im Namen des unter Verschmutzung leidenden Machángara Fluss in Quito ein. In Deutschland verhandelte das Landgericht Erfurt, ob aus der EU-Grundrechtecharta abzuleitende Rechte der Natur in den Dieselabgasfällen eine Rolle spielen könnten. Zwischen diesen Fällen bestehen trotz ihrer offensichtlichen Unterschiede gewisse Verbindungslinien. Rechte der Natur – so zeigt sich – können zwar in äußerst verschiedenen Konstellationen zum Tragen kommen, sind jedoch stets in internationale Entwicklungen eingebunden.
Der Río Machángara
In Ecuador sprechen die Artikel 10 und 71-74 der Verfassung der Natur oder Pacha Mama Rechte zu (ausf. Gutmann). Hieraus folgt, dass unterschiedliche Ökosysteme und ihre Bestandteile Rechte haben und diese gerichtlich einfordern können. Zur Anerkennung der Natur mit Rechten gehört auch die Anerkennung unterschiedlicher Umgangsformen mit der Natur (vgl. dazu García Ruales).
In Ecuador hat sich die Rechtsprechung in den letzten Jahren stark ausdifferenziert und etwa eine Verletzung der Rechte eines Nebelwaldes (dazu hier und hier), zweier Frösche (Langnasenstummelkröte (Atelopus longirostris) und Confusing Rocket Frog (Etopoglossus confusus) (dazu García Ruales/Gutmann, S. 28 ff.)), der Äffin Estrellita (Lagothrix lagothricha) (dazu hier und hier), Flüssen wie Aquepi und Monjas gerügt, während in anderen Fällen Klagen der Natur erfolglos blieben (etwa hier).
Vor einigen Wochen war der Río Machángara an der Reihe, der – wie auf der Zeichnung zu sehen ist – eine Klage einreichte, über die am 15.6. mündlich verhandelt wurde. Der Machángara war selbst in Form eines Glases mit kontaminiertem Flusswasser anwesend und wurde von einer Komparsin, Umweltschützer*innen, Künstler*innen, sozialen Kollektiven, Anwälten und ehemaligen Verfassungsrichtern (hierzu Gutmann S. 28 f.) wie Ramiro Ávila Santamaría und Agustín Grijalva sowie Mitgliedern des Indigenen Pueblo Volkes Kitu Kara, die noch in Quito leben, begleitet. Geklagt wurde im Namen des Río Machángara und seiner Zuflüsse sowie der drei Millionen Einwohner*innen Quitos.
In Quito kennen die Einwohner*innen der letzten Generationen den Machángara nur als kranken, verschmutzten und leblosen Fluss. Zuletzt zeigte dies der Dokumentarfilm La vida de un río von Jorge Anhalzer, der die Verbindung und das Leben des Flusses sowie die verschiedenen Formen betonte, die er auf seiner Reise annehmen kann. Den Río Machángara zu schützen bedeutet, das Leben der Flüsse zu schützen, die er speist.
Der Río Machángara möchte also den Schritten der Frösche, der Äffin und der anderen Flüsse folgen und „wieder nach Minze riechen“, wie der Anwalt und ehemalige Verfassungsrichter Ramiro Ávila Santamaría im Verfahren den Dichter Jorge Carrera Andrade zitierte.
Ein Novum
Jedenfalls äußerlich weniger spektakulär ging es bei einer mündlichen Verhandlung des LG Erfurt am 6. Juni in einem der unzähligen Diesel-Abgasfälle zu.
Dabei handelte es sich vermutlich um das erste Mal, dass Rechte der Natur Gegenstand einer mündlichen Verhandlung vor einem deutschen Gericht waren. Zwar gab es in der Vergangenheit bereits erfolglose Versuche, Rechte der Natur aus dem bestehenden Recht abzuleiten. Im Jahre 1988 hatte das VG Hamburg einen gegen die Genehmigung von Abfallverklappung auf hoher See gerichteten Antrag der Robben der Nordsee zurückgewiesen (NVwZ 1988, 1058, dazu Schröter/Bosselmann, ZUR 2018, 195). 2021 nahm das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde männlicher Ferkel, die sich gegen ihre betäubungslose Kastration wehrten, nicht zur Entscheidung an (1 BvR 2612/19, dazu Mührel). Weder die Robben noch die Ferkel hatten jedoch ihren Day in Court bekommen. Während im Falle der Ferkel mangels einer Begründung über die Motive der Karlsruher Richter*innen nur gemutmaßt werden kann, erfolgte die Abweisung in Hamburg in wenigen apodiktischen Zeilen. Keine inhaltlichen Erkenntnisse über eine mögliche Existenz von Rechten der Natur in der deutschen Rechtsordnung ergeben sich auch aus einer etwas kuriosen (Gegenstand war eine Geldbuße wegen Wildpinkelns in die Ostsee) Entscheidung des AG Lübeck. Dieses hatte in einem obiter dictum ausgeführt: „Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee“ (Rn. 15). Zur Herleitung dieser Rechte und deren Auswirkung auf den konkreten Fall schweigt das Gericht jedoch.
Rechte der Natur in der Grundrechecharta?
Das LG Erfurt betritt also Neuland. Das Gericht hatte die Frage nach Rechten der Natur bereits in Vorlagebeschlüssen an den EuGH thematisiert und umfassend begründet (hier und hier). Das Gericht ist der Überzeugung, dass sich solche Rechte bereits de lege lata aus der EU-Grundrechtecharta herauslesen lassen, selbst wenn das Thema – wie der Richter zu Beginn der Verhandlung einräumte – möglicherweise „esoterisch“ klingen möge. Die Grundrechtecharta ist in den unionsrechtlich determinierten Dieselfällen anwendbar. Die von ihr gewährten Grundrechte seien – so das LG Erfurt – „ihrem Wesen nach auf die Natur und einzelne Ökosysteme – ökologische Personen – anwendbar“ (Rn. 21). Hierfür spreche neben der Dringlichkeit der ökologischen Krise auch Art. 37 GrCH, der ein hohes Umweltschutzniveau fordert (Rn. 21). Der Begriff der „Person“, wie ihn die Charta verwendet, könne auch ökologische Personen umfassen (Rn. 35 ff.). Eine solche Ansicht ist nach dem Wortlaut der Charta gut vertretbar (Fischer-Lescano ZUR 2018 205 (215)). Es handelt sich auch nicht um den ersten Fall, in dem Gerichte Rechte der Natur aus Verfassungsdokumenten herauslesen, welche diese jedenfalls nicht explizit vorsehen. So hatte etwa bereits im Jahr 2016 das kolumbianische Verfassungsgericht aus einer Gesamtschau des ökologischen Charakters der kolumbianischen Verfassung von 1991 eine subjektive Berechtigung für den Atrato Fluss abgeleitet. Vor kurzem begründete ein peruanisches Instanzgericht auf vergleichbare Weise Rechte für den Marañon Fluss (hierzu Lorber). Auf diese und andere Fälle, darunter das bereits erwähnte Los Cedros-Urteil sowie die Diskussionen über Rechte der Natur in der Literatur bezog sich das LG in der mündlichen Verhandlung, wie auch schon in den Vorlagebeschlüssen (ausf. Rn. 43). Besondere Betonung fand, dass mit der spanischen Salzwasserlagune Mar Menor kürzlich auch ein erstes europäisches Ökosystem mit Rechten ausgestattet wurde (hierzu Vicente Giménez/Salazar Ortuño; Soro Mateo/Álvarez; Fuchs; Mührel), das Konzept also in Europa Fuß fasse.
Objektive Wertordnung
Obwohl das LG Erfurt seine Überlegungen in eine globale Entwicklung (Übersicht bei Putzer et al.) einordnet, ist der Fall innerhalb des Trends zu Rechten der Natur außergewöhnlich. In den meisten Fällen werden hier die Rechte von einzelnen Ökosystemen wie Flüssen oder Wäldern, die von Umweltschädigungen betroffen sind, eingeklagt. In den Erfurter Gerichtssaal gelangen die Rechte der Natur demgegenüber durch die Hintertür. Das Gericht ist der Überzeugung, dass solche Rechte in den Diesel-Fällen schutzverstärkend zugunsten der geschädigten Autokäufer*innen wirksam werden können. Schließlich schädigt eine illegale Abschaltsoftware nicht nur die Käuferin, sondern auch die natürliche Umwelt. Deren Interessen sollen nun im Sinne eines private enforcement gegen die betreffenden Automobilkonzerne durchgesetzt werden. Rechte der Natur begründen demnach eine „objektive Wertordnung“ und strahlen in die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten aus. Solche Auswirkungen von Rechten der Natur auf privatrechtliche Beziehungen wurden – soweit ersichtlich – bislang weder von Gerichten noch von der Wissenschaft vertieft bearbeitet, obwohl etwa in Ecuador sogar eine unmittelbare Drittwirkung von verfassungsrechtlichen Grundrechten besteht, die sich auch auf die Rechte der Natur bezieht. Letztlich ist es aber konsequent, dass Rechte der Natur, insbesondere wenn sie wie im Falle des LG Erfurt durch die Übertragung bereits bestehender menschlicher Grundrechte auf die Natur begründet werden, auch die Dogmatik der menschlichen Grundrechte teilen, mithin auch Teil der grundrechtlichen objektiven Wertordnung werden.
Naturschutz durch Dieselfahrer*innen?
Im jüngst in Erfurt verhandelten Fall führt das private enforcement von Rechten der Natur im Rahmen privatrechtlicher Schadensersatzklagen allerdings zu einem zunächst merkwürdig anmutenden Ergebnis, auf das auch die Anwältin der Beklagten hinwies. Beim Streitgegenstand des konkreten Falls handelt es sich um ein hochmotorisiertes Fahrzeug der Oberklasse. Dass nun ausgerechnet die Käufer*innen sprithungriger Dieselfahrzeuge, für die Umweltschutzgesichtspunkte bei der Kaufentscheidung typischerweise eine nachgeordnete Rolle spielen, als Sachwalter*innen der Natur vor Gericht erscheinen, ist jedenfalls nicht frei von jeglicher Ambivalenz. Gleichzeitig folgt die Möglichkeit solcher Konstellationen konsequenterweise aus einer objektiven Funktion von Rechten der Natur. Diese entfaltet ihre Wirkung gerade ungeachtet hehrer Motive der jeweiligen Kläger*innen.
Im konkreten Fall ging es letztlich nur noch um die Höhe des Schadensersatzes. Nach dem Urteil des BGH vom 26.6.2023 steht geschädigten Dieselkäufer*innen, sofern keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung nach § 826 BGB, sondern lediglich eine fahrlässige Schädigung nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung vorliegt, im Rahmen des „kleinen Schadensersatzes“ ein Anspruch in Höhe von 5 bis 15% des Kaufpreises zu (Rn. 80). Ausdrücklich führt der BGH aus, dass diesem Anspruch auch eine Abschreckungsfunktion zukomme (Rn. 81). Bei der Bemessung des konkreten Schadensersatzes innerhalb des Fensters von 5 bis 15 % habe das Gericht „das Gewicht des der Haftung zugrundeliegenden konkreten Rechtsverstoßes für das unionsrechtliche Ziel der Einhaltung gewisser Emissionsgrenzwerte sowie den Grad des Verschuldens nach Maßgabe der Umstände des zu beurteilenden Einzelfalls zu bewerten, um so dem Gebot einer verhältnismäßigen Sanktionierung auch bezogen auf den zu würdigenden Einzelfall Rechnung zu tragen“ (Rn. 84). Dass sich das Gewicht des Rechtsverstoßes erhöht, wenn nicht nur die betreffende Käuferin, sondern auch die Natur in subjektiven Rechten verletzt wurde, scheint naheliegend.
Dass Rechte der Natur nun ausgerechnet in einem Diesel-Fall ihren Weg vor ein deutsches Gericht finden, ist noch aus einem weiteren Grund bemerkenswert. So wird hierzulande fast reflexhaft gegen jede Ausweitung des gerichtlichen Umweltschutzes – und somit auch gegen Rechte der Natur – das Argument einer drohenden Klageflut und daraus folgenden Überlastung der Gerichte ins Feld geführt. In Ecuador ist eine solche durch Rechte der Natur ausgelöste Klageflut bislang nicht zu verzeichnen (kritisch Koehn/Nassl). Demgegenüber haben gerade die deutschen Autohersteller durch ihre missbräuchlichen Praktiken eine Klageflut geradezu biblischen Ausmaßes ausgelöst, die das Gerichtssystem zwar erheblich belastet, jedoch nicht zum Zusammenbruch gebracht hat.
Schluss
Ob der Río Machángara Recht bekommt und wie sich die Rechtsprechung bezüglich der Rechte der Natur in Deutschland entwickelt, bleibt abzuwarten. Vielleicht wurde in einer unscheinbaren Verhandlung in einem Erfurter Dieselfall ein juristischer Samen gesetzt, der irgendwann Früchte tragen wird. Jedenfalls ist zu beobachten, dass die Debatte um Rechte der Natur, die nicht nur in der Wissenschaft (etwa hier oder hier), der Zivilgesellschaft (etwa hier oder hier) sondern auch in der Kunst (etwa hier oder hier) und journalistisch (etwa hier oder hier) intensiv geführt wird, nun auch in einem deutschen Gerichtssaal angekommen ist.
Ich muss zugeben, dass der hier vorgeschlagene Weg erheblich weniger fehlgeleitet als andere Ansätze ist, die, um einen
akademischen Lehrer von mir zu zitieren, von “dogmatischen Geisterfahrern” befahren werden. Ein parasitäres “Anheften”
von Umweltbelangen an bestehenden Rechtsbeziehungen wäre methodisch besser mit der Prinzipientheorie unterzubringen
(wobei hier aber Rechte betroffen sind, die selbst Prinzipientheoretiker nicht als Prinzipien sehen würden), statt
einfach mit der grundrechtlichen Wertordnung ein Brecheisen in Rechtsbeziehungen zu schlagen, die im Ansatz damit wenig
zu tun haben. Wie war das nochmal mit dem Fehlen von “punitive damages” im System des deutschen Schadensersatzrechts?
Der Ansatz ist dennoch, wie auch der altbackene und seit nunmehr beinahe 70 Jahren nicht überzeugender gewordene Ansatz
der “Werteordnung” selbst, auch in diesem Falle nicht besonders überzeugend, um irgendwelche Rechte aus dem Hut zu zaubern,
die man innerhalb des Grundgesetzes nicht findet. Ich bin überrascht, dass nicht noch in den Zaubertopf der
“Resubjektivierung” gegriffen wurde, um derartige Rechte zu begründen. Man kann schließlich das überaus überzeugende “warum sollte es nicht gehen?” Argument der Vertreter dieses Kunstgriffs auch auf 20a GG anwenden.
Warum kann man diese Vorschläge nicht einfach, was legitim ist, als rechtspolitische Anregungen verfassen? Es wäre ohne Weiteres möglich, eine “Rechtsperson Natur” mit entsprechenden Rechten und Vertretungsbefugnissen zu konstruieren. Als rechtsdogmatische
Ansätze sind sie, und ich entschuldige mich für die harte Ausdrucksweise, bestenfalls nicht mal im Ansatz brauchbar und schlechtestenfalls blamabel.
Vielen Dank für die Fallbesprechung und gute Wünsche zum weiteren Verlauf