Impfpflicht oder „2G minus K“?
Zur „einrichtungsbezogenen Impfpflicht“
Das am 10. Dezember 2021 vom Deutschen Bundestag mit breiter Mehrheit beschlossene „Gesetz zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie“1) schafft mit dem neuen § 20a Infektionsschutzgesetz (IfSG) eine Vorschrift, die nach Ansicht der Gesetzesbegründung eine „einrichtungsbezogene Impfpflicht“2) begründet. Das rechtskonstruktive Vorbild hierfür wird klar benannt: „In Anlehnung an die Regelungen zur Einführung einer Masernimpfpflicht durch das Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (BGBl. I 2020, S. 148) in § 20 Absatz 8 bis 13 wird in § 20a zur Einführung einer entsprechenden Pflicht für den Schutz vor der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) in bestimmten Einrichtungen und Unternehmen eine entsprechende Regelung vorgesehen“3). Aber ist es richtig, von einer Impfpflicht zu sprechen, und überzeugt der Verweis auf das vermeintliche Vorbild der Masernimpfpflicht? Und welche Folgen hat die Regelung aus arbeitsrechtlicher Sicht?
Überblick über die geplante „einrichtungsbezogene Impfpflicht“
§ 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG schafft bis zum Ablauf des 31. Dezember 20224) für Personen, die in bestimmten Einrichtungen des Gesundheitswesens sowie der Pflege „tätig sind“, die Pflicht, Geimpfte und Genesene im Sinne der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung zu sein. Soweit sich diese Personen in der Einrichtung nicht etwa als Patient:in oder als sonst betreute, gepflegte oder untergebrachte Person aufhalten5), dürfen sie dort nur sein, wenn sie genesen oder geimpft sind. Es handelt sich mit anderen Worten um eine „2G“-Regelung, wie sie auch in anderen Bereichen den Zugang zu Einrichtungen steuert. Ausgenommen sollen Tätigkeiten sein, die zeitlich „ganz vorübergehend“ sind, also nur „wenige Minuten“ andauern6). Das betrifft etwa Post- oder Paketbot:innen, die die Einrichtung nur kurz betreten. Ausgenommen sind schließlich auch die in den betreffenden Einrichtungen behandelten, betreuten, gepflegten oder untergebrachten Personen (§ 20a Abs. 6 IfSG).
Die Liste der Einrichtungen (u.a. Krankenhäuser, Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen und -dienste, aber auch Rettungsdienste) lehnt sich weithin an § 23 Abs. 3 Satz 1 IfSG an. Die Gesetzesbegründung erläutert z.T. recht aufwändig, welche Einrichtungen erfasst werden; der Pflegebereich wird weit verstanden, er umfasst nicht nur die Altenpflege.7) Bekannte Probleme, etwa die Frage, ob zu den „Praxen sonstiger humanmedizinischer Heilberufe“ (§ 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. i IfSG) auch Praxen von Heilpraktiker:innen gehören, was richtigerweise zu bejahen ist,8) bleiben trotz der bekannten Milieus, die dem Impfen ablehnend gegenüberstehen, nach wie vor ungelöst. Wenn das Gesetz von „Einrichtungen oder Unternehmen“ spricht, soll damit offenbar klargestellt werden, dass auch Unternehmen, die über verschiedene Standorte verfügen, erfasst werden, ferner, dass es auf die Organisationsform (z.B. öffentlich-rechtlich organisierte Einrichtung oder privatrechtlich organisiertes Unternehmen) nicht ankommt.
Medizinische Kontraindikationen: Ein Trojanisches Pferd?
Kombiniert wird die „2G-Regelung“ mit einer Ausnahme für Personen, die auf Grund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft werden können (§ 20a Abs. 1 Satz 2 IfSG) – deshalb „2G minus K“ (K = Kontraindikation). Die medizinische Kontraindikation dispensiert somit von der Pflicht, sich nur als geimpfte oder genesene Person in der Einrichtung aufzuhalten. Solche Ausnahmen für Fälle medizinischer Kontraindikation kennt das IfSG bereits, insbesondere für die Masernimpfpflicht (§ 20 Abs. 6 Satz 2, Abs. 8 Satz 4 IfSG).
Was eine relevante medizinische Kontraindikation ist, lässt das Gesetz offen. Typischerweise wird es um sehr seltene Situationen gehen, in denen der Impfstoff unverträglich ist, etwa wegen Allergien gegen Bestandteile der COVID-19-Impfstoffe. Nicht eindeutig geregelt ist, ob bzw. inwieweit auch psychische Erkrankungen eine medizinische Kontraindikation begründen können. Welchen Anforderungen ein ärztliches Zeugnis über eine medizinische Kontraindikation im Einzelnen genügen muss, lässt das Gesetz ebenfalls offen (vgl. § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG). Nach der aktuellen Rechtsprechung, die sich auf Atteste über medizinische Kontraindikationen bezieht, muss ein Attest „eine auf ihre Plausibilität nachprüfbare inhaltliche Aussage über die Kontraindikation treffen, aber keine Aussagen zu Befunden oder Diagnosen enthalten“9). Teilweise ist die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung strenger, wenn in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen argumentiert wird10): Danach komme einem ärztlichen Attest vom Grundsatz her ein hoher Beweiswert zu, der aber beim Vorliegen gewichtiger Indizien erschüttert werden könne; dann müsse die Person, die das Attest vorgelegt habe, den vollen Beweis erbringen, wofür ihr das Zeugnis des behandelnden Arztes als Beweismittel zur Verfügung steht, den sie dann von der Schweigepflicht entbinden müsse11). Der Bundesrat hat in der Vergangenheit im Hinblick auf die Masernimpfpflicht klarere Vorgaben für ärztliche Atteste angeraten12) – bislang erfolglos. Das jetzige Gesetzgebungsverfahren hätte allen Grund gehabt, diese Anregung aufzugreifen, damit die medizinische Kontraindikation nicht zum Trojanischen Pferd (auch) des neuen § 20a IfSG wird. Im Übrigen gelten für alle Beschäftigten, die in Einrichtungen gemäß § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG tätig sind, nach Maßgabe des § 28b Abs. 2, 3 IfSG die dort niedergelegten Test- und Kontrollpflichten, die mit der Gesetzesreform präzisiert und ergänzt wurden, aber der Sache nach unverändert geblieben sind.
Zwangsweise Durchsetzung der Nachweispflicht?
Ein wichtiger Unterschied zur Masernimpfpflicht ist, dass § 20a Abs. 1 IfSG anders als § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG keine Pflicht schafft, eine Impfung aufzuweisen, also sich impfen zu lassen13). Wenn § 20a Abs. 1 IfSG etwa mit der Formulierung im früheren „Gesetz über die Pockenschutzimpfung“14) verglichen wird (§ 1 Abs. 1: „Einer Pockenschutzimpfung haben sich zu unterziehen …“), dann wird besonders deutlich, dass es nicht um eine – offene, direkte – Impfpflicht geht. Vielmehr ist es so, dass die Tätigkeit in der Einrichtung einer bestimmten Ausübungsbedingung unterworfen wird, nämlich geimpft oder genesen zu sein. Wer nicht in einer solchen Einrichtung tätig ist, muss auch nicht geimpft oder genesen sein.
Die neue Regelung stellt entscheidend auf die tatsächliche Tätigkeit in einer in § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG genannten Einrichtung ab. Die rechtliche bzw. vertragliche Grundlage der Tätigkeit ist hingegen ohne Bedeutung. Auch auf der Rechtsfolgenseite wendet sich die Vorschrift allein gegen die tatsächliche Beschäftigung von Personen, die weder geimpft noch genesen sind, in den infektionsgeneigten Einrichtungen. Entgegen einer missverständlichen Formulierung in der Gesetzesbegründung setzt der Abschluss eines Arbeitsvertrages – auch nach dem 16. März 2022 – nicht die Vorlage eines Impf- oder Genesenennachweises voraus15).
Es handelt sich um eine „gesetzliche Tätigkeitsvoraussetzung“16), zu der sich die betroffene Person verhalten muss. Sie wird somit in eine Situation gebracht, in der sie die Nachteile, die mit der unterbliebenen Impfung auch im Hinblick auf die Tätigkeit, insbesondere mit Blick auf ein Arbeitsverhältnis, entstehen könnten, mit dem subjektiven Wert, den der Verzicht auf die Impfung bedeutet, abwägen muss. Entscheidet sich die Person, ungeimpft zu bleiben, darf sie die Tätigkeit in der Einrichtung nicht mehr ausüben, kann also etwa als Arbeitnehmer:in die geschuldete Arbeitsleistung nicht mehr erbringen. Einfachrechtlich wird also keine Impfpflicht aufgestellt, sondern nur eine an der Tätigkeit, die in der Einrichtung verrichtet werden soll, anknüpfende Tätigkeitsanforderung geschaffen. Das bestätigt auch die Gesetzesbegründung, wenn sie betont, dass „die Freiwilligkeit der Impfentscheidung selbst unberührt bleibt“17).
Übergangszeit bis 15. März 2022
Entscheidet sich die Person für die Tätigkeit in der Einrichtung, muss sie (von den Fällen der Genesung oder der Kontraindikation abgesehen) einen Impfnachweis vorlegen. Das betrifft den Zeitraum bis zum 15. März 2022. Das Gesetz schafft insoweit einen zeitlichen Puffer, den die Einrichtungen nutzen können, um die Belegschaft (hier gemeint als Bezeichnung für alle beruflich oder ehrenamtlich Tätigen) nach und nach aufzufordern, den Impfnachweis vorzulegen. Soweit ihnen der Impfstatus der Beschäftigten wegen der Anwendung der 3G-Regel des § 28b Abs. 1 IfSG ohnehin bekannt ist, spricht nichts dagegen, die hieraus gewonnenen Daten auch für die Zwecke des § 20a IfSG zu verwenden. Ebenso haben die in der Einrichtung tätigen Personen genügend Zeit, sich impfen zu lassen – was voraussetzt, dass Impfangebote in hinreichendem Umfang verfügbar sind18).
Die Einrichtungen müssen diejenigen, die bis zum Ablauf des 15. März 2022 keinen Impf- oder Genesenennachweis bzw. kein ärztliches Zeugnis über eine medizinische Kontraindikation vorlegen, beim Gesundheitsamt melden; die Benachrichtigung des Gesundheitsamtes ist zudem erforderlich, wenn Zweifel an der Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit des vorgelegten Nachweises bestehen (§ 20a Abs. 2 Satz 2 IfSG);19). Verstöße gegen die Benachrichtigungspflicht sind bußgeldbewehrt (§ 73 Abs. 1a Nr. 7e IfSG). Das Gesundheitsamt kann anordnen, dass eine Person, die einen zweifelhaften Nachweis über eine medizinische Kontraindikation vorgelegt hat, sich ärztlich untersuchen lassen muss (§ 20a Abs. 5 Satz 2 IfSG), was in aller Regel durch Amtsärzt:innen geschehen wird. Auch wenn der Tatbestand des § 20a Abs. 5 Satz 2 IfSG weiter gefasst ist, kann das Gesundheitsamt ausweislich der Rechtsfolge nur hinsichtlich des ärztlichen Attests einer Kontraindikation „Ermittlungen einleiten“20). Die inhaltliche Richtigkeit von Impf- und Genesenenausweisen soll es im Gegensatz dazu offenbar ohne ärztliche Untersuchungen beurteilen können.
Wird dem Gesundheitsamt trotz Anforderung kein echter und inhaltlich richtiger Nachweis vorgelegt oder wird der Anordnung einer ärztlichen Untersuchung nicht Folge geleistet, kann es ab dem 16. März 2022 Tätigkeits- bzw. Aufenthaltsverbote verhängen (§ 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG). Das Entschließungsermessen („kann … untersagen“) wird sich mit Blick auf den „Schutz vulnerabler Personengruppen vor einer COVID-19-Erkrankung“21) in aller Regel „auf Null“ reduzieren, es sei denn, die ungeimpfte Person ist beispielsweise zwischenzeitlich zur genesenen Person geworden. Das Gesundheitsamt hat die Freiheit der Berufsausübung „bei der Bemessung der Dauer des Verbotes zu berücksichtigen“22). Die Nichtvorlage eines (richtigen) Nachweises ist bußgeldbewehrt (§ 73 Abs. 1a Nr. 7h IfSG), ebenso die Missachtung vollziehbarer Verbotsverfügungen nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG (so § 73 Abs. 1a Nr. 7f IfSG). Bußgeldbescheide und gerichtliche Bußgeldentscheidungen können durch Vollstreckung beigetrieben werden (§§ 90 ff. OWiG). Das Gesetz kennt auch die Möglichkeit, Erzwingungshaft anzuordnen (§ 96 OWiG): „Mit der Erzwingungshaft soll der Wille des Zahlungsfähigen, aber Zahlungsunwilligen gebeugt werden“.23) Allerdings gelten im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes strengste Anforderungen.