Allgemeine Impfpflicht – ein kleiner Piks, ein großes verfassungsrechtliches Problem
Wir alle haben die Nase voll von der Pandemie. Die letzten zwei Jahre haben uns einst unvorstellbare Zumutungen auferlegt und massive Einschränkungen unserer Lebensqualität mit sich gebracht. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die die Welt erst für sich entdecken wollen (und können sollen), tragen in besonderem Ausmaß die Kosten der Pandemie. Je erschöpfter wir sind, desto dringender ist der Wunsch nach einem Wundermittel, das der Pandemie ein Ende bereitet. Die Impfung scheint als ein solches Heilsversprechen: Wenn nur alle mitmachen würden und sich impfen ließen, wäre es mit der Pandemie bald vorbei. Doch es machen nicht alle mit. Sollte man sie dann nicht dazu zwingen dürfen? Überwiegt nicht das gemeinschaftliche Interesse an der Pandemiebekämpfung das subjektive Interesse der Einzelnen an der „Impfverweigerung“? Am Rande sei bemerkt: Schon die Bezeichnung als „Impfverweigerer“ impliziert eine zumindest moralische Impfverpflichtung, denn verweigern kann man nur, was man eigentlich schuldig ist. Von moralischen Pflichten handelt dieser Beitrag freilich nicht, sondern es geht um die Frage einer in Recht gegossenen Impfpflicht. In der Politik wird eine solche Impfpflicht immer entschiedener gefordert. Doch hat eine solche in der derzeitigen Situation auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive Bestand?
Die körperliche Unversehrtheit ist im Grundgesetz prominent als ein zentrales Grundrecht gewährleistet (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG). Dass durch eine Impfpflicht in den Schutzbereich dieses Grundrechts eingegriffen wird, ist unstreitig. Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit ist mit einem Gesetzesvorbehalt versehen, verspricht also nicht absoluten Schutz vor staatlichen Eingriffen. Die Durchdringung der Haut ist nicht Tabu, sondern kann unter Umständen auch im Verfassungsstaat zulässig sein. Die verfassungsrechtliche Erörterung muss sich daher auf die Frage konzentrieren, unter welchen Umständen dies gerechtfertigt ist. Hierfür ist eine klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen. Die mit einer Impfpflicht verfolgten Ziele sind offensichtlich legitim: Gesundheitsschutz (früher auch „Volksgesundheit“ genannt) sowie insbesondere der Schutz vor einer Überlastung der Gesundheitssysteme. Zu erörtern ist also, ob die Impfpflicht zur Verfolgung dieses Ziels geeignet, erforderlich und angemessen ist.
Geeignetheit
Die Prüfung der Geeignetheit im verfassungsrechtlichen Sinne verbürgt nicht, dass der Einsatz eines Instruments in einem umfassenden Sinn eine kluge politische Entscheidung ist. Insoweit unterscheiden sich politischer und verfassungsrechtlicher Diskurs. Es gibt gute Gründe, besorgt zu sein, dass eine Impfpflicht den gesellschaftlichen Konflikt zwischen Ungeimpften und Geimpften weiter verschärft. Doch zum Verdikt der Verfassungswidrigkeit kann eine solche Überlegung nicht führen. Für die Geeignetheit im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung reicht aus, dass das gewählte Mittel den Zweck (etwas) fördert.
Impfung schützt nicht vollständig
Ein erster Zweifel an der Geeignetheit der Maßnahme könnte darin gründen, dass die Impfung keinen vollständigen Schutz vor Erkrankung bietet. Insofern mutet das Timing der Diskussion ohnehin etwas merkwürdig an: Je weniger und je kürzer die Impfung wirkt, desto entschiedener wird die Impfpflicht gefordert – eine je-desto-Beziehung der besonderen Art. An Covid erkranken bekanntermaßen auch Menschen, die vollständig geimpft und geboostert sind; auch von ihnen kämpfen einige auf Intensivstationen um ihr Leben. Doch um dem verfassungsrechtlichen Standard der Geeignetheit zu genügen, reicht es aus, dass die Impfung dem Gesundheitsschutz überhaupt nützt. Dies ist wissenschaftlich belegt. Die Impfung schützt zwar nicht vollständig, aber doch statistisch gesehen in erheblichem Umfang zumindest vor schweren Verläufen der Krankheit.
Flächendeckende Durchsetzung der Impfpflicht kaum möglich
Ein zweiter Einwand könnte sich auf mangelnde Möglichkeiten zur flächendeckenden Umsetzung der Impfpflicht beziehen. Es erscheint unvorstellbar, dass eine Impfpflicht auch nur halbwegs kontrolliert, durchgesetzt und sanktioniert werden kann. Für eine Rechtspflicht ist dies ein echtes Problem. Eine rechtliche Pflicht, deren mangelnde Durchsetzung vorhersehbar ist, führt zu Erosionen des Rechtsgehorsams, ist also rechtsstaatlich bedenklich und kann zudem zu erheblichen Gleichheitsproblemen führen: Auf welche Bevölkerungsgruppen werden etwa Kontrollen konzentriert? Man wünschte sich sehr, dass diese Probleme politisch hinreichend bedacht werden, zur Verneinung der Geeignetheit im verfassungsrechtlichen Sinne führen sie jedoch nicht. Denn auch insoweit ist an den verfassungsrechtlichen Standard der Geeignetheitsprüfung zu erinnern. Überzeugte Impfgegner*innen wird die Impfpflicht zwar voraussichtlich nicht erreichen können, aber dass sich einige Menschen durch eine rechtlich verbindliche Impfpflicht doch noch zur Impfung entschließen werden, ist eine plausible Annahme. Der angestrebte Zweck wird also gefördert. Als geeignet ist die Impfpflicht anzusehen.
Erforderlichkeit
Im Hinblick auf die Erforderlichkeit sind kaum Einwände vorzubringen. Erforderlichkeit bedeutet, dass es kein milderes Mittel gibt, welches gleich geeignet ist, um den angestrebten Zweck zu fördern. Da alle bisherigen Maßnahmen – von Werbekampagnen, niedrigschwelligen Impfangeboten über negative Anreize, die Ungeimpfte von weiten Bereichen des öffentlichen Lebens ausschließen und deren Leben erheblich erschweren – nicht ausgereicht haben, um eine höhere Impfquote zu erreichen, ist kein milderes Mittel ersichtlich. Auch die Erforderlichkeit ist der Impfpflicht zu attestieren.
Angemessenheit
Die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist die heikelste. Gleichsam die, an der staatliche Maßnahmen am seltensten scheitern. Entgegen der landläufigen Bezeichnung dieser Stufe als „Angemessenheit“ handelt es sich in Wirklichkeit um eine Prüfung der „evidenten Unangemessenheit“. Denn bei der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne geht es um die Abwägung zwischen der Intensität der Grundrechtseingriffe und dem Gewicht der Gemeinwohlinteressen, denen die staatliche Maßnahme dient. Eine solche Abwägung verlangt notwendigerweise Wertungen – in der Demokratie ist dazu primär der Gesetzgeber berufen. Verfassungsgerichte oder Verfassungsrechtler*innen haben die gesetzgeberischen Wertungen hinzunehmen, selbst wenn sie ihren eigenen Vorstellungen widersprechen. Eine Maßnahme kann nur dann als verfassungswidrig erklärt werden, wenn die Gewichte von Grundrechtseingriff und Gemeinwohlinteressen außer Verhältnis stehen.
Impfung – nur ein kleiner Piks?
Grundsätzlich dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass die körperliche Unversehrtheit ein Gut von sehr hohem Rang ist, da viele Facetten unseres Lebens von der körperlichen Befindlichkeit mitgeprägt werden. Zwar ist die westliche Tradition grundsätzlich von einer Höherbewertung des Geistes gegenüber dem Körper geprägt; es ist daher kein Zufall, dass die traditionelle Geschlechterordnung den Geist männlich und den Körper weiblich konnotiert. Doch diese Geringschätzung des Körpers und der Körperlichkeit hat sich verändert. Der Körper erscheint immer wichtiger, als zentraler Ort des eigenen „Ichs“ – eben der „Verkörperung“.
Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit durch eine Impfung erscheint vielen Menschen als unwesentlich: ein kleiner Piks in den Oberarm. Die Nebenfolgen der Impfung sind weit überwiegend allenfalls minimal. Aus „objektiver Sicht“, d.h. dem bei Juristen beliebten „verständigen Dritten“, könnte daher die Intensität des Grundrechtseingriffs als gering einzustufen sein. Doch eine solche Blickweise trägt nicht. Grundrechte schützen Freiheiten individueller Menschen. Entscheidend ist also die Wahrnehmung derer, die das Grundrecht in Anspruch nehmen. Es geht nicht um eine „objektive“ Beurteilung des Grundrechtseingriffs – die in Wahrheit immer die des Mainstreams ist –, sondern für Grundrechte kommt es auf das Selbstverständnis der Betroffenen an, welches allenfalls einer Plausibilitätskontrolle unterzogen werden kann. Für die Religionsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht dies mit großer Klarheit herausgestellt, aber dies gilt für alle Freiheitsrechte.
Für die Ablehnung einer Impfung kann es viele Gründe geben. Dazu mögen auch Gründe, die mit dem Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit nichts zu tun haben, wie etwa Wut auf „das System“ oder wirre Verschwörungserzählungen gehören. Es gibt aber auch Menschen, die der festen Überzeugung sind, dass Ihnen die Impfung gesundheitlich schadet. Aus der Perspektive solcher Betroffener ist die Impfung eben nicht eine lästige Bagatelle, sondern erscheint vergleichbar der Zuführung von Schadstoffen oder gar einem Gift. Eine solche Sichtweise mag vielen als absurd erscheinen, aber Grundrechte dienen eben gerade dem Schutz von Minderheiten. Dies gilt zumal, als inzwischen der enge Zusammenhang von psychischer und physischer Gesundheit bekannt ist. Die Eingriffsintensität ist also als äußerst hoch einzustufen.
Abwägung
Selbstverständlich ist auch der Gesundheitsschutz ein hohes Gut. Doch es geht nicht nur um den abstrakten Rang des betroffenen Gemeinwohlgutes, sondern auch um den Grad, in dem dieses durch die jeweilige Maßnahme verwirklicht wird. Eine Impfpflicht wäre daher möglicherweise dann zu rechtfertigen, wenn durch die Impfung eine sehr gefährliche Krankheit wirklich ausgerottet werden könnte.
Doch von einer solchen Situation sind wir derzeit weit entfernt. Die Covid-Impfungen wirken nur für verhältnismäßig kurze Zeit und möglicherweise kaum gegenüber neuen Mutationen, die das Virus in kürzester Zeit verändern. Auch Geimpfte sind am Infektionsgeschehen beteiligt und Impfdurchbrüche belasten die Intensivstationen. Der Vorteil durch eine Impfung ist also nur ein zeitlich gesehen kurzer und insgesamt gradueller. Dies kann den gravierenden Eingriff, den eine Impfpflicht mit sich bringt, nicht aufwiegen.
Auch weitere Einwände ändern an diesem Ergebnis nichts.
Relationale Grundrechtstheorie
Fraglich ist allerdings, ob diese Position, eine Impfpflicht nur unter sehr engen Voraussetzungen für verfassungsrechtlich rechtfertigbar zu halten, nicht auf Prämissen beruht, die eigentlich als überholt zu gelten haben. Ein rein individualistisches Freiheitsverständnis, in dem andere Menschen als Gefahr für die eigene Freiheit erscheinen, wird der sozialen Wirklichkeit nicht gerecht. Menschen leben nicht isoliert auf einer Insel, sondern sind in Beziehungen zu anderen Menschen eingebunden und auf diese Beziehungsgeflechte existentiell angewiesen. Richtigerweise wird daher über relationale Grundrechtstheorien nachgedacht. Doch für die Impfpflicht führt auch eine relationale Sicht zu keiner anderen Beurteilung. Zwar könnte argumentiert werden, dass die kollektive Inpflichtnahme einem relationalen Grundrechtsverständnis inhärent ist, so dass eine Impfung als Beitrag zum Schutz anderer verfassungskonform erscheint. Doch dies wäre verkürzt. Relationales Grundrechtsdenken muss die andere Person als Gegenüber anerkennen und damit bereit sein, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen. Die Sichtweise der anderen Person muss einbezogen werden. Nur so kann die wechselseitige Anerkennung als Freie und Gleiche, die unabdingbare Prämisse der Demokratie ist, gelingen. Damit aber bleibt das gravierende Gewicht des Grundrechtseingriffs gegenüber den nur graduellen Vorteilen.
Tradition als verfassungsrechtliches Argument
Impfpflichten sind im deutschen Recht traditionell ein bekanntes und immer wieder erprobtes Instrument. Auch der Parlamentarische Rat ging davon aus, dass Impfpflichten auch nach Einführung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit zulässig sein würden. Doch Tradition ist als Argument im Verfassungsrecht nur von begrenztem Wert. Im Staatsorganisationsrecht erkennen wir zwar die Staatspraxis als wichtiges Argument an, im grundrechtlichen Bereich stellt sich dies aber anders dar. Anders als die „originalists“ in den USA, die die Verfassung auf dem Stand ihrer Entstehung einfrieren wollen, ist in Deutschland die Veränderung der Verfassung in der Zeit weithin anerkannt. Es gibt zahlreiche Beispiele für erhebliche Veränderungen verfassungsrechtlicher Bewertungen: erinnert sei etwa an die zu Beginn der Bundesrepublik noch akzeptierte Kriminalisierung männlicher Homosexualität, die aus heutiger Perspektive unerträglichen Verkürzungen des Verständnisses von Gleichberechtigung oder das besondere Gewaltverhältnis. Veränderungen gab es aber eben auch im Hinblick auf den Schutz des eigenen Körpers: Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Prügelstrafe würde heute wohl niemand mehr behaupten. Tradition ist im Grundrechtsschutz ein schlechtes Argument.
Kein Impfzwang
Politisch gefordert wird eine Impfpflicht, aber kein „Impfzwang“. Die Impfpflicht soll also nicht zwangsweise durchgesetzt werden, sondern lediglich das Nicht-Befolgen der Pflicht durch eine Geldbuße sanktioniert werden. Man könnte daraus folgern, dass die Eingriffsintensität geringer einzustufen ist, weil ein zwangsweiser Eingriff nicht erfolgen wird. Eine solche Argumentation geht fehl. Es ist die Sichtweise der Ökonomen, Rechtspflichten nicht als Pflicht zur Befolgung aufzufassen, sondern den Nutzen (eines Verstoßes) gegen die Kosten (also die Sanktion) abzuwägen. Eine solche Sichtweise ist für das Recht allerdings äußerst bedenklich, denn es gibt sich damit selbst auf. Das Rechtssystem muss davon ausgehen, dass Rechtspflichten auch als Verpflichtungen gesehen werden. Möglicherweise verzichtet das Rechtssystem in bestimmten Konstellationen auf eine zwangsweise Durchsetzung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, aber das kann nicht von vornherein „eingepreist“ werden. Freikaufen ist kein rechtsstaatliches Prinzip. Ganz abgesehen von dem diskriminierenden Effekt, den die Möglichkeit des Freikaufens mit sich bringt: Für diejenigen, die sich eine Geldbuße nicht leisten können, wird die Impfpflicht eben doch zum Zwang.
Impfpflicht – kein verfassungsrechtlich zulässiger Weg aus der Pandemie
Impfpflichten sind verfassungsrechtlich nur in engen Grenzen zulässig. In der aktuellen Situation werden diese engen Grenzen verfehlt.
In der öffentlichen Diskussion ist immer wieder zu hören, dass jegliches Verständnis für die Gründe fehle, sich nicht impfen zu lassen. Eine solche Haltung ist als individuelle Meinungsäußerung hinzunehmen, wenn auch ein kommunikatives Problem. Dem Grundrechtsschutz darf sie jedoch nicht zugrunde liegen. Dieser verlangt die Bereitschaft zum Perspektivenwechsel, sonst verfehlt er seine Hauptfunktion.