07 December 2021

Die Enttabuisierung des Körpers

Sozio-kulturelle Tiefendimensionen der (rechtlichen) Diskussion über Impfpflichten

I.

Zwei Jahre nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie tritt deren staatliche Bekämpfung in eine neue Phase sein. Zwei Regulierungstypen waren bislang dominant: In den vergangenen Monaten ging es zunächst darum, das unmittelbare Risiko der Aussonderung und Aufnahme des Virus zu beschränken, vor allem durch die Pflicht zum Tragen einer Schutzmaske. Darüber hinaus wurde das Verbreitungsrisiko durch eine Reduzierung menschlicher Interaktionsbeziehungen reguliert, nicht zuletzt durch Distanzempfehlungen, Kontaktbeschränkungen und Ausgangsregelungen. In der nunmehr beginnenden dritten Phase geht es um die Reduktion der Anfälligkeit des Menschen für das Virus – und damit um eine Resilienzsteigerung des menschlichen Körpers. Was bislang ein freiwilliges Angebot war (und in Deutschland von ungefähr zwei Drittel der Bevölkerung angenommen wurde), soll nun zur Pflicht gemacht werden. Die Resilienzsteigerung, so die Hoffnung, soll nicht nur die Anfälligkeit neuinfizierter Personen für einen schweren Krankheitsverlauf senken und so den damit verbundenen Folgeproblemen entgegenwirken, angefangen von einer Belastung des Gesundheitssystems bis hin zur Gefahr von Krankheit und Tod. Die Resilienzsteigerung soll auch das Verbreitungsrisiko senken und so Dritte davor schützen, mit einem Virus infiziert zu werden, das das Potential in sich trägt, sie zu schädigen. Die Resilienzsteigerung des Gesamtkörpers der Bevölkerung soll damit auch andere – gesamtgesellschaftlich belastende – Maßnahmen der Bekämpfung des Virus unnötig machen.

Die Diskussion über Impfpflichten wird moralisch – und moralisierend – geführt. Libertäre und Liberale machen geltend, dass die Grenzen der Freiheit zur selbstbestimmten Lebensführung dort gezogen werden müssen, wo man zum unkontrollierten Risikofaktor für die Gesundheit und das Leben anderer wird. Kommunitaristisch denkende Diskussionsteilnehmer sprechen von gesellschaftlicher Solidarität und bestehen, wie inzwischen in vielen Bereichen, darauf, ihr Solidaritätsverständnis auch zwangsweise gegen Impfunwillige durchzusetzen. Utilitaristen weisen darauf hin, dass der gesamtgesellschaftliche Nutzen einer Durchimpfung der Bevölkerung enorm groß ist; sie wägen diesen Nutzen ab mit der Belastung der einzelnen Menschen, die in zeitlicher und körperlicher Hinsicht aus einer mehrfachen Impfung mit einem wissenschaftlich als sicher ausgewiesenen Impfstoff erwächst.

Damit wird die Tiefendimension der Problematik aber nicht erschlossen. Die Einführung einer Impfpflicht ist nicht zuvörderst eine moralisch (oder auch verfassungsrechtlich) zu entscheidende Frage. Es geht vielmehr darum, wie wir uns politisch und gesellschaftlich im Schnittfeld zweier – sich kreuzender – Sinnmuster positionieren wollen, die je für sich einen wichtigen Bestandteil unseres kollektiven Orientierungssystems bilden.

II.

In einem jahrhundertlangen Kampf ist es gelungen, den menschlichen Körper zu tabuisieren und so staatlichen oder gesellschaftlichen Zu- und Eingriffsansprüchen zu entziehen. Körperliches staatliches Strafen, dasdarauf hinauslief, Schmerzen zuzufügen, zu quälen und zu demütigen, wurde in einem langen Kampf der Rationalisierung des Strafrechts verboten. Der staatlichen Verwaltung ist es weitgehend verboten, auf den Körper einzuwirken; körperliche Schulstrafen und andere physisch wirkende Maßnahmen sind strikt untersagt. Schon die Fixierung des Körpers ist, wie das BVerfG 2018 herausgehoben hat, ein nur unter engen Voraussetzungen zulässiger Eingriff. Und dieses Jahr hat es dem Versuch Grenzen gezogen, eine Zwangsbehandlung untergebrachter Personen mit Schutzpflichterwägungen zu rechtfertigen. Auch die Bereitschaft, im zwischenmenschlichen Bereich eine Einwirkung auf den Körper zu dulden, ist beständig zurückgegangen, angefangen von der Beurteilung elterlicher Strafen, über die Neubewertung sexueller Belästigungen bis hin zum Einverständnis in einer Partnerschaft, dass der Körper berührt werden darf. Die genauen Ausprägungen und Inhalte dieser sozio-kulturellen Sinnsysteme sind natürlich immer im Fluss. Offensichtlich ist aber, dass sich das Verständnis des menschlichen Körpers als unantastbarer und unverfügbarer Bereich des Menschlichen in den letzten Jahren weiter verfestigt hat und in immer neue gesellschaftliche Sphären ausgedehnt wurde, von der Arbeitswelt über die Kultur bis hin zur Partnerschaft. Der Körper ist heute wie nie zuvor Gegenstand eines Eigentumsrechts des Menschen, und die Barriere, die sozial-kulturell (und in der Folge auch rechtlich) vor dem Körper aufgebaut wurde, ist so hart und unverbrüchlich wie nie zuvor.

Es wäre Ausdruck von Geschichtsvergessenheit und Weltfremdheit, wenn man erwartete, dass diese Sinngebung nicht hochkommen und als Orientierungsmuster herangezogen würde, wenn nunmehr darüber diskutiert wird, ob Staat und Gesellschaft die Resilienz eines Körpers verpflichtend gegen die vom Coronavirus ausgehenden Gefahren stärken dürfen. Immerhin: Selbst Impfpflichtbefürworter gehen nicht so weit, eine zwangsweise Impfung vorsehen zu wollen – hier hält das Tabu. Niemand wird in Frage stellen können, dass auch eine Impfpflicht, verbunden mit einer fühlbaren finanziellen Sanktionsdrohung, eine Verkürzung des „Eigentumsrechts“ am Körper bewirkt, die für Ethiker und Juristen, die an der Figur der faktisch-mittelbaren Beeinträchtigung geübt sind, eine einschneidende und prima facie rechtsverletzende Wirkung entfaltet. Auch wenn wir in einer Welt leben, in der alles abgewogen (und damit auch weggewogen) zu werden scheint, gibt es doch gute Gründe dafür, die Tabuität des menschlichen Körpers gegenüber resilienzfördernden Maßnahmen unbedingt zu setzen.

So jedenfalls diejenigen Impfpflichtgegner, die sich auf das Sinnmuster der Unverfügbarkeit menschlicher Körperlichkeit stützen. Es kommt nicht darauf an, wo die Wurzeln des Widerstands gegen eine Impfung im Tiefsten liegen (Staatsablehnung, Wissenschaftsleugnung, unvernünftige Erwartungen an eine anthropologisch informierte und hart erarbeitete Widerstandskraft des Körpers, schlichte Verweigerung von Realität). Dass sie sich aber allesamt eines Sinnmusters bedienen, das gesamtgesellschaftlich getragen wird, zuletzt gegen eine Kultur männlicher Übergriffigkeit weiter ausgebaut und so zum ersten Fixpunkt des zwischenmenschlichen Miteinanders verfestigt wurde, ist nicht nur gut erklärbar, sondern auch berechtigt. Hiergegen mit dem Verweis darauf zu argumentieren, dass in den 1950er Jahren Impfpflichten politisch noch üblich und von den deutschen Höchstgerichten juristisch gerechtfertigt worden waren, greift zu kurz, weil damals die Unantastbarkeit des Körpers eben in allen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen noch nicht so verankert war wie heute. Und hiergegen mit einer Moral zu streiten, die gestern eine Impfpflicht für unzulässig erklärt hat und heute anders argumentiert, wird die Körperlichkeit als Tabuzone nicht aufbrechen können. Natürlich kann man versuchen, das Außergewöhnliche und Einzigartige der „Gesundheitskatastrophe“ herauszustellen, die staatliche Pflicht zum Gesundheitsschutz zu verabsolutieren und so das Recht beanspruchen, ausnahmsweise in die Tabuzone des Körperlichen vordringen zu dürfen. Auch vernünftige Beobachter werden die Gefahr einer „slippery slope“-Entwicklung klar vor Augen haben: Welche Grenze wird nicht verhandelbar werden, wenn sogar die Tabuzone des Körperlichen antastbar wird? Der Anspruch, das Tabu mit einer gesamtgesellschaftlichen Freiheitsbilanz oder Nutzenabwägung utilitaristisch in Zweifel zu rücken, stellt die Verbindlichkeit eines Sinnstiftungsmusters in Frage, dessen jahrzehntelange Entwicklung als kulturell und verfassungsstaatlich enorme Errungenschaft angesehen werden muss.

III.

Damit ist die sozio-kulturelle Tiefendimension der Diskussion aber nicht erschöpfend erfasst. Gegen diese Orientierungswirkung, die das Sinnmuster der Unantastbarkeit des Körperlichen vermittelt, steht allerdings ein neueres, gegenläufiges Sinnmuster. Es ist das Bild vom Menschen als einem selbstbestimmt handelnden Unternehmer, der für den Entwurf und die gelingende Realisierung seines Lebensplans verantwortlich ist. Dieses Individuum hat sich als Wesen zu begreifen, das sich seine Identität erarbeiten muss, das mit Kreativität, Erfindungsgeist und Optimierungswillen sein Lebensumfeld zu gestalten hat und sich so Erfolg erarbeitet. Es bewegt sich damit in einem Überschneidungsfeld ökonomischer Herausforderungen und ästhetischer Erwartungen. Diese Subjektfigur macht oft auch den eigenen Körper zum Gegenstand eines Optimierungsprozesses, der auf biologische Resilienz, ästhetisches Gefallen und Durchsetzungsfähigkeit im ökonomischen Wettbewerb abzielt – bis hin, wie nunmehr im Silicon Valley, zur Überwindung der menschlichen Sterblichkeit. Körperliche Resilienz ist für diese Ausprägung spätmoderner Subjektivität nichts Fremdes. Staatliche Impfpflichten, mit denen diese Resilienz gesteigert werden soll, lassen sich damit im sozio-kulturellen Sinnmuster einer auf Selbstoptimierung angelegten Subjektivität einbetten. Wer sich an diesen Mustern orientiert, wird diese nicht nur seinen Subjektivitätsbildungsprozess bestimmen lassen. Ihr oder ihm wird es auch leicht fallen, sie zu einem geteilten Muster mit normativem Anspruch zu erklären. Das dürfte erklären, warum Forderungen nach Einführung einer Impfpflicht vor allem aus jenen Kreisen kommen, die einen selbstoptimierenden Lebensstil längst verinnerlicht haben.

Staatliche Impfzwangpolitik, die sich dieses Musters bedienen will, stößt allerdings schnell an Grenzen. Denn das spätmoderne Sinnmuster einer Subjektivität, die die Lebensform ganz auf die Optimierung des Körperlichen ausrichtet, angefangen vom täglichen Joggen bis hin zu Joga- und Meditationsstunden, hat sich nur eine Minderheit der Bevölkerung zu eigen gemacht. Zudem besteht auch innerhalb dieser Gruppe keine Einigkeit, ob die Impfung wirklich eine Optimierung bewirkt oder ob sie nicht eher den natürlichen Kreislauf durcheinanderbringt. Wer meint, seinen Körper mit Bioprodukten und Aufmerksamkeitsbewusstsein so veredeln zu können, dass er auf alle Eventualitäten vorbereitet ist, wird sich schwerlich davon überzeugen lassen, dass noch eine Stärkung mit einem frisch entwickelten und (vermeintlich) unbewährten Impfstoff hinzukommen muss.

IV.

Die gesellschaftliche, politische (und letztlich: verfassungsrechtliche) Diskussion über die Impfpflicht geht damit am Wesentlichen vorbei. Die Diskussion über die Einführung einer Impflicht führt in ein politisches Dilemma, weil sie zur Positionierung im Umgang mit den sinnstiftenden Mustern zwingt, die vorstehend kurz skizziert wurden. Schon im Grundansatz verfehlt ist es vor diesem Hintergrund, eine staatliche Schutzpflicht zugunsten des Schutzes von Leben und Gesundheit so zu hypostasieren, wie dies seit April 2020 zu beobachten ist. Wer davon spricht, dass diese Schutzpflicht keine roten Linien kennt und alles übertrumpft, widerspricht allen gesellschaftlichen Sinnmustern darüber, was uns wichtig ist. Eine differenzierende ethische Bewertung ist gewiss hilfreich, wird aber letztlich nicht zu einem eindeutigen Bild führen; zudem sollte sich die Politik nicht hinter den Stellungnahmen ethischer Gremien verstecken. Die verfassungsrechtlichen Routinen einer Verhältnismäßigkeitsabwägung zwischen verschiedenen Werten, Schutzpflichten und Grundrechten werden nichts zutage fördern, was nicht vorher durch die Gewichtung der eingehenden Gründe bereits entschieden worden ist – sie rationalisiert, wie zuvor geurteilt worden ist. Wer in sie eintritt, hat den Konsens über die Tabuität menschlicher Körperlichkeit im Kern schon aufgekündigt.

Wie ist in einer Situation zu verfahren, in dem sich eine staatliche Maßnahme im Schnittfeld widerstreitender und unvereinbarer Sinnmuster bewegt, die je für sich in einzelnen Bevölkerungskreisen Orientierungswirkung haben? Staatliche Impfpflichtpolitik wird sich jedenfalls nicht damit begnügen können, moralisch zu argumentieren. In Zeiten, in denen auch Moralität so pluralistisch ist wie die Lebensstile und Wertmuster der Bevölkerung, werden Argumente zum Schädigungsverbot oder zu angeblichen Solidaritätspflichten nicht ausreichen, um die tabuisierte und für staatliche Zwangseingriffe unverfügbare Sphäre menschlicher Körperlichkeit nunmehr (wieder) zu öffnen und für staatliche (Resilienz- und Optimierungs-)Anordnungen zugänglich zu machen. Die gegenwärtige Diskussion lässt sich nicht sinnvoll führen, ohne nicht im Blick zu haben, dass wir in ein biotechnisches Zeitalter eingetreten sind, das die Körperlichkeit zur technischen Option machen wird. Wer jetzt die Tabuität des Körpers über Abwägungsprozesse durchbricht, wird das künftig nicht mehr rückgängig machen können.

Für die Politik wäre es in der gegenwärtigen Lage eine sozio-politisch erfolgversprechende Handlungsoption, sich mit den zugrundeliegenden Sinnmustern zu befassen und auf dieser Ebene auf eine Umformation hinzuwirken. Festgeschrieben ist die Orientierung an sinnstiftenden Deutungsmustern nämlich nicht. Der staatlichen Politik ist es damit immer möglich und angeraten, im Lichte der jeweiligen Herausforderungen (und damit auch in einer Notsituation) kommunikativ auf die Identitätsbildungsprozesse der spätmodernen Subjekte einzuwirken. Nicht hilfreich ist es dabei, wenn etwas über viele Monate ausgeschlossen wird, um dann doch zur politischen Handlungsoption geklärt zu werden. Sinnvoll wäre es vielmehr gewesen, frühzeitig deutlich zu machen, wie groß der Resilienzgewinn für die einzelnen Menschen ist, der sich mit einer einfachen Impfung erreichen lässt, verbunden mit einer frühzeitigen Kommunikation, welche Nachteile am Arbeitsplatz und im gesellschaftlichen Leben zu erwarten sind, wenn man sich der Erwartung zur biologischen Selbstverbesserung nicht stellt. Schon früh hätte man daher die Pandemie zum Anlass nehmen müssen, die gesellschaftliche Relevanz eines resilienzorientierten Sinnmusters zu betonen; spätestens nach Verfügbarkeit von Impfstoffen hätte man es kommunikativ zum „Leitmuster“ erklären müssen. Genau das Gegenteil war der Fall: Es sei daran erinnert, dass sich weite Teile der deutschen Politik sowie einer Reihe von Ethikern und Rechtswissenschaftlern vor genau einem Jahr noch intensiv darum bemühten, zu erklären, warum Ungeimpfte nicht schlechtergestellt werden dürften. Eine absehbar unhaltbare Position – aber gleichwohl eine, die die öffentliche Meinungsbildung über Wochen beschäftigte.

Die Formulierung und gesellschaftliche Verbreitung bestimmter Sinnmuster ist eine Strategie, die einen erheblichen Preis hat. Sie bringt es mit sich, dass diejenigen, die sich der Übernahme des Sinnmusters entziehen (konkret: die sich der Impferwartung entziehen), als pathologisch dargestellt und so gesellschaftlich ausgegrenzt werden, dass ihre politische Stimme nicht mehr gehört werden muss. Es ist eine alte Erfahrung, dass sozio-kulturelle Sinnmuster nicht vorwiegend dadurch verschwinden, weil die sich darauf stützenden Subjekte irgendwann sterben. Sie werden auch nicht dadurch aus der Gesellschaft verdrängt, dass man sie mit guten Gründen kritisiert. Sie werden vielmehr durch Pathologisierung unsichtbar gemacht. Derartige Prozesse sind in der politischen Diskussion inzwischen deutlich sichtbar.

Es ist eine offene Frage, ob die Einführung einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht zur weiteren Bekämpfung der Pandemie so unumgänglich ist, dass man ein kulturstaatlich mühsam erarbeitetes Tabu in Frage stellen will – gerade in Zeiten eines biotechnischen Umbruchs. Es ist auch eine offene Frage, ob man es in Kauf nimmt, dass die sich darauf stützenden Bevölkerungsteile in der Konsequenz pathologisiert werden. Die Politik sollte die Gefahren, die damit einhergehen, ernst nehmen, gerade in einer Situation, in der ein schnell erlassenes Impfpflichtgesetz einen mühelosen Ausweg aus den Beschwernissen der Pandemie zu versprechen scheint.