Weder Rückschritt noch Frustration
Europa- und völkerrechtliche Grenzen einer Änderung des Lieferkettengesetzes
Während in den letzten Wochen die Vorschläge der EU-Kommission zur Reform der EU-Sorgfaltspflichtenrichtlinie (CSDDD) durch das sog. Omnibus-Paket vom 26.2.2025 die Debatten beherrschten (siehe hier und hier), könnte im Rahmen der anstehenden Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD auch das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) verändert werden. Friedrich Merz hatte das Gesetz vor der Wahl als „Bürokratiemonster“ bezeichnet und auch aus den Kreisen der alten Bundesregierung kam Kritik.
Sollte das erst seit gut zwei Jahren in Kraft befindliche Gesetz bereits nach so kurzer Zeit geändert werden, sind eine neue Bundesregierung und ein neuer Bundestag gehalten, die völker- und europarechtlichen Verpflichtungen Deutschlands zu beachten. Diese greifen bezüglich des Lieferkettengesetzes ineinander und verstärken sich wechselseitig.
Lieferkettengesetz als Ausdruck der menschenrechtlichen Schutzverantwortung
Das Lieferkettengesetz beruht auf den seit 2011 anerkannten Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte, die sich wiederum auf internationale Menschenrechtsübereinkommen zurückführen lassen. Diese verpflichten die Unterzeichnerstaaten nicht nur, die Menschenrechte zu respektieren und eigene Menschenrechtsverletzungen zu unterlassen, sondern auch, Individuen gegen menschenrechtliche Beeinträchtigungen durch Dritte zu schützen. Die staatliche Pflicht zum Schutz der Menschenrechte umfasst sowohl die Pflicht, wirtschaftliche Tätigkeiten, die zu einer Beeinträchtigung der Menschenrechte führen können, zu regulieren und entsprechende Regulierungen durchzusetzen, als auch die Pflicht, Zugang zu Rechtsschutz bei entsprechenden Beeinträchtigungen zu gewähren.
Die staatliche Schutzpflicht erfordert auch, dass Staaten Wirtschaftsaktivitäten, die sich negativ auf Menschenrechte außerhalb des eigenen Territoriums auswirken, reglementieren. In diesem Sinne hat der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSK-Ausschuss) in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 24 aus dem Jahre 2017 festgehalten, dass Unternehmen verpflichtet werden sollten, sicherzustellen, dass ihre ausländischen Niederlassungen oder Zulieferer die Menschenrechte achten. Menschenrechtliche Sorgfaltspflichtengesetze wie das LkSG und die CSDDD können daher als Ausdruck der extraterritorialen staatlichen Schutzpflicht zugunsten der Menschenrechte verstanden werden. Sie sind somit auch aus der Perspektive des internationalen Menschenrechtsschutzes zu interpretieren und auszulegen.
Fairer Wettbewerb im Binnenmarkt durch die EU-Sorgfaltspflichtenrichtlinie
Die Kompetenz zum Erlass der CSDDD beruht auf Art. 50 und 114 AEUV. Ihr Ziel ist insofern die Rechtsangleichung im Binnenmarkt. Das erscheint plausibel, denn unterschiedliche Regelungen und Rechtslagen in den Mitgliedstaaten können die Grundfreiheiten, insbesondere die Niederlassungsfreiheit, beeinträchtigen. In der Debatte wurde bereits darauf hingewiesen, dass damit ein zentraler Vorteil der CSDDD in der Begründung eines sog. Level-Playing-Fields liegt, das für alle Unternehmen auf dem Binnenmarkt gleiche Wettbewerbsbedingungen schafft. Die Wettbewerbsgleichheit erfasst dabei auch Unternehmen, die in der EU zwar keine Niederlassung haben, aber auf dem EU-Binnenmarkt Waren und Dienstleistungen anbieten. Auch ausländische Unternehmen, die innerhalb der EU tätig sind, unterliegen damit den Sorgfaltspflichten der CSDDD (sog. „Brussels Effect“). Unternehmen, die sich an höhere Menschenrechts- und Umweltstandards halten, werden somit nicht gegenüber ausländischen Konkurrenten benachteiligt, die niedrigeren Standards unterliegen. Gleichzeitig zielt die CSDDD auch auf die Umsetzung der VN-Leitprinzipien ab, wie sich aus Erwägungsgrund 5 ergibt.
Die Richtlinie ist am 26. Juli 2024 in Kraft getreten und muss – nach aktuellem Stand – bis zum 25. Juli 2026 von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden, wobei die Mitgliedstaaten gem. Art. 37 CSDDD eine nach Unternehmensgrößen gestaffelte Anwendung der Richtlinie vorsehen können. Im Rahmen des Omnibus-Pakets hat die Kommission nun vorgeschlagen, die Umsetzungsfrist und die erste Anwendungsfrist jeweils um ein Jahr zu verschieben, so dass die Mitgliedstaaten erst ab dem 26. Juli 2028 verpflichtet wären, die Anforderungen der CSDDD auf große Unternehmen anzuwenden. Eine Abschaffung der CSDDD wird aber nicht vorgeschlagen und ist daher auch nicht zu erwarten.
Menschenrechtliches Rückschrittsverbot
Die oben skizzierte menschenrechtliche Verortung des LkSG lenkt den Blick auch auf die Grundlagen der Verpflichtungen Deutschlands nach dem Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966, dem sog. UN-Sozialpakt. Dieser enthält in Artikel 2 Abs. 1 ein allgemeines Regressions- oder Rückschrittsverbot. Dieses gilt nicht absolut, verlangt aber, dass jede bewusste Absenkung eines einmal erreichten Schutzstandards wirtschaftlicher und sozialer Menschenrechte einem besonderen Rechtfertigungsmaßstab unterliegt. Bereits 1990 führte der WSK-Ausschuss in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 3 diesbezüglich aus:
„[A]ny deliberately retrogressive measures in that regard would require the most careful consideration and would need to be fully justified by reference to the totality of the rights provided for in the Covenant and in the context of the full use of the maximum available resources.”
Das Rückschrittsverbot gilt dabei nicht nur für den tatsächlichen Standard eines bestimmten sozialen Menschenrechts, sondern auch für gesetzliche Rahmenbedingungen zu dessen Schutz. Wie das Deutsche Institut für Menschenrechte, die unabhängige nationale Menschenrechtsinstitution der Bundesrepublik Deutschland, unlängst herausgearbeitet hat, betrachtet der WSK-Ausschuss dabei gesetzliche Änderungen in abstrakt-genereller Weise und unterzieht die von den Staaten angeführten Begründungen einer strengen Prüfung.
Da das LkSG der Verwirklichung der menschenrechtlichen Schutzpflicht Deutschlands in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen in den Lieferketten deutscher Unternehmen dient, hat es ein bestimmtes Schutzniveau geschaffen, hinter das nur mit besonderen Begründungen zurückgegangen werden kann. In der bereits erwähnten Allgemeinen Bemerkung Nr. 24 hat der WSK-Ausschuss deutlich gemacht, dass die einseitige Priorisierung von Unternehmensinteressen einen Rückschritt jedenfalls rechtfertigen kann:
„The obligation to respect economic, social and cultural rights is violated when States parties prioritize the interests of business entities over Covenant rights without adequate justification, or when they pursue policies that negatively affect such rights.“
Vor diesem Hintergrund wäre es nicht ausreichend, wenn eine neue Bundesregierung eine Änderung des LkSG ausschließlich mit einer Vereinfachung des bürokratischen Aufwandes für Unternehmen begründen würde. Vielmehr müsste sie ausführlich darstellen, warum eine geplante Änderung Vorteile mit sich bringt, die gegenüber dem Absenken des menschenrechtlichen Schutzstandards überwiegen. Es käme dabei auch nicht darauf an, ob sich das bestehende Schutzniveau tatsächlich ändern würde. Die Bundesregierung könnte also nicht argumentieren, dass sich das LkSG in der Praxis noch gar nicht auf den Schutz der Menschenrechte ausgewirkt habe. Vielmehr würde das Niveau des Menschenrechtsschutzes in den Lieferketten im status quo ante mit der Gesetzesänderung verglichen.
Vor diesem Hintergrund wäre eine vorübergehend ausgesetzte Anwendung des LkSG insgesamt oder gar seine generelle Abschaffung mit einer entsprechenden Reduktion verbunden. Das Deutsche Institut für Menschenrechte kommt zutreffend zu dem Schluss, dass eine Aussetzung des LkSG „höchstwahrscheinlich gegen das Rückschrittsverbot des UN-Sozialpaktes verstoßen und die Interessen von Unternehmen ohne ausreichende Begründung über die von Rechtsinhabenden stellen“ würde. Ebenso erschiene eine Erhöhung der Schwellen für den Anwendungsbereich problematisch. Dagegen dürfte es keinen relevanten Rückschritt des Schutzniveaus darstellen, den Stichtag zur Berichtsprüfung nach dem LkSG, die das Bundesamt für Ausfuhrkontrolle und Wirtschaft im letzten Jahr ankündigte, bloß zu verschieben.
Die vorstehenden Überlegungen sind nicht nur theoretischer Natur: Sie könnten praktisch relevant werden, wenn betroffene Rechtsinhabende gegen eine Änderung des LkSG Individualbeschwerde zum WSK-Ausschuss erheben. Mit dem Beitritt Deutschlands zum Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt im Jahre 2023 können derartige Beschwerden auch gegen Deutschland erhoben werden. Sie erfordern allerdings, dass der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft ist. Da gegen Gesetze in Deutschland kein ordentlicher Rechtsbehelf existiert, käme diesbezüglich allenfalls die Rechtssatzverfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht in Betracht. Es ist denkbar, dass im Anschluss an eine erfolglose Verfassungsbeschwerde Personen, die deutlich machen können, dass Zulieferer deutscher Unternehmen ihre sozialen Rechte (z.B. das Recht auf gesunde Arbeitsbedingungen) beeinträchtigen können, eine Individualbeschwerde erheben und einen Verstoß gegen das Rückschrittsverbot rügen. Unterstellt man, dass eine entsprechende Verfassungsbeschwerde von vorneherein mangels unmittelbarer Betroffenheit unzulässig wäre, könnte sogar sofort eine Individualbeschwerde erhoben werden.
Europarechtliches Frustrationsverbot
Deutschland ist europarechtlich zur Umsetzung der CSDDD nach Art. 288 AEUV verpflichtet. Die unionsrechtliche Umsetzungspflicht begründet bekanntermaßen auch das Verbot, Maßnahmen zu ergreifen, welche das Ziel der Richtlinie bzw. ihre ordnungsgemäße Umsetzung ernsthaft beeinträchtigen oder unmöglich machen könnten. Dieses sog. Frustrationsverbot verlangt, dass die Mitgliedstaaten alles unterlassen, was eine rechtzeitige Umsetzung der Richtlinie in einem erheblichen Maße gefährdet.
Für das LkSG bedeutet dies Folgendes: Da sich Unternehmen bereits jetzt auf gesetzliche Sorgfaltspflichten eingestellt haben, wäre zu prüfen, ob sie bei einer zeitweiligen oder vollständigen Abschaffung des Gesetzes die entsprechenden Aktivitäten wieder einstellen würden und sie nicht mehr rechtzeitig zur Umsetzung der CSDDD wieder aufnehmen könnten. Angesichts der umfangreichen Umstellungsprozesse und der bereits aufgebauten und dann wieder abzubauenden Expertise in den Unternehmen, kann das jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Wenn dies für den deutschen Gesetzgeber absehbar ist, würde eine entsprechende Regelung gegen das europarechtliche Frustrationsverbot verstoßen. Jedenfalls müsste bei einer Gesetzesänderung genau dargelegt werden, warum nicht damit zu rechnen ist, dass dieser Effekt eintritt. Entscheidend ist insofern, dass das Omnibus-Paket nicht auf die Abschaffung der CSDDD abzielt, sondern diese „nur“ verändern will. Da die CSDDD in Kraft bleiben wird, bestehen auch ihre europarechtlichen Wirkungen weiter.
Fazit
Das menschenrechtliche Rückschrittsverbot und das europarechtliche Frustrationsverbot wirken in die gleiche Richtung: Eine vorübergehende Aussetzung oder gar vollständige Abschaffung des LkSG wäre kaum mit den internationalen Verpflichtungen Deutschlands vereinbar. Auch erhebliche Absenkungen der unternehmerischen Sorgfaltspflichten und damit des menschenrechtlichen Schutzstandards dürften nur unter engen Voraussetzungen zu rechtfertigen sein und erfordern einen erhöhten Begründungsaufwand.
In einer Zeit, in der die Einhaltung internationaler Verpflichtungen zunehmend in Frage gestellt und zur Disposition (tages)politischer Erwägungen wird, sollte eine zukünftige Bundesregierung internationale Verpflichtungen als Schranken staatlicher Politik ernst nehmen.