Auf Konfrontationskurs mit dem EuGH
Zur Unionsrechtswidrigkeit von Leistungsausschlüssen in Dublin-Verfahren
Mit dem am 31. Oktober 2024 in Kraft getretenen „Gesetz zur Verbesserung der inneren Sicherheit und des Asylsystems“ (BGBl 2024 I Nr. 332 – sog. Sicherheitspaket) wurde unter anderem beschlossen, Personen, die einen Dublin-Bescheid mit einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG erhalten haben, von Leistungen nach dem AsylbLG auszuschließen. Voraussetzung ist dabei nicht die Unanfechtbarkeit der Entscheidung, sondern lediglich die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) festzustellende rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Ausreise.
Neu lautet der für die im Folgenden behandelte Regelung relevante Teil von § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG:
„(4) 1 Leistungsberechtigte nach Absatz 1 Nummer 5,
- […]
- deren Asylantrag durch eine Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach § 29 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit § 31 Absatz 6 des Asylgesetzes als unzulässig abgelehnt wurde, für die eine Abschiebung nach § 34a Absatz 1 Satz 1 zweite Alternative des Asylgesetzes angeordnet wurde und für die nach der Feststellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist, auch wenn die Entscheidung noch nicht unanfechtbar ist,
haben keinen Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz.“
Die rechtlich fundierte und harsche Kritik in der Sachverständigenanhörung (insbesondere hier und hier) und in anderen Foren hat den Gesetzgeber nicht daran gehindert, diese evident unionrechtswidrige Regelung zu beschließen. Folge einer evident unionsrechtswidrigen Regelung, die individuelle Rechte beschränkt, ist die Verpflichtung der Behörden und Gerichte, eine solche Regelung unangewendet zu lassen. Aus diesem Grund soll es im Folgenden nicht um die (berechtigten) verfassungsrechtliche Einwände gehen, sondern aufgezeigt werden, dass es keine europarechtliche Grundlage für die Neuregelung gibt.
Vorgaben des EuGH
Der EuGH hat sich bisher in zwei Entscheidungen mit der Frage beschäftigt, welche Leistungen Asylsuchende in Dublin-Verfahren erhalten müssen. Im ersten Verfahren (CIMADE und GISTI) ging es im Kern um eine französische Regelung, die vorsah, dass ab der Einleitung eines Dublin-Verfahrens keine Leistungen nach der Aufnahmerichtlinie gezahlt werden sollten. Die beiden namensgebenden Organisationen, die im Asylbereich tätig sind, hatten gegen das entsprechende Rundschreiben einen Antrag auf Nichtigerklärung beim Conseil d’Etat gestellt. Letzterer legte dem EuGH diesbezüglich mehrere Vorlagefragen vor. In der Entscheidung stellt der EuGH klar, dass die Leistungen nach der Aufnahmerichtlinie nicht entfallen, so lange die Person sich noch als asylsuchende Person im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (also im Dublin-Raum) befindet. Der Gerichtshof führt zur Begründung aus, dass asylsuchende Personen „nicht nur im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben dürfen, in dem der Asylantrag geprüft wird, sondern auch im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem dieser Antrag gestellt wurde“ (Rn. 48). Dies gelte nicht nur für die Dauer des Konsultationsverfahrens mit dem anderen Mitgliedstaat, sondern auch nach einer nach nationalem Recht getroffenen Überstellungsentscheidung; namentlich ende „die Verpflichtung des Mitgliedstaats, der mit einem an seiner Grenze oder in seinem Hoheitsgebiet gestellten Asylantrag befasst ist, die in der [Aufnahmerichtlinie] vorgesehenen Mindestbedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern einem Asylbewerber zu gewähren […] erst mit der tatsächlichen Überstellung des Asylbewerbers durch den ersuchenden Mitgliedstaat“ (Rn. 58).
In der zweiten Entscheidung zu Aufnahmebedingungen in Dublin-Verfahren, einem irischen Fall (K.H. und andere), ging es um die Frage, ob Personen, die einen Asylantrag gestellt haben und sich noch im Dublin-Verfahren befinden, nach neun Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt werden muss, wie dies Art. 15 Abs. 1 Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU vorsieht. Die Besonderheit des Falles lag darin, das Irland nicht an die Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU (AsylVerfRL) gebunden ist und das vorlegende Gericht daher die Frage vorgelegt hatte, ob die AsylVerfRL – die in Art. 9 das Recht auf Verbleib während des Asylverfahrens enthält – auch für die Auslegung einer nationalen Regelung heranzuziehen ist, wenn die Richtlinie in dem betreffenden Mitgliedstaat gar nicht anwendbar ist. Der EuGH macht in der Entscheidung deutlich, dass Begriffe im Europarecht generell einheitlich auszulegen sind und daher Irland in diesem Kontext auch die Regelungen der AsylVerfRL bei der Auslegung der nationalen Vorschrift heranzuziehen hat. Das Recht zum Verbleib bis zur inhaltlichen Entscheidung, das sich aus der AsylVerfRL ergibt, ist also auch bei der Auslegung der Aufnahmerichtlinie zu beachten.
Ein Ausschluss von Personen, die ein Recht zum Verbleib haben, von Leistungen nach der Aufnahmerichtlinie kommt nicht in Betracht, wie der EuGH in beiden Entscheidungen festhält. Gleichzeitig stellt er klar, dass Art. 15 Abs. 1 der aktuellen Aufnahmerichtlinie (zukünftig Art. 17 Abs. 1 Aufnahmerichtlinie-Neu) „einer nationalen Regelung entgegensteht, die einen Antragsteller vom Zugang zum Arbeitsmarkt allein deshalb ausschließt, weil ihm gegenüber eine Überstellungsentscheidung nach der Dublin‑III-Verordnung ergangen ist“ (Rn. 73). Der EuGH macht also deutlich, dass nicht nur ein Ausschluss von den Leistungen nach der Aufnahmerichtlinie, sondern sogar ein Ausschluss vom Arbeitsmarktzugang, der als im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährter Vorteil anzusehen ist, als direkte Folge einer Dublin-Überstellungsentscheidung rechtswidrig ist.
In diesem Kontext hat sich das Bundessozialgericht bereits die Frage gestellt, ob die bisher in § 1a Abs. 7 AsylbLG vorgesehenen Anspruchseinschränkungen mit den europarechtlichen Vorgaben vereinbar sind und in diesem Kontext dem EuGH im Juli 2024 Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. In dieser Hinsicht ist die Neuregelung auch als ein unfreundlicher Akt gegenüber dem Bundessozialgericht anzusehen.
Festzuhalten ist, dass nach der aktuellen Rechtslage ein Ausschluss von den Leistungen nach dem AsylbLG für Personen nach einer Dublin-Entscheidung europarechtswidrig ist.
Keine vorgezogene Umsetzung der neuen Aufnahmerichtlinie
Rechtlich kann in der Regelung auch keine (vorgezogene) Umsetzung der neuen Aufnahmerichtlinie 2024/1346 gesehen werden, da der neue Art. 21 der Richtlinie ebenfalls keinen Leistungsausschluss erlaubt, sondern Asylsuchende lediglich auf Leistungen in dem Staat verweist, in dem sich die jeweilige Person „gemäß der Verordnung (EU) 2024/1351 aufzuhalten“ hat. Die detaillierten Regelungen zu den Aufenthaltsverpflichtungen nach Art. 17 der Verordnung (EU) 2024/1351 (sog. Asyl- und Migrationsmanagementverordnung – AMM-VO) gelten erst ab dem 1. Juli 2026 (vgl. Art. 85 Abs. 2 AMM-VO). Somit kann ein Leistungsausschluss aktuell nicht auf diese Regelungen gestützt werden, sondern es gilt weiterhin der einheitlich auszulegende Begriff des „Antragstellers“ nach den aktuell geltenden Rechtsakten namentlich der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU, der Dublin-Verordnung und der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU.
Jedenfalls solange die AMM-VO und die Asylverfahrensverordnung nicht gelten, ist ein Leistungsausschluss europarechtlich ausgeschlossen, da die betroffenen Personen als „Antragsteller“ mit einem Recht auf Leistungen nach der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU anzusehen sind.
Folgen für die behördliche Anwendung und gerichtliche Praxis
In der Praxis sind die Behörden und Gerichte in Deutschland europarechtlich verpflichtet, die Regelung unangewendet zu lassen, um die weitere effektive Geltung der unionsrechtlichen Vorgaben sicherzustellen. Der EuGH hat bereits seit langem klargestellt, dass ein zuständiges Gericht „für die volle Wirksamkeit“ der unionsrechtlichen Normen Sorge zu tragen hat und „erforderlichenfalls jede — auch spätere — entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet“ lassen muss und nicht „die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten“ muss oder darf (so der Tenor in EuGH Simmenthal II). Derselben Verpflichtung unterliegen rechtsanwendende Behörden. Da § 1a Abs. 7 AsylbLG mit der Neuregelung aufgehoben wurde, sind bei einem Verzicht auf den Leistungsausschluss – im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben – auch keine Leistungseinschränkungen mehr möglich, da dafür eine gesetzliche Grundlage fehlt. Dies ist eine für die effektive Durchsetzung und Wirksamkeit des Unionsrechts gute Nachricht, weil gegen die bisherige Regelung erhebliche unionsrechtliche Bedenken bestehen, wie auch die Vorlage aus Kassel an den EuGH deutlich macht.
Die Nichtanwendung der Neuregelung und eine schnelle Klärung durch den EuGH wären dementsprechend wünschenswert. Angesichts der klaren Unionsrechtswidrigkeit des § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG wäre die EU-Kommission gehalten, rasch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzuleiten, um Unklarheiten in der Praxis möglichst schnell aufzulösen. Aus politischer Sicht ist dagegen wahrscheinlicher, dass eine Klärung durch ein Vorabentscheidungsverfahren erfolgen muss.
Sollte eine Behörde – fälschlicherweise – zu dem Schluss kommen, die Regelung sei doch anzuwenden, ist für die Anwendung eine weitere Entscheidung des BSG aus dem Juli 2024 zu beachten, die die Bedeutung der Überstellungsfrist betont. Nach deren Ablauf geht die Zuständigkeit auf die Bundesrepublik Deutschland über und die Person darf – trotz Abschiebungsanordnung und Ausreisemöglichkeit – nicht mehr überstellt werden. Im Terminsbericht zum diesem Verfahren B 8 AY 7/23 R hat das BSG festgehalten: „Der Ablauf der Überstellungsfrist nach der Dublin-III-Verordnung lässt nach Sinn und Zweck der Regelung die Möglichkeit zur Einschränkung von Leistungen entfallen.“ Dies gilt natürlich (erst recht) für einen Leistungsausschluss. Ein möglicher Ausschluss von Leistungen nach dem AsylbLG kommt dementsprechend nicht mehr in Frage, wenn die Überstellungsfrist abgelaufen ist.
Im Falle einer unionsrechtswidrigen Anwendung der neu geschaffenen Ausschlussregelung ist zusätzlich noch zu beachten, dass der EuGH in CIMADE und GISTI in Rn. 56 festgehalten hat, dass „die allgemeine Systematik und der Zweck der Richtlinie 2003/9 wie auch die Wahrung der Grundrechte, insbesondere das Gebot nach Art. 1 der Charta, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, dem entgegen[stehen], dass einem Asylbewerber, und sei es auch nur vorübergehend nach Einreichung eines Asylantrags und vor seiner tatsächlichen Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat, der mit den in dieser Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird.“ Der Verweis auf Art. 1 GrCH gibt bereits Hinweise darauf, dass wohl auch ab der Geltung der AMM-VO ein Ausschluss von Leistungen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sein wird. Nicht umsonst weist Art. 21 der Richtlinie (EU) 2024/1346 (neue Aufnahmerichtlinie) darauf hin, dass der dort vorgesehene Ausschluss „unbeschadet der Notwendigkeit, einen Lebensstandard im Einklang mit dem Unionsrecht, einschließlich der Charta, und internationalen Verpflichtungen sicherzustellen“, gilt. Eine reine Beschränkung auf Überbrückungsleistungen und ein Ausschluss aus Unterkünften ist mit diesen klaren Vorgaben jedenfalls nicht vereinbar.
Da die unionsrechtlichen Vorgaben die Wahrung des Existenzminimums vorschreiben, sind die rechtsanwendenden Behörden und Gerichte gefordert, für eine grundrechtskonforme Umsetzung der Neuregelung dergestalt zu sorgen, dass das Existenzminimum in jedem Einzelfall gewahrt bleibt. Der Gesetzgeber hat diese Aufgabe jedenfalls durch seine unionsrechtswidrige Regelung nicht einfacher gemacht, da er (weiteres) Sonderrecht außerhalb bzw. unterhalb des Sonderrechts des AsylbLG geschaffen hat, dessen Umsetzung Recht und Praxis vor große Herausforderungen stellt. Umso wichtiger ist es, dass Behörden und Gerichte für die volle Wirksamkeit der unionsrechtlichen Vorgaben Sorge tragen und die unionsrechtswidrige Neuregelung unangewendet lassen.