Schmerzgriffe und Menschenrechte
Polizeiliche Schmerzgriffe bei einer Sitzblockade gegenüber sich absolut passiv verhaltenen Demonstrierenden verletzen deren Menschenrechte. Sie verstoßen nicht nur gegen das Verbot erniedrigender Behandlung aus Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), wie es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in ständiger Rechtsprechung versteht, sondern auch gegen die Menschenwürde, die zu achten und zu schützen nach Art. 1 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG) Aufgabe aller staatlichen Gewalt ist. Entgegen der teilweise von den Bundesländern vertretenen Position finden die Schmerzgriffe schon in den polizeirechtlichen Vorschriften über den unmittelbaren Zwang keine Rechtsgrundlage, denn die bei Sitzblockaden intendierte Wirkung, die Straße zu räumen, wird nur mittelbar und gerade nicht unmittelbar durch die Zufügung von Schmerzen erreicht.
Menschenrechtlicher Rahmen
Es gibt international anerkannte menschenrechtliche Standards zur Frage des Einsatzes von polizeilicher Gewalt im Kontext von Versammlungen. Der UN-Menschenrechtsausschuss betont im Zusammenhang mit der Versammlungsfreiheit nach Art. 21 IPbpR (Zivilpakt), dass Polizeibeamte, soweit Gewalt zu irgendeinem Zeitpunkt unbedingt erforderlich wird, verpflichtet sind, vorher gewaltfreie Mittel auszuschöpfen und eine Vorwarnung zu geben. Jegliche polizeiliche Gewaltanwendung muss den Grundprinzipien der Rechtmäßigkeit, Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit, Vorsorge und Nichtdiskriminierung entsprechen. Bereits im Jahr 1979 im UN-Verhaltenskodex für Beamte mit Polizeibefugnissen wurde der Ausnahmecharakter zulässiger polizeilicher Gewalt hervorgehoben und festgestellt, dass keinesfalls mehr Gewalt angewendet werden darf, als zur Auflösung einer Versammlung notwendig ist. Wenden Beamte Gewalt an, müssen sie nach den UN-Menschenrechtsgremien für jede erfolgte Gewaltanwendung auch zur Rechenschaft gezogen werden können.
Schmerzgriffe gegen Klimaaktivisten
Zahlreiche Videoaufnahmen von polizeilichen „Schmerzgriffen“ zur Auflösung von friedlichen Sitzblockaden aus mehreren Bundesländern (s. etwa hier und hier) haben eine Debatte über deren rechtliche Zulässigkeit ausgelöst (für eine ausführliche Analyse siehe Mooser). Mit Schmerzgriffen (auch Nervendrucktechniken genannt) sind im Folgenden die polizeilichen Techniken gemeint, bei denen durch starken Druck auf besonders schmerzempfindliche Stellen am Körper extreme Schmerzen hervorgerufen werden. Durch einen solchen Griff sollen der Person in der Sitzblockade unerträgliche Schmerzen zugefügt werden und nicht etwa eine reflexartige Bewegung ausgelöst oder das Wegtragen ermöglicht werden. Sie sind insofern von Hebetechniken und von für das Wegtragen notwendigen Tragegriffen zu unterscheiden. Die Demonstrierenden sollen durch Schmerzgriffe aus Angst vor weiterer Schmerzzufügung die vom Polizeibeamten erwünschte Handlung selber vornehmen. Nicht zufällig müssen Aktivisten, die Opfer von polizeilichen Schmerzgriffen geworden sind, häufig wegen Traumatisierungen anschließend psychisch behandelt werden.
Verstöße gegen das Verbot erniedrigender Behandlung
Dass durch derart willensbrechende Gewalt die menschenrechtliche Grenze zur erniedrigenden Behandlung regelmäßig überschritten wird, liegt auf der Hand. Denn bereits die bloße Androhung von Schmerzzufügung, um ein bestimmtes Verhalten des Betroffenen zu veranlassen, wurde von menschenrechtlichen Spruchkörpern als unzulässige erniedrigende Behandlung eingestuft. Und dies selbst dann, wenn die Polizei hierdurch ein Menschenleben retten wollte. In unserer Fallkonstellation geht es aber nur um die effektivere Räumung einer Straße. Das Verbot der erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ist in Art. 3 EMRK, Art. 7 IPbpR und in der UN-Antifolterkonvention verankert. Es ist zudem gewohnheitsrechtlich anerkannt und gilt als zwingendes Recht (ius cogens).
Der EGMR betont in ständiger Rechtsprechung, dass Artikel 3 EMRK die Anwendung von Gewalt unter bestimmten, genau definierten Umständen, wie z.B. zur Durchführung einer Festnahme, zwar nicht verbietet, die Gewaltanwendung aber in jedem Fall unverzichtbar und verhältnismäßig sein muss. Bei einer Person, die mit Ordnungskräften konfrontiert ist, beeinträchtigt jede Anwendung körperlicher Gewalt, die nicht durch das eigene Verhalten dieser Person unbedingt erforderlich wird, die Menschenwürde und stellt eine Verletzung des in Artikel 3 EMRK verankerten Rechts dar. Im Rahmen von friedlichen Sitzblockaden sind Schmerzgriffe, auch wenn sie zur Durchführung von legitimen polizeilichen Maßnahmen, wie die Räumung einer Straße, mittelbar dienen sollten, jedenfalls mit Blick auf mildere Mittel wie das Wegtragen nicht erforderlich und stellen mithin eine erniedrigende Behandlung im Sinne des Artikel 3 EMRK dar. Findet die Gewaltanwendung zudem in der Öffentlichkeit statt und berichten die Medien darüber, wird dadurch nicht nur der sogenannte „chilling effect“ mit Blick auf die Versammlungsfreiheit verstärkt, sondern die Umstände können auch als erschwerender Faktor im Rahmen des Verbots erniedrigender Behandlung berücksichtigt werden.
Rechtsgrundlage unmittelbarer Zwang umfasst keine Schmerzgriffe
Die Praxis der deutschen Bundesländer zu den polizeilichen Schmerzgriffen ist nicht einheitlich. So wendet die Polizei in einigen Bundesländern Schmerzgriffe als Form des unmittelbaren Zwangs an.1) In anderen Bundesländern sind Schmerzgriffe laut eigenen Angaben nicht zulässig.2) Inwieweit Schmerzgriffe Teil der Polizeiausbildung sind, und wie polizeiliche Einsatzgrundsätze zu Schmerzgriffen in den betroffenen Bundesländern gefasst sind, ist vollkommen intransparent. Polizeibehörden und Ministerien verweigern Auskünfte zu Schmerzgriffen oder verweisen pauschal auf das Recht der Polizei, „unmittelbaren Zwang“ ausüben zu dürfen. In der Praxis werden Schmerzgriffe fast ausschließlich in den hier problematisierten Fällen von friedlichen Sitzblockaden angewendet, d.h. gegenüber Demonstrierenden von denen überhaupt keine physische Gegenwehr zu erwarten ist. Gegenüber gewaltbereiten Personen dagegen sind Schmerzgriffe wohl weniger praxistauglich und werden dementsprechend nicht angewendet.
Bei Schmerzgriffen handelt es sich aber rechtlich nicht um „unmittelbaren Zwang“ im Sinne der Polizeigesetze der Länder. Denn das Ziel – die Räumung der Straße – wird anders als bei der Anwendung von Polizeigriffen zur Erwirkung eines Unterlassens (etwa bei Widerstand) oder einer Duldung (etwa bei einer Festnahme) gerade nicht unmittelbar durch die Schmerzzufügung erreicht (s. hier, hier und hier). Ungeachtet der somit fehlenden gesetzlichen Grundlage, sind Schmerzgriffe mit Blick auf mildere Mittel wie das Wegtragen von sich passiv verhaltenden Demonstrierenden auch immer bereits eine unverhältnismäßige und damit rechtswidrige Gewaltanwendung (s. hier). In den Niederlanden z.B. greifen Polizeikräfte bei Sitzblockaden zu Hilfsmitteln wie Rollbrettern, um das Wegtragen der Demonstrierenden zu effektivieren. Zwar fehlt es bislang an einer empirischen Untersuchung dieser Frage, aber der Einsatz von Schmerzgriffen als Mittel zu Räumung einer Sitzblockade, bei der sich die Demonstrierenden absolut passiv verhalten, ist aus dem EU-Ausland bislang nicht bekannt.
Verstoß gegen die Menschenwürde
Mit der Anwendung von Schmerzgriffen zur Einschüchterung von passiv auf dem Boden sitzenden Teilnehmern geht wegen der Objektivierung bzw. Instrumentalisierung der Betroffenen auch nach deutschem Recht ein Verstoß gegen die Menschenwürde einher. Das Grundgesetz schreibt vor, dass es Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Wendet der Staat aber gegen passive Versammlungsteilnehmer während oder nach ihrer freiheitlich-demokratischen Grundrechtsausübung Schmerzgriffe an, nur um sie einzuschüchtern, so lässt diese Behandlung mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts „die Achtung des Wertes vermissen, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt“. Solche Praktiken verändern auch das Selbstverständnis von Polizeikräften im Kontakt mit Bürgerinnen und Bürgern. Denn wenn friedlich Demonstrierende durch Zufügung extremer Schmerzen von der Polizei gefügig gemacht werden, verschiebt sich hierdurch das Verhältnis zwischen dem Staat und den in dieser Form erniedrigten Grundrechtsträgern auf fundamentale Weise. Von den verheerenden Auswirkungen solcher Praktiken auf eine lebendige demokratische Protest- und Streitkultur mal ganz abgesehen.
UN-Forderungen nach unabhängigen Beschwerdestellen in Deutschland
Die UN-Menschenrechtsorgane fordern nicht zufällig von Deutschland seit längerer Zeit die Einrichtung von unabhängigen Beschwerdestellen, die eigene Ermittlungen in Fällen polizeilicher Gewalt anstellen können. Diese Verfahren sollten öffentlich einsehbar und unter Beteiligung der Betroffenen stattfinden. Die Bundesländer haben bereits sog. Polizeibeauftragte ernannt, bei denen Beschwerden gegen Polizeigewalt erhoben werden können.3) Allerdings sind diese Institutionen rechtlich und personell noch nicht in der Lage, eigene von der sonst örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft getrennte Ermittlungsverfahren und Klageerhebungen durchzuführen. Nur wenn aber diese neuen Stellen mit eigenen strafprozessualen Kompetenzen und Ressourcen ausgestattet sind, entsteht eine gewisse Unabhängigkeit der Verfahren von den örtlich zuständigen Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften. Bislang enden ca. 98 % der von Betroffenen angestrengten Verfahren aus verschiedenen Gründen nämlich genau dort, d.h. mit den Einstellungsverfügungen der örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften (s. näher dazu hier). Diese sind bekanntlich auf die gute Kooperation mit den Polizeibeamten, gegen die sie in solchen Fällen Anklage erheben sollen, in der tagtäglichen staatsanwaltschaftlichen Praxis angewiesen. Die menschenrechtlich gebotene Übertragung von Ermittlungs- und Anklagebefugnissen auf eine unabhängige Behörde ist mit einer Durchbrechung des Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft verbunden. Jedoch existieren in Deutschland bereits Lockerungen, an die angeknüpft werden kann, z.B. im Steuerstrafrecht (ibid).
Drohender Vertrauensverlust
Das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei ist in Deutschland immer noch sehr hoch. Diesen guten Ruf auch als schützende Macht für Versammlungen haben sich die Polizeikräfte der Bundesländer über Jahrzehnte hart erarbeitet. Sie machen tagtäglich das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit durch ihren verdienstvollen Einsatz auf der Straße überhaupt erst möglich. Die hier problematisierte (rechtswidrige) Praxis der polizeilichen Schmerzgriffe gegenüber friedlich Demonstrierenden droht dieses erworbene Vertrauen nachhaltig zu erschüttern.
References
↑1 | Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Bremen, Sachsen-Anhalt, Hamburg, NRW; vgl. auch die nordrhein-westfälische Rspr., welche Schmerzgriffe als zulässiges Mittel erachtet aber wegen ihrer Schwere eine qualifizierte Androhung vor dem Einsatz fordert: OVG Lüneburg, NJW 2017, 1626. |
---|---|
↑2 | Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Bremen; siehe Mooser, Nervendrucktechniken im Polizeieinsatz. Unzulässiges Zwangsmittel und Verstoß gegen die Menschenrechte?, S. 23 f. |
↑3 | Bis auf Bayern und das Saarland haben alle Bundesländer Polizeibeauftragte oder entsprechende Beauftragte und Stellen. In acht Bundesländern sind die Stellen beim Landtag und in sechs in den Strukturen der Landesbehörden angesiedelt: Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestages, WD 3 – 3000 – 057/22. |