Abschied von der Personenwahl (Fortsetzung)
Der überarbeitete Entwurf der Ampelkoalition zur Wahlrechtsreform
Im Januar legte die Ampelkoalition ihren Entwurf für eine Wahlrechtsreform vor, der das Bundeswahlrecht auf seinen Grundcharakter – die Verhältniswahl – zurückführen sollte. Heute wurde eine überarbeitete Fassung des Entwurfs vorgestellt, die schon am Freitag vom Bundestag beschlossen werden soll. Die Stoßrichtung bleibt gleich: Durch den Abschied von der Personenwahl in den Wahlkreisen werden Überhang- und Ausgleichsmandate entbehrlich und so ein weiteres Anwachsen des Bundestages ausgeschlossen. Die Änderungen reagieren auf Kritik am Ausgangsentwurf, haben es aber ihrerseits in sich.
Zum besseren Verständnis sei vorab notiert, dass der überarbeitete Entwurf die traditionelle Benennung der Stimmen als „Erst-“ und „Zweitstimme“ beibehalten will, obwohl der Ausgangsentwurf mit „Haupt-“ und „Wahlkreisstimme“ deutlich präzisere Bezeichnungen gewählt hatte. Die systementscheidende Regelung der Reform heißt deshalb nicht mehr „Verfahren der Hauptstimmendeckung“, sondern „Verfahren der Zweitstimmendeckung“.
Abschaffung der Grundmandatsklausel
Der Ausgangsentwurf beruhte auf der Prämisse, dass Wahlkreissiege angesichts immer geringer werdender Stimmenanteile der Sieger:innen nur von geringer Aussagekraft für die demokratische Repräsentation sind. Dass die Koalition dennoch an der Grundmandatsklausel als Ausnahme von der Fünf-Prozent-Hürde festhalten wollte, war daher inkonsequent: „Wer die Personenwahl verabschieden will, kann im relativen Wahlkreiserfolg schwerlich eine Legitimation für die Berücksichtigung von Parteien bei der Proporzverteilung sehen, die aufgrund ihres schlechten Abschneidens in der Hauptstimme [jetzt wieder Zweitstimme] eigentlich nicht an der Mandatsverteilung teilnehmen“ (Michl/Mittrop; die meisten Sachverständigen sahen das bei der öffentlichen Anhörung ähnlich). Der überarbeitete Entwurf beseitigt diese Inkonsequenz, indem er die Grundmandatsklausel kurzerhand aus dem Wahlgesetz streicht: An der Mandatsverteilung sollen künftig nur noch Parteien teilnehmen, die mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erhalten haben oder eine nationale Minderheit vertreten.
Die Beibehaltung der Grundmandatsklausel hätte sich unter dem Gesichtspunkt der Folgerichtigkeit zur Achillesferse der Reform entwickeln können. Diese Gefahr ist nun gebannt. Doch mit der Abschaffung der Klausel setzt sich der Entwurf neuer Kritik aus. Denn sowohl die Linke als auch die CSU erzielten zuletzt Zweitstimmenergebnisse um die fünf Prozent und könnten daher in einem künftigen Bundestag nicht mehr vertreten sein. Bei der Linken erscheint das – angesichts ihres gegenwärtigen Zustands – wahrscheinlicher. Doch auch die Christsozialen sind ernstlich bedroht. Ihre relative Stärke in den Wahlkreisen würde ihnen nicht nützen: Denn eine Partei, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, erhält nach dem Entwurf überhaupt keine Mandate, auch keine Wahlkreismandate. Das entspricht im Ergebnis der Sperrklausel bei der Wahl zum Bayerischen Landtag, die vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof wiederholt für verfassungskonform befunden wurde.
In Bayern hat die Fünf-Prozent-Hürde Verfassungsrang (Art. 14 Abs. 4 BV), im Bund muss sie sich hingegen als Beeinträchtigung der Wahlrechts- und Chancengleichheit rechtfertigen lassen. Mit dem Verweis auf die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung ist dies bislang stets gelungen. Nicht einmal nach der Bundestagswahl 2013, als 15,7 Prozent der Stimmen unberücksichtigt blieben – FDP und AfD lagen jeweils knapp unter 5 Prozent –, nahm das Bundesverfassungsgericht an der Sperrklausel Anstoß. Es betonte vielmehr, dass die Hürde sich grundsätzlich unabhängig davon rechtfertige, wie viele Stimmen bzw. welcher Stimmenanteil insgesamt auf die nicht im Parlament vertretenen Parteien entfallen sei. Ob das Gericht daran festhalten wird, wenn die Effekte der Fünf-Prozent-Hürde künftig nicht durch die (nicht mehr haltbare) Grundmandatsklausel abgefedert werden, bleibt abzuwarten. Den Ausschlag dürfte das Ergebnis der Bundestagswahl 2025 geben, das sich derzeit nicht seriös prognostizieren lässt.
Wahlkreise ohne Personenwahl
Kritiker:innen der Reformpläne sehen einen Widerspruch darin, dass trotz der Rückführung des Wahlsystems auf den „Grundcharakter“ der Verhältniswahl in den hergebrachten 299 Wahlkreisen Erststimmen auf Wahlkreisbewerber:innen vergeben werden. Für sie bleibt diese Stimmenvergabe im Wahlkreis eine Personenwahl, deren Konsequenzen der Gesetzentwurf nicht ernst nimmt: Wenn jemand mit der relativen Mehrheit der Erststimmen einen Wahlkreis „gewonnen“ hat, müsse er auch ein Mandat erhalten. Schließlich sei er durch die Direktwahl besonders demokratisch legitimiert. Eben darauf stützte die CSU ihre Polemik von der „organisierten Wahlfälschung“ (FAZ), die der CDU-Generalsekretär – in abgeschwächter Form – gegen den überarbeiteten Entwurf vorbringt: Es handle sich um ein „Wahlrecht zulasten der Wahlkreisgewinner“ (SZ).
Doch eine besondere demokratische Legitimation der Wahlkreisgewinner:innen, die schon im bisherigen Wahlsystem zweifelhaft war, ist jedenfalls im neuen System nicht mehr zu begründen. Eine Wahlkreisbewerberin ist nach dem überarbeiteten Entwurf nur dann als Abgeordnete gewählt, wenn sie die meisten Erststimmen auf sich vereinigt und im Verfahren der Zweitstimmendeckung einen Sitz erhält, wenn also der aufgrund der Zweistimmen ermittelte Mandatsanteil der Partei ausreicht, um ihr Mandat zu legitimieren. Das ist konsequent, denn in einem reinen Verhältniswahlsystem kann sich Legitimation von vornherein nur aus dem (Zweit-)Stimmenverhältnis ergeben. Der von uns im Januar beobachtete Abschied von der Personenwahl wird in der Begründung des überarbeiteten Entwurfs explizit gemacht: „[D]ie Wahl in den Wahlkreisen dient der vorrangigen Besetzung der von den Parteien nach ihrem Zweitstimmenergebnis errungenen Sitze und nicht wie bisher der Personenwahl.“
Die Kritiker:innen, die unbeirrt am Personenwahlnarrativ festhalten, übersehen, dass die Wahlkreise auch ohne Personenwahl einen Sinn haben können, indem sie die Kandidatenaufstellung regionalisieren, die innerparteiliche Demokratie stärken und den Wahlkampf – im Idealfall mit Mobilisierungseffekt – personalisieren (vgl. Michl/Mittrop; Wischmeyer). Regionalisierung und Personalisierung durch eine Vorauswahl in den Wahlkreisen („vorrangige Besetzung“) ist auch ohne die Zuweisung eines legitimatorischen Vorsprungs möglich und sinnvoll. Dass es daneben andere Möglichkeiten der Personalisierung gibt (z. B. offene Listen), ist unbestritten. Wer es aber ernst meint mit der (System-)Gestaltungsfreiheit des Wahlrechtsgesetzgebers, darf ihn weder auf das bestehende System verpflichten noch andere Gestaltungsmöglichkeiten als verfassungsrechtlich zwingend ausgeben.
Gewiss ist die Regionalisierungs- und Personalisierungstechnik des Ampelentwurfs nicht ohne Makel. Vor allem die „unbesetzten“ Wahlkreise sind eine unerfreuliche Folge des Verfahrens der Zweitstimmendeckung. Der überarbeitete Entwurf versucht dieses Phänomen einzudämmen, indem er die Gesamtzahl der Mandate von 598 auf 630 erhöht. Wenn bei gleichbleibender Wahlkreiszahl mehr Mandate in die Verteilung gegeben werden, sinkt auch das Risiko ungedeckter Wahlkreismandate. Das dürfte vor allem die Kritiker:innen aus der SPD besänftigen, die in manchen Regionen Norddeutschlands ebenfalls von der Nichtzuteilung betroffen sein könnte. Völlig ausschließen lässt sich die Nichtzuteilung jedoch nicht. Am Ende bleibt der Entwurf daher, was eine wirklich demokratische Entscheidung stets ist: ein Kompromiss, der ohne gewisse Einbußen an legalistischer Ästhetik und Systemgerechtigkeit nicht zu haben ist.
Echte und falsche Einzelkandidaturen
Weil das Bundesverfassungsgericht es verbietet, das Wahlvorschlagsrecht auf die politischen Parteien zu beschränken, hält der Entwurf an der Einzelkandidatur in den Wahlkreisen fest. Sollte ein Einzelbewerber – was seit 1953 nicht mehr vorgekommen ist – die Mehrheit der Stimmen im Wahlkreis erringen, zöge er in den Bundestag ein. Nur in diesem (unwahrscheinlichen) Fall ist die Abstimmung im Wahlkreis eine echte Personenwahl.
Bereits nach Bekanntwerden des Ausgangsentwurfs wurde die Möglichkeit diskutiert, dass Parteibewerber:innen als verkappte Einzelbewerber:innen auftreten, um sich dem Verfahren der Zweitstimmendeckung zu entziehen. Der überarbeitete Entwurf reagiert auf diese Gefahr etwas halbherzig, indem er die Platzierung auf der Landesliste einer Partei für inkompatibel mit einer Einzelkandidatur im Wahlkreis erklärt. „Falsche“ Einzelkandidaturen bleiben damit immer noch möglich, werden aber für die Kandidat:innen tendenziell unattraktiv, weil sie nicht durch die Liste „abgesichert“ sind. Wenn – wie bei der CSU – die Liste aber ohnehin nicht „zieht“, ist dieser Negativanreiz freilich gering. Dass die CSU jedoch überhaupt keine Liste einreicht und ihre Kandidat:innen als falsche Einzelbewerber:innen ins Rennen schickt, erschien den Entwurfsverfassern wohl politisch so unwahrscheinlich, dass sie für diesen Fall keine Vorsorge getroffen haben. Das Risiko der Zurückweisung solcher Vorschläge als rechtsmissbräuchlich (Wolf, in: Schreiber, BWahlG, § 20 Rn. 18) dürfte – neben dem Imageschaden, den eine solche Trickserei zeitigen könnte – zur Abschreckung genügen.
Zuschnitt der Wahlkreise
Etwas überraschend ist schließlich eine Änderung im Bereich der Wahlkreiseinteilung, mit der der überarbeitete Entwurf Empfehlungen der Venedig-Kommission von 2002 (!) umsetzen will. Bislang gilt, dass die Bevölkerungszahl der Wahlkreise nicht um mehr als 15 % nach oben oder unten voneinander abweichen soll. Bei einer Abweichung von mehr als 25 % ist eine Neuabgrenzung verpflichtend. Diese Grenzen sollen nun auf 10 bzw. 15 % herabgesetzt werden, allerdings erst für die übernächste Bundestagswahl, da eine derart umfassende Neueinteilung der Wahlkreise vor der Wahl 2025 nicht mehr zu leisten ist.
Auf die künftige Neueinteilung darf man gespannt sein. Denn durch das Verfahren der Zweitstimmendeckung erhalten auch die Wahlkreiszuschnitte eine besondere Relevanz. Für Bewerber:innen von erststimmenstarken Parteien kommt es künftig nicht mehr nur darauf an, den Wahlkreis zu gewinnen, sondern einen möglichst großen Anteil der Erststimmen auf sich zu vereinen, um bei fehlender Zweitstimmendeckung innerparteilich die Nase vorn zu haben (vgl. die Reihung nach Zweitstimmenanteil). Das hierzulande nur wenig beachtete Problem des Gerrymandering (vgl. Kaiser/Michl) könnte dann in neuer Gestalt auftreten – aber das ist Zukunftsmusik.
Sie schreiben, es sei „inkonsequent“, an der Grundmandatsklausel (GMK) festzuhalten, denn: „Wer die Personenwahl verabschieden will, kann im relativen Wahlkreiserfolg schwerlich eine Legitimation für die Berücksichtigung von Parteien bei der Proporzverteilung sehen, die aufgrund ihres schlechten Abschneidens in der Hauptstimme [jetzt wieder Zweitstimme] eigentlich nicht an der Mandatsverteilung teilnehmen“.
Inkonsequent vielleicht, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch rechtfertigungsbedürftig [1], weil die GMK als Unterausnahme zur Sperrklausel ihrerseits eine Differenzierung einführt. Aber nach genau derselben Rechtsprechung ist die GMK auch rechtfertigungsfähig, nämlich beispielsweise mit dem legitimen Zweck, regional starke Parteien zu berücksichtigen, zumal man drei Wahlkreise ja auch nicht mal eben so gewinnt. Vor diesem Hintergrund verblasst der formalistische Einwand der Inkonsequenz gegenüber dem demokratietheoretisch fundierten Argument der besseren Repräsentation – oder in den Wortes des BVerfG: der „effektiven Integration des Staatsvolkes“.
[1] https://www.servat.unibe.ch/tools/DfrInfo?Command=ShowPrintVersion&Name=bv095408
Der Einwand ist das Gegenteil von “formalistisch” (eine Polemik, die wir unter Jurist:innen wohl ohnehin vermeiden sollten). Wenn man mit dem BVerfG “Folgerichtigkeit” im in der Ausgestaltung des Wahlsystems verlangt, kann man nicht die fehlende Aussagekraft knapper Wahlkreiserfolge als Argument für den Systemwechsel zur reinen Verhältniswahl anführen, andererseits aber das System mit einem Personenwahlelement durchbrechen und das auf die angeblich hohe Aussagekraft knapper Wahlkreiserfolge stützen. Das heißt nicht, dass man die Sperrklausel insgesamt nicht kritisch sehen könnte; aber die Beibehaltung der Grundmandatsklausel hätte das ganze Reformprojekt auf dünnes Eis gesetzt.
Die Durchbrechung mit einer Grundmandatsklausel wär aber eine Marginalie gegenüber der Durchbrechung mit den Einzelbewerbern, die ja unmittelbar auf die Verhältniswahl durchschlägt und sie für eine bestimmte Sitzzahl vollständig außer Kraft setzt. Die Grundmandatsklausel knüpft demgegenüber lediglich an die Wahl in den Wahlkreisen an, stärkt damit aber die Verhältniswahl sogar (das Problem in der Beziehung ist nur, dass sie zu einer ungleichen Verteilung von verbleibender Ungleichheit führt).
Soweit ich mich erinnere, hat das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit der Sperrklausel auch damit begründet, dass die Grundmandatsklausel ein Korrektiv dazu bilde. Wenn diese nun fortfällt, müsste auch die Sperrklausel neu bewertet werden, eventuell unter den veränderten Bedingungen als verfassungswidrig erkannt werden.
Diese Begründung wäre mir neu. Haben Sie eine Fundstelle? Nach meiner Kenntnis der Rspr. wird die Sperrklausel ohne Rücksicht auf die Grundmandatsklausel gerechtfertigt. Die Grundmandatsklausel wiederum muss sich als gleichheitsrelevante Ausnahme selbst rechtfertigen lassen, was in der Rechtswissenschaft bis heute umstr. ist, in der Rspr. aber mit Verweis auf die Integrationsfunktion der Wahl geklärt.
Kommentar Lübbe-Wolff unter dem Beitrag Rennert..
Eine Frage zu der Ausnahme von der Hauptstimmendeckung für Einzelkandidaten:
Darin liegt nach meinem Verständnis eine Ungleichbehandlung zu Listenkandidaten, die sich auch auf die Erfolgschance der Stimme auswirkt. Denn im Wahlkreis siegreiche Einzelkandidaten ziehen in den Bundestag ein, ohne eine weitere Hürde nehmen zu müssen, während Listenkandidaten auf den Erfolg ihrer Partei angewiesen sind. Wie wird diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt?
Nach BVerfGE 41, 399 gehört zur Wahlfreiheit ein grundsätzlich freies Wahlvorschlagsrecht für alle Wahlbeteiligten; eine Monopolisierung des Wahlvorschlagsrechts bei den politischen Parteien verstieße gegen die Grundsätze der allgemeinen, gleichen und freien Wahl. Das sollte als Rechtfertigung genügen, obwohl man überlegen könnte, ob das BVerfG auch parteiunabhängige Listen als Ersatz für Einzelkandidaturen akzeptieren würde. Allerdings könnte die Abschaffung des Listenmonopols der Parteien erhebliche Rückwirkungen auf das politische System haben, so dass die Beibehaltung der Einzelkandidatur (vom Risiko der verkappten Parteibewerber abgesehen) weniger folgenreich erscheint.
Also letztlich eine Einschränkung der Gleichheit der Wahl zur Herstellung der Freiheit der Wahl und damit Art. 38 I GG sowohl auf Eingriffs- als auch auf Rechtfertigungsebene – Danke für die Antwort und die informativen Beiträge zur Wahlrechtsreform!
Erst künstlich ein Monopol zu schaffen, um es dann mit systemfremden Mitteln wieder durchbrechen zu müssen, ist allerdings schon ziemlich pervers. Die (alte) Argumentation des BVerfG ist auch ziemlich menschenverachtend, wenn sie eigentlich gegen das Monopol garnichts hat, sondern die Einzelbewerber bloß instrumentalisieren will, um die Qualität der Parteibewerber nach unten abzusichern. Und rein faktisch ist das Listenmonopol so gut wie irrelevant. Wer mit Listen erfolgreich antreten kann, kann genauso eine Partei gründen und tut das dann in der Regel schon wegen der Parteienfinanzierung. Letztlich ist das nur eine formale Hürde, die mehr Probleme schafft als sie löst.