Alles verfassungswidrig? Wie das BVerfG beim Werbeverbot für Abtreibung zum Rosinenpicken einlädt
Der Fall des Gießener Amtsgerichts erregte im November letzten Jahres große Aufmerksamkeit: Die Allgemeinmedizinerin Kristina Hänel wurde zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 150 Euro verurteilt, weil sich auf ihrer Homepage der Hinweis befand: „Zusätzlich zu den normalen hausärztlichen Tätigkeiten biete ich: […] Schwangerschaftsabbruch.“ Über einen Link gelangte man zu einer pdf-Datei, die allgemeine Informationen zum Schwangerschaftsabbruch, der Durchführung und den Methoden in der Praxis der Angeklagten enthielt. Heute wird die Datei, wie dies dem früheren Vorgehen der Ärztin entsprach, nur auf Anfrage zugeschickt. Das Gericht sah den Tatbestand der Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft § 219a StGB als erfüllt an. Dieser umfasst seinem Wortlaut nach bereits das Anbieten eines Schwangerschaftsabbruchs des Vermögensvorteils wegen, und zwar öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften. Eine einschränkende Auslegung hielt das Gericht nicht für geboten (AG Gießen BeckRS 2017, 133800). Die Ärztin hat Berufung eingelegt und erklärt, notfalls vor auch das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.
Der Fall hat eine gesellschaftliche und rechtspolitische Debatte über das Dasein des § 219a StGB ausgelöst, dessen Verfassungsmäßigkeit in dieser Auslegung von vielen bezweifelt wird (siehe z.B. diese Stellungnahme der Gesellschaft für Freiheitsrechte). Die Fraktion Die Linke hat bereits im November 2017 einen Gesetzentwurf zur kompletten Streichung der Vorschrift formuliert. Die Grünen haben sich dieser Forderung im Februar mit einem eigenen Entwurf angeschlossen. Der FDP-Entwurf, ebenfalls aus dem Februar, hat dagegen eine Einschränkung des Werbeverbots durch die Streichung der Tatbestandsalternative „seines Vermögensvorteils wegen“ zum Gegenstand, sodass nur noch die Werbung in grob anstößiger Weise tatbestandsmäßig wäre. Die bisherigen möglichen Tathandlungen werden durch den Begriff „werben“ ersetzt. Scheitert die FDP mit ihrem Antrag, will sie für die Abschaffung des ganzen Tatbestandes stimmen. Anfang März sorgte ein Entwurf der SPD-Fraktion für Aufsehen, der die Vorschrift wie Grüne und Die Linke vollständig streichen will. Die rechtspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion, Elisabeth Winkelmeier-Becker, reagierte mit der Drohung, im Falle der Aufhebung des § 219a StGB vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Die SPD entschied daraufhin, ihren Entwurf nicht in den Bundestag einzubringen, sondern einen gemeinsamen Regierungsentwurf mit den Koalitionspartnern auszuarbeiten. Der Zündstoff der Debatte liegt darin, dass die gegensätzlichen Lager sich jeweils auf die Verfassung – sogar auf ein und dieselbe Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch – berufen. Beide Seiten meinen, nur durch die Durchsetzung ihres Standpunktes das Grundgesetz wahren zu können. Aber wer hat tatsächlich Recht?
Auslegung des Gießener AG ist verfassungsrechtlich bedenklich
Die CDU/CSU sowie die AfD wollen § 219a StGB in unveränderter Form beibehalten. Dieser sei „ein wichtiger und konsequenter Bestandteil des guten Kompromisses zum Schwangerschaftsabbruch“, der „nach langem Ringen mit der Beratungslösung gefunden“ wurde, so Karin Maag, Vorsitzende der Frauengruppe der CDU. Dabei beruft sich die Union vor allem auf christliche Werte. Allerdings ist man sich in der Kirche uneinig. Abtreibung sei rechtswidrig, Werbung könne nicht infrage kommen, hieß es seitens des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx. Darin sei er sich auch mit dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, einig. Dagegen unterstützt der Verband Evangelischer Frauen in Nassau und Hessen die Streichung von § 219a StGB.
Zur Verfassungsmäßigkeit des § 219a StGB ist seit der Verurteilung der Ärztin schon viel gesagt worden. Daher an dieser Stelle nur drei wesentliche Aspekte, die § 219a StGB in dieser Auslegung verfassungsrechtlich bedenklich erscheinen lassen:
Die Norm erscheint im Hinblick auf die Berufsfreiheit der Ärzte aus Art. 12 I GG problematisch, da diese auch das Recht umfasst, die Öffentlichkeit über erworbene berufliche Qualifikationen wahrheitsgemäß und in angemessener sachlicher Form zu informieren. Dies sieht das Bundesverfassungsgericht ebenso: „Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können“ (BVerfG NJW 2006, 3769). Dass diese Entscheidung im privatrechtlichen Zusammenhang erging und sich auf das Persönlichkeitsrecht des betroffenen Arztes bezog, ändert nichts am Gehalt der Aussage an sich: Unter dem Aspekt der Einheit der Rechtsordnung kann nicht zivilrechtlich etwas erlaubt sein, was dann aber strafrechtlich negative Folgen hat. Dies muss im Hinblick auf das legitime Informationsbedürfnis des Patienten insbesondere dann gelten, wenn die vom Arzt verbreitete Information seine Nichtgewerblichkeit nicht in Frage stellt, vgl. § 27 (Muster)Berufsordnung der Ärzte (MBO-Ä).
§ 219a StGB greift auch in die Informationsfreiheit der potenziellen Patientin nach Art. 5 I 1 Alt. 2 GG ein. Diese gewährleistet das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Informationsrechte von Patienten sind zudem im Patientenrechtegesetz geregelt. Mit § 219a StGB verhindert der Staat aber aktuell jede öffentlich zugängliche Information, die nicht von ihm durch das Schwangerschaftskonfliktgesetz vermittelt wird. Dies steht im Konflikt mit der Position, die das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Abtreibungsentscheidung eingenommen hat (BVerfGE 88, 203 = NJW 1993, 1751): Hiernach ist die nicht indizierte Abtreibung zwar rechtswidrig. Zugleich hat es aber anerkannt, dass die Straflosigkeit der Abtreibung in den ersten zwölf Wochen im Hinblick auf die Rechte der Frau verfassungsgemäß ist. Insofern erscheint es widersprüchlich, den Zugang zu Informationen darüber zu verweigern.
Da die Informationsfreiheit Voraussetzung für eine selbständige Meinungsbildung ist, beeinträchtigt das Verbot aus § 219a StGB zudem das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Frau aus Art. 2 I GG und im Speziellen ihr Patientenselbstbestimmungsrecht, das teilweise auch aus der körperlichen Unversehrtheit gem. Art. 2 II GG hergeleitet wird. Sicherlich kann sie sich für entsprechende Informationen an die staatlich anerkannten Stellen nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz (§ 9 SchKG) wenden, die sie nach den gesetzlichen Vorschriften grundsätzlich ergebnisoffen beraten sollen. Letzteres ist aber zweifelhaft: Denn die Beratung soll gem. § 5 SchKG gerade dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen und die Frau dazu ermutigen, die Schwangerschaft fortzusetzen. In dieser Hinsicht können die im Beratungsgespräch vermittelten Informationen nicht neutral sein. Für eine tatsächlich freie Selbstbestimmung im Sinne von Art. 2 I GG ist es aber notwendig, dass die schwangere Frau in Kenntnis aller relevanten Tatsachen und Umstände die Entscheidung trifft. Diese Kenntniserlangung erfasst auch das Recht, sich die Bezugsquelle für die nach subjektiver Einschätzung notwendigen Aspekte selbst suchen und frei auswählen zu können. § 219a StGB greift damit in eine wesentliche Komponente des Selbstbestimmungsrechts aus Art. 2 I GG und Art. 2 II GG ein.
Der Eingriff in die Berufsfreiheit mag aufgrund seiner geringeren Intensität noch gerechtfertigt erscheinen. Anders liegen die Dinge bei der Informationsfreiheit und dem Selbstbestimmungsrecht. Es ist nicht ersichtlich, dass das vom Werbeverbot geschützte Rechtsgut – das ungeborene Leben – durch die sachliche Information von Ärzten in einer Weise beeinträchtigt wird, dass es das Interesse der ungewollt schwangeren Frau an sachlicher Information und Selbstbestimmung überwiegen würde. Daher ist, wenn die Vorschrift nicht einschränkend ausgelegt wird, die von der Unionsfraktion angestrebte Aufrechterhaltung der Norm verfassungsrechtlich problematisch.
Streichung von § 219a StGB – ein Verstoß gegen die staatliche Schutzpflicht?
Aber kann § 219a StGB vollständig und ersatzlos gestrichen werden, ohne nicht ebenfalls von der Verfassung geschützte Rechtsgüter zu verletzen? Eine solche Abschaffung fordern Grüne und Die Linke und bis vor kurzem galt dies auch für die SPD. Die FDP fasst dies zumindest als „zweitbeste“ Lösung ins Auge. In der Unionsfraktion sieht man dagegen verfassungsrechtliche Probleme.
In der Tat stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber mit einer Streichung des § 219a StGB gegen seine Pflicht zum Schutz ungeborenen Lebens verstieße. Diese Pflicht hat das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Abtreibungsentscheidung hergeleitet (vgl. zB BVerfGE 39, 1 = NJW 1975, 573). Die bereits erwähnte Straflosigkeit nicht indizierter Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der ersten zwölf Wochen (§ 218a Abs. 1 StGB) hat das Gericht explizit daran geknüpft, dass dann anderweitig ein wirksamer Schutz gewährleistet sein muss. Dabei hat das Gericht das beratende Schutzkonzept in seinem Grundsatz anerkannt und dem Gesetzgeber zu dessen Umsetzung genaue Vorgaben gemacht. Ihr Herzstück ist die Beratung nach § 219 StGB. Wie Michael Kubiciel in ZRP 2018, 13 deutlich macht, flankiert das Werbeverbot des § 219a StGB die Regelung des § 219 StGB. Indem es das kommerzielle oder grob anstößige Bewerben von Abtreibungen bestraft, um ihre Normalisierung und Kommerzialisierung zu verhindern (BT-Drucks. 7/1981 S. 17), trägt es zum Schutz ungeborenen Lebens bei. Dass dieser Schutz nur mittelbar erfolgt, vermag daran nichts zu ändern (anders aber die Gesellschaft für Freiheitsrechte). Die vollständige Streichung der Vorschrift würde diesen Schutz daher erst einmal beeinträchtigen.
Gegner des § 219a StGB wenden zutreffend ein, dass anstößige Werbung von Ärzten für Schwangerschaftsabbrüche durch dessen Streichung nicht folgenlos bliebe. Denn auch das ärztliche Standesrecht verbietet anpreisende Werbung, vgl. § 27 III MBO-Ä. Dieses standesrechtliche Verbot würde der Schutzpflicht ungeborenen Lebens wohl auch gerecht werden: Verletzungen der Berufsordnung können mit einschneidenden Maßnahmen bis hin zur Geldbuße oder einer Unwürdigkeitsfeststellung geahndet werden, sodass ihre Regelungen effektiven Schutz gewährleisten. In dieser Hinsicht wären die Anforderungen des Untermaßverbotes wohl erfüllt. Zwar stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass der Gesetzgeber im Bereich des Schutzes des menschlichen Lebens vor einer Tötung nicht frei auf eine strafrechtliche Regelung verzichten darf (BVerfGE 88, 203). Diese Aussage bezieht sich jedoch nicht auf das Werbeverbot, sondern auf den Schwangerschaftsabbruch als solchen, der außerhalb der Voraussetzungen des § 218a StGB strafrechtlich verboten bliebe.
Allerdings wird bei dem Verweis auf das Standesrecht häufig übersehen, dass nicht alle Berufsgruppen einem solchen unterliegen. So wäre die Veröffentlichung der Annonce eines Schwangerschaftsabbrüche anpreisenden Arztes in einer Zeitung, die bisher unter die vierte Tathandlungsvariante des § 219a StGB fällt, straflos möglich. Denn Journalisten unterliegen in Deutschland keiner entsprechenden Berufsordnung und sie machen sich auch nicht wegen Teilnahme an den Berufspflichtverletzungen der Ärzte strafbar. Hersteller von Gegenständen zur Abtreibung iSd § 219a I Nr. 2 StGB könnten ihre Produkte oder bestimmte Abtreibungsverfahren bewerben, solange sie die Vorgaben des Heilmittelwerbegesetzes und des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb einhalten, wobei ersteres in dieser Hinsicht keine großen Hürden beinhaltet und letzteres nur aggressive geschäftliche Handlungen verbietet, § 4a UWG. Private Vereine könnten Abtreibung völlig uneingeschränkt anpreisen. Dass damit eine Verringerung des Schutzniveaus einherginge, lässt sich nicht bestreiten.
Damit fällt alles auf die Frage zurück, wie genau das vom Bundesverfassungsgericht geforderte Schutzkonzept ausgestaltet sein muss und ob das Werbeverbot eine tragende Säule davon bildet. Darüber mag man streiten, handelt es sich doch letztlich um eine Abwägungsfrage. Hält man ein strafrechtliches Werbeverbot für unerlässlich, gelangt man zu dem verblüffenden Ergebnis, dass der Handlungsspielraum des Gesetzgebers minimal ist: Weder die unveränderte Beibehaltung noch die vollständige Streichung des § 219a StGB wäre verfassungsgemäß. Vielmehr bedürfte es einer Einschränkung der Norm, die die sachliche Information von Ärzten ausnähme.
Einschränkung des § 219a StGB
Ist am Ende damit die FDP mit ihrem Kompromissvorschlag der lachende Dritte? In verfassungsrechtlicher Hinsicht erscheint ihr Entwurf jedenfalls unproblematisch. Die Streichung der Variante „seines Vermögensvorteils wegen“ würde verhindern, dass die sachliche Information von Ärzten dem Verbot unterfiele. Gleichzeitig wäre die über diesen Fall hinausgehende Entkriminalisierung minimal: Von der neuen Straflosigkeit kommerzieller, aber nicht grob anstößiger Werbung profitierten höchstens einige wenige Hersteller von Gegenständen zur Abtreibung, was im Hinblick auf die Schutzpflicht wohl verkraftbar wäre. Allerdings könnte eine solche Änderung des § 219a StGB Probleme in Bezug auf das recht unbestimmte Merkmal des „groben Anstoßes“ nach sich ziehen: Es würde größere Bedeutung erlangen und könnte von den verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Lagern instrumentalisiert werden. Zu klären wäre außerdem, ob mit der Ersetzung der vier derzeitigen Tathandlungsvarianten durch den Begriff „wirbt“ die Variante des „Anbietens“ aus dem Tatbestand herausfiele. Hierfür spräche der Vergleich mit § 184 I Nr. 5 StGB, in dem das Anbieten als eigenständige Tathandlungsvariante neben dem Bewerben genannt ist.
Natürlich wären auch andere Einschränkungsmöglichkeiten denkbar. Begründet man die Notwendigkeit einer Änderung der Rechtslage wie hier maßgeblich mit der Informations- und der Selbstbestimmungsfreiheit der Frau – und weniger damit, dass Werbung für ein strafloses Verhalten nicht strafbar sein könne –, erscheint eine solche Einschränkung des § 219a StGB auch nicht als widersprüchlich.
Fazit
Die Formel des Bundesverfassungsgerichts vom straflosen, aber rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch hat ein Dilemma geschaffen: Beide Parteien picken sich den für ihre Position jeweils passenden Aspekt heraus. Die Leidtragenden sind die Frauen, das ungeborene Kind und die Ärzte, deren Interessen politisch instrumentalisiert werden. Insofern wäre es wünschenswert, wenn der Fall um Kristina Hänel den Richtern in Karlsruhe Gelegenheit böte, klarzustellen, was genau sie unter dem Konzept des Schutzes des ungeborenen Lebens verstehen und wie die Selbstbestimmungsfreiheit der Frau damit in Einklang zu bringen ist. Dies könnte bereits durch eine Vorlage des § 219a StGB durch die Berufungsinstanz nach Art. 100 I GG, spätestens aber durch die bereits angekündigte Verfassungsbeschwerde der Ärztin geschehen. Möglicherweise läge darin auch eine Chance, die Rechtsprechung zum Schwangerschaftsabbruch – die immerhin aus dem letzten Jahrtausend stammt – zu überdenken.
In einer früheren Version enthielt dieser Artikel einen Faktenfehler bezüglich der Position des Verbands der Evangelischen Frauen in Nassau und Hessen. Dieser Fehler ist korrigiert; wir bitten ihn zu entschuldigen.