Bei uns doch nicht! Oder doch?
Gerrymandering in Deutschland
I.
Bereits im Jahr 1907 brandmarkte der US-amerikanische Politologe Elmer C. Griffith den parteipolitisch motivierten Zuschnitt von Wahlkreisen als „a species of fraud, deception, and trickery which menaces the perpetuity of the Republic of the United States more threateningly than does, perhaps, the injustice of unjust taxation“. Das will etwas heißen, in einem Staat, der nicht zuletzt als Reaktion auf ein missliebiges Steuerrecht gegründet wurde. Doch für Griffith war klar: Wahlkreismanipulationen erschüttern die repräsentative Demokratie in ihren Fundamenten. Seit den 1980ern beschäftigt das partisan gerrymandering den US Supreme Court. Den vorläufigen Höhe- und möglichen Schlusspunkt der Gerrymander-Rechtsprechung bildet das Urteil Rucho v. Common Cause vom 28. Juni 2019 (dazu das Editorial). Die Mehrheit der Richter erkennt darin zwar an, dass übermäßige Parteilichkeit bei der Wahlkreiseinteilung zu Ergebnissen führe, die bei vernünftiger Betrachtung ungerecht erscheinen. Aber es handle sich letztlich um eine politische Frage, die von Bundesgerichten nicht gelöst werden könne: „Federal judges have no license to reallocate political power between the two major political parties, with no plausible grant of authority in the Constitution, and no legal standards to limit and direct their decisions.“
II.
Wer sich vor Augen führt, in welchem Ausmaß Wahlkreismanipulationen mittlerweile den politischen Wettbewerb in den USA verzerren, muss über so viel richterliche Selbstbeschränkung den Kopf schütteln. Und gewiss wird sich hierzulande der eine oder andere in seiner (abschätzigen) Haltung gegenüber dem politischen System jenseits des großen Teichs bestätigt sehen, resigniert denken: „Die Amerikaner eben …“, und sich dann beruhigt auf die Schulter klopfen in der Gewissheit: „Bei uns würde es so etwas ja nicht geben“. Sicher, das personalisierte Verhältniswahlsystem, wie es auf Bundesebene und mit einigen Nuancen auch in den meisten deutschen Ländern etabliert ist, lässt auf den ersten Blick wenig Raum dafür, durch manipulative Wahlkreiszuschnitte auf das Wahlergebnis einzuwirken. Schließlich werden potentielle Verzerrungen des Parteienproporzes, die durch die Direktwahl in den Wahlkreisen entstehen können, mittels Ausgleichsmandaten weitgehend ausgeglichen. Anders als im reinen Mehrheitswahlsystem der USA scheint es sich für die Parteien daher nicht zu lohnen, die Wahlkreisgrenzen so zu ziehen, dass die Zuschnitte ihnen nutzen bzw. der Konkurrenz schaden.
Doch schaut man etwas genauer hin, bieten auch die deutschen Wahlsysteme Anreizstrukturen für Gerrymandering, wenngleich diese etwas subtiler sind als in den USA. Da ist zum einen der Faktor des politischen Prestiges, der im juristischen Diskurs häufig überhaupt nicht wahrgenommen wird, in der politischen Praxis aber von eminenter Bedeutung sein kann: Der Gewinn von Wahlkreisen bedeutet für die Parteien einen Prestigezuwachs, manifestiert sich darin doch eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung und eine erfolgreiche Arbeit auf lokaler Ebene. Umgekehrt kann der Verlust von Wahlkreisen das Ansehen einer Partei empfindlich schmälern, indem er eine defizitäre Rückbindung an die örtliche Wählerschaft nahelegt. Und was für die Parteien gilt, gilt erst recht für die Wahlkreiskandidaten. Sie ziehen ein hohes Maß ihres persönlichen politischen Kapitals aus dem Gewinn „ihres“ Wahlkreises, haben sie doch mindestens die relative Mehrheit des abstimmenden Wahlvolkes hinter sich. Schon 1955 konstatierte eine Wahlrechtskommission, dass „den im Wahlkreis gewählten Bewerbern stärkeres politisches Gewicht beigemessen wird als den Listenkandidaten“. Schließlich kann der Gewinn des Direktmandats darüber entscheiden, ob ein Bewerber überhaupt ins Parlament einzieht, etwa weil er nicht über die Liste „abgesichert“ ist oder weil die Liste aufgrund eines überproportional guten Abschneidens einer Partei bei den Direktmandaten überhaupt nicht „greift“.
Der Zuschnitt von Wahlkreisen kann jedoch über diese „weichen“ Faktoren hinaus sogar proporzrelevant sein. Offensichtlich ist das, wenn Überhangmandate nicht vollständig ausgeglichen werden, wie von 1949 bis 2009 im Bundestagswahlrecht (die Einführung einer Freigrenze ist nach der Rechtsprechung des BVerfG immer noch möglich). Doch auch bei völligem Ausgleich kann das Wahlrecht so ausgestaltet sein, dass es den Direktmandaten eine prominentere Rolle zuweist, als dies im geltenden Bundestagswahlrecht der Fall ist. Ein anschauliches Beispiel ist das bayerische Landtagswahlrecht. Dort werden Überhangmandate nicht auf Landesebene, sondern auf der Ebene der sieben Regierungsbezirke ausgeglichen – mit der Folge, dass Rundungsungenauigkeiten den landesweiten Proporz beeinflussen (zugunsten der überhängenden Partei). Bayern wartet zudem mit einer weiteren Besonderheit auf: Erst- und Zweitstimmen werden dort für die Ermittlung des Parteiergebnisses zusammengezählt. Die Parteien haben daher ein großes, weil proporzorientiertes Interesse daran, eine möglichst hohe Stimmenzahl auf ihren Wahlkreisbewerber zu vereinen und diese in die Gesamtstimmenberechnung einzubringen.
III.
Auch im System der personalisierten Verhältniswahl gibt es also Anreize für die Parteien, auf den politischen Wettbewerb durch einen ihnen „günstigen“ Zuschnitt der Wahlkreise einzuwirken. Und das bleibt keine reine Theorie. Sowohl auf Bundesebene als auch in den Ländern finden sich Fallbeispiele, bei denen es naheliegt, dass die Wahlkreisgrenzen nicht ohne (wenigstens einen Seiten-)Blick auf parteipolitische Interessen gezogen wurden.
Als beispielsweise für die Bundestagswahl 2002 die Zahl der Berliner Bundestagswahlkreise verringert werden musste, bekam es die PDS zu spüren, was es bedeutet, wenn die eigene Wählerschaft in einem Wahlkreis geballt (packing) bzw. auf verschiedene Wahlkreise verteilt (cracking) wird. Auch wenn sich ein politischer Vorsatz nicht nachweisen lässt: die PDS verlor bei der Wahl 2002 (auch) infolge der neuen Wahlkreiseinteilung die Hälfte ihrer Direktmandate in Berlin und damit sogar ihren Fraktionsstatus im Bundestag.
Bei einem Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit lässt sich der manipulative Vorsatz kaum bestreiten. In Bayern waren aufgrund der Bevölkerungsentwicklung die Stimmkreise für die Landtagswahl 2018 neu zuzuschneiden. Die CSU-Mehrheit im Landtag nahm dies zum Anlass, ihre Direktkandidaten in München abzusichern, die bei den vorangegangenen Wahlen ihren Stimmkreis jeweils nur mit einem knappen Vorsprung vor der sozialdemokratischen Konkurrenz gewonnen hatten. Das Vorgehen entspräche dem Gerrymander-Lehrbuch, wenn es eines gäbe: In München war das rot-grüne Wählerpotential zu groß, um es durch Verteilung auf die CSU-dominierten Stimmkreise zu neutralisieren. Daher wurde ein neuer Stimmkreis „München-Mitte“ geschaffen und darin die klar im Münchner Zentrum beheimatete Klientel der SPD und der Grünen geballt. Die Presse sprach zutreffend von der „Bad Bank der CSU“. Auf prognostischer Grundlage würde dieser Stimmkreis zwar an die SPD gehen, der Vorsprung der CSU-Kandidaten in den umkämpften Stimmkreisen würde sich aber durch Abzug der rot-grünen Wählerschaft deutlich erhöhen. Dass bei der Wahl im Oktober 2018 den Grünen gelingen sollte, alle betroffenen Stimmkreise zu gewinnen, war im März 2017, als die Stimmkreise zugeschnitten wurden, freilich noch nicht abzusehen. Erfolgreiches Gerrymandering hängt eben stets von genauen Prognosen ab.
IV.
Die Möglichkeiten für erfolgreiche Wahlkreismanipulationen sind in Deutschland aufgrund verfassungs- und einfachgesetzlicher Vorgaben an die Größe und die räumliche Gestalt von Wahlkreisen deutlich geringer als in den USA. Dennoch wäre es naiv zu glauben, dass die maßgeblichen politischen Akteure, allen voran die zuständigen Ministerien und die Mehrheitsfraktionen in den Parlamenten hierzulande das parteipolitische Potential einer Wahlkreiseinteilung nicht mitbedächten. Die Gelegenheit dazu bietet sich in regelmäßigen Abständen, weil die disparate Bevölkerungsentwicklung in den Wahlgebieten den Neuzuschnitt der Wahlkreise erforderlich macht. Sollten außerdem die Bemühungen um eine Verkleinerung des Bundestags einmal Erfolg haben, wird eine vielfache Neuabgrenzung erforderlich werden, bei der dann auch parteipolitische Fragen eine Rolle spielen (wenn auch selten explizit in den Drucksachen vermerkt). Die zunehmende Fragmentierung des Parteiensystems tut ihr Übriges: Es ist davon auszugehen, dass sich die Wahlkreislandschaft in Bund und Ländern in Zukunft vielfarbiger präsentieren wird – daran hat gewiss nicht jeder ein Interesse.
Die gröbsten Auswüchse von Wahlkreismanipulationen würden, das dürfte eine sichere Wette sein, in Deutschland die Verfassungsgerichtsbarkeit eindämmen. Judicial self-restraint ist ihre Sache ohnehin nie gewesen. Gerade beim Gerrymander ist ein beherztes Eingreifen der Judikative auch angezeigt. Denn Wahlkreismanipulationen verletzten die Spielregeln des demokratischen Wettbewerbs, indem sie der Mehrheit ungerechtfertigte Vorteile verschaffen und die Minderheit daran hindern, selbst je zur Mehrheit zu werden. Das Fundamentalprinzip legitimer demokratischer Herrschaft wird dadurch infrage gestellt. Die Dritte Gewalt ist daher aufgerufen, in ihrer Rolle als „Hüterin des demokratischen Wettbewerbs“ zu intervenieren und die Chancengleichheit wieder herzustellen. Mit einer „Umverteilung“ der politischen Macht, wie sie die Mehrheit des US Supreme Court in Rucho vs. Common Cause befürchtet, hat das nichts zu tun. Vielmehr geht es darum, dass politische Macht nur dann demokratisch legitimiert ist, wenn sie unter fairen Bedingungen von den Wählern verteilt worden ist.
Der Beitrag basiert auf Michl/Kaiser, Wer hat Angst vorm Gerrymander? Manipulative Wahlkreiszuschnitte in Deutschland, JöR 67 (2019), S. 51–105. Dort werden weitere Fallbeispiele angeführt und die einschlägige Rechtsprechung analysiert.
Lesenswerter Artikel. Spannender dürfte die parallele Problematik beim Zuschnitt von Gemeinden und Landkreisen sein. Eine geschickte Zusammenlegung zweier Landkreise kann direkt zu Pöstchen, Geld und Macht für die eigene Partei führen.
In der Schweiz sind die Kantone die jeweiligen Wahlkreise für die Wahl in den nach Proporz gewählten Nationalrat. Was bedeutet, dass es dort zwischen 1 und über dreissig Mandate zu wählen gibt. Jeder Kanton stellt mindestens ein Mitglied im Nationalrat und bei nur einer Vertretung gilt das Prinzip: “The winner take it all”. Im Kanton Glarus zum Beispiel, der nur ein Sitz zu vergeben hat, wo es immer wieder zu Kampfwahlen zwischen ähnlich grossen Parteien kommt, ist es nicht selten, dass über fünfzig Prozent für den Papierkorb wählen, sprich, die eigene Wählerstimme fließt zwar in die symbolische Gesamtwählerstärke der gewählten Partei auf der nationalen Ebene ein. Aber eben ohne Wirkung auf die effektive Sitzzahl. Eine Reformmöglichkeit wäre es, anhand der effektiven Wähleranteile auf nationaler Ebene, die Parlamentssitze zu vergeben und in einer zweiten Runde diese auf die Kantone zu verteilen. Dies wurde z.B. im Kanton Zürich eingeführt, da dort die Bezirke als Wahlkreise ebenfalls unterschiedlich gross waren und eine Änderung der Wahlkreise/Bezirke undenkbar war. Dies nennt sich umgangssprachlich “Doppelter Pukelsheimer”. Bei gewissen Wahlkreisen kommt es zu problematischen Sitz Zuteilungen aber dafür ist keine Wählerstimme mehr für den Papierkorb. Der Vorteil des doppelten Pukelsheimer ist, dass die Wahlkreise fast immer unverändert bleiben können und somit von dieser Seite her keine Manipulationen möglich sind. Bezirksgrenzen werden nur sehr selten verändert und die Motivation wäre sicher nicht Wahltaktisch bedingt, da solche Veränderungsprozesse, gerade in der Schweiz, sehr aufwendig sind und heute selten eine Partei wirklich einen Kanton dominiert.
Schlimmer, weil Subtiler.