15 April 2016

Anmerkung zur Ermächtigung der Bundesregierung im Fall Böhmermann

Im ersten Moment macht die Entscheidung sprachlos – hat sich die Regierung gerade ernsthaft einem Despoten gebeugt? Hat Merkel sich im Fall Böhmermann gerade gegen ihren eigenen Staatsbürger und auf die Seite Erdogans gestellt?

Im zweiten Moment denkt man – ja, auch hier – über den Kontext nach, in dem Merkel diese Entscheidung mitgeteilt hat. Er besteht aus mehreren Teilen:

Erstens hat sie eine Einmischung der Regierung, der Exekutive, in eine Sache der Judikative abgelehnt. Das scheint mir aber nur die vordergründige Rechtfertigung zu sein – tatsächlich antwortet diese Ablehnung auf das, was Erdogan tut, wenn er fortlaufend seine Gerichte zu entmachten versucht.

Zweitens hat sie die Türkei als Partner und EU-Beitrittskandidat eingeführt – nur um dann umso deutlicher auf die Grundrechtsverletzungen, insbesondere in der Meinungs- und Pressefreiheit, hinzuweisen.

Drittens hat sie mehrfach (!) die große Bedeutung der hier betroffenen Grundrechte betont: Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit – und ihre Abwägung gegen das Persönlichkeitsrecht Erdogans explizit der Judikative übertragen. Das signalisiert: Hier wird der Fall Böhmermann unabhängig und vor Gericht entschieden – und unsere Grundrechte sind so stark, dass sie – und nicht die Regierung – die Entscheidung der Richter leiten werden, deren Aufgabe es ist, darüber zu entscheiden.

Viertens hat sie die Uneinigkeit der Koalition hervorgehoben und damit aus diplomatischer Sicht der eigenen Entscheidung weniger Gewicht gegeben.

Fünftens hat sie den Paragraphen, zu dem sie in dieser Erklärung Stellung genommen hat, zur baldigen Abschaffung freigegeben – und damit auch dessen Bedeutung, zumindest in politischer Sicht, stark eingeschränkt

Und sechstens hat sie ausdrücklich betont, dass die Ermächtigung – als formaler Vorgang, der sie ist – weder eine Vorverurteilung des Beschuldigten, noch eine Entscheidung der Regierung signalisiert. Sicher der schwächste Punkt, angesichts von Merkels vielleicht diplomatischem, aber höchst unbedachtem Kommentare, es hätte sich um eine „bewusst verletzende“ Äußerung gehandelt.

Wenn ich alles das zusammennehme mit der Entscheidung, dann sagt sie aus meiner Sicht u. a. Folgendes: ‚Wir ermächtigen die Staatsanwaltschaft, im Sinne des §103 gegen Jan Böhmermann vorzugehen, weil wir uns sicher sind, dass ein deutsches Gericht der richtige Ort ist, um die Grund- und Freiheitsrechte Böhmermanns gegen Erdogans Strafantrag abzuwägen.‘ Nach meiner Lektüre einiger juristischer Positionen zu dem Thema würde ich vermuten (ohne es gut begründen zu können), dass die Regierung sich hinreichend sicher ist, dass Erdogan vor Gericht scheitert.

Auf der dunklen Seite dieser Entscheidung steht freilich der Pragmatismus dieser Regierung, die politisches symbolisches Handeln durch ständige Delegierung, paternalistisches Verhalten (hier: wir instrumentalisieren den Fall Böhmermann, um Erdogan rechtsstaatlich zu erziehen) und risikoarmes Verschieben von endgültigen politischen Urteilen ersetzt.

Damit verbunden ist allerdings ein nicht zu unterschätzendes Moment der Risikohaftung, wie es solchen Verschiebetaktiken stets inhärent ist:

Wird Böhmermann freigesprochen, dann gewinnt die Regierung – weil sie im Nachhinein als Klügere dasteht, ohne sich die Hände schmutzig gemacht zu haben –, dann gewinnt auch Jan Böhmermann, weil er, quasi als ‘Märtyrer’ der Meinungsfreiheit, gegen einen Despoten angetreten ist. Und unsere Grundrechte erfahren subjektiv *) eine Stärkung, weil sie diesen populistischen Angriff abgewehrt haben. Ein verlockender Einsatz.

Wird Böhmermann jedoch verurteilt – dann verliert nicht nur er, sondern verliert auch die Schutzfunktion der Grundrechte als fundamentale international anerkannte Abwehrrechte subjektiv an Glaubwürdigkeit. Es verliert aber auch und vor allem die Regierung, der man spätestens dann politisch vorwerfen kann, dass sie aus Machtkalkül und rechtspositivistischer Ideologie heraus das Signal an die Despoten der ganzen Welt gegeben hat, dass die hochgelobte westliche Form der Demokratie beginnt, an ihrer eigenen bürokratischen Selbstauslegung zu ersticken. In diesem Fall wäre diese Entscheidung – als symbolischer politischer Akt – sogar ein Fall für die Geschichtsbücher:

Der Tag, an dem technokratisches Kalkül, menschenverachtende internationale Politik und die subjektive Unterordnung der Grundrechte unter das (durch sie erst ermöglichte) Strafrecht die Abenddämmerung der Demokratie einläutete.

In dieser Spannung müssen wir bleiben – und dürfen dann aber, wenn der Prozess sich entscheidet, nicht zögern, wenn es darum geht, dem im Kern apolitischen Handeln der deutschen Regierung eine politische Auslegung entgegenzusetzen. Und sei es nur, um sie und nachfolgende Generationen von Politikern wieder zur Politik, d. h. zum symbolischen Handeln innerhalb eines von demokratischen Grundrechten garantierten Rahmens zu erziehen.

*) Dass die Grundrechte ‚subjektiv‘ eine Stärkung oder Schwächung erfahren, ist aus dialektischer Sicht nicht ohne Bedeutung: Als Postulate besitzen sie Rechtsform, nicht aber primär, sondern erst tertiär Geltung qua Rechtsgeltung. Ihre sekundäre (eigentliche) Geltung ergibt sich aus den Vernunftschlüssen, die sie ermöglichen – aber als Postulate (also: konstitutive Forderungen) sind sie primär vor allem auf eine stetige affirmative diskursive Reproduktion angewiesen – darauf also, dass man sich auf sie positiv und mit Sicherheit bezieht, sie in diesem Bezug als die Postulate, die sie sind, anerkennt. In der – aus juristischer Sicht – nur subjektiven Anerkennung der Grundrechte durch die öffentlichen Meinung liegt also ein konstitutives Moment. Und genau dieses Moment steht, so meine These, in verschiedenen Hinsichten (Regierungshandeln, Populismus, internationale Glaubwürdigkeit usw.) zur Disposition.


SUGGESTED CITATION  Zorn, Daniel-Pascal: Anmerkung zur Ermächtigung der Bundesregierung im Fall Böhmermann, VerfBlog, 2016/4/15, https://verfassungsblog.de/anmerkung-zur-ermaechtigung-der-bundesregierung-im-fall-boehmermann/, DOI: 10.17176/20160419-111706.

26 Comments

  1. Klaus Nolte Fri 15 Apr 2016 at 21:45 - Reply

    Wenn Böhmermann ein paar Euronen blechen muss, weil er einen Menschen (<- ja, Erdogan ist trotz allem einer von uns!) maximal beleidigt, dann kommt es zu Demokratiedämmerung.

    Mir dämmerte es bereits etwas früher: No Bailout Rechtsbruch, Staatsfinanzierung durch die EZB, faktische Aufhebung der Staatsgrenze für ein freundliches Gesicht …

    War wohl alles halb so schlimm und nicht der Rede wert im Vergleich zu den Leiden des jungen B. ?

  2. Matthias Goldmann Fri 15 Apr 2016 at 21:53 - Reply

    Guter Kommentar, stimme dem meisten zu. Ein Punkt wurde aber uebersehen: Erdogan hat auch als Privatmann Strafantrag gestellt. Es kommt also so oder so zu einem Ermittlungsverfahren. Damit eruebrigt sich das Argument, die Bundesregierung wuerde mit ihrer Entscheidung das Risiko eingehen, dass die “Grundrechte als fundamentale international anerkannte Abwehrrechte subjektiv an Glaubwürdigkeit” verloeren. Das zu verhindern liegt ohnehin bereits in den Haenden der deutschen Justiz.

  3. Nick Marquardt Fri 15 Apr 2016 at 22:12 - Reply

    Erfahren die Grundrechte im Falle einer Verurteilung nicht ebenfalls eine Stärkung, weil klar ist, dass auch der Mensch Erdogan sich darauf berufen kann? Es kommt allein auf die grundrechtliche Perspektive an.

  4. DPZ Fri 15 Apr 2016 at 23:13 - Reply

    @Klaus Nolte: Sie verkürzen mein Argument zur Unkenntlichkeit. Ich schließe nicht von einer (möglichen) Geldstrafe auf eine Demokratiedämmerung, sondern im Kontext der apolitischen Handlungsweise der Merkel-Regierung und der damit einhergehenden Repräsentationskrise auf eine Wette, die gut ausgehen oder schief gehen kann.

    @Matthias Goldmann: Den Punkt habe ich nicht “übersehen”, weil ich hier keine juristische, sondern eine rechtsphilosophische Bewertung abgebe und auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit der Darstellung erhebe. Der Beitrag ist – wie der Titel sagt – eine Anmerkung, kein Aufsatz. Er soll, gut philosophisch, zum Denken anregen, kein Ergebnis präsentieren.

    Der Verlust der Glaubwürdigkeit ist in meinem Argument wesentlich an den Vorgang der Ermächtigung gebunden. Wenn Sie sich einmal kurz von Ihrer juristischen Perspektive lösen, verstehen Sie, dass sich mein Argument dann gerade nicht “erübrigt”: Die Entscheidung wurde ja gefällt – in der subjektiven (öffentlichen, politischen) Wahrnehmung steht und fällt der Zuspruch damit auch mit dem Ausgang des Prozesses. Dafür sorgen bereits jetzt die entsprechenden Narrative: ‘Freiheit für Böhmermann’, ‘Ausverkauf der Meinungsfreiheit durch Merkel’ usw.

    Es ging mir darum, eine Komplementärperspektive zu der hier üblichen juristischen Perspektive anzubieten – quasi eine politische Metahermeneutik der juristischen und politischen Verknüpfungen in diesem Fall.

    @Nick Marquardt: Juristisch erfahren sie diese Stärkung – in jedem Fall. Das ist aber trivial. Damit ist klar, dass das nicht die Ebene meines Arguments sein kann. Diese Ebene bezieht sich vielmehr auf die Verknüpfung von politischer Entscheidung (Ermächtigung), juristischer Bewertung (Ermittlung, Prozess, Verurteilung) und möglicher politischer Auslegung.

    Indem Sie davon ausgehen, dass es “allein auf die grundrechtliche Perspektive an[kommt]”, verneinen Sie von vornherein die Prämisse des Beitrags, für einen kurzen Moment den juristischen Rahmen zu suspendieren, um über die Zusammenhänge von philsophischer, rechtlicher und politischer Perspektive nachzudenken. Das können Sie tun – aber dann wird der Beitrag Ihnen nichts bringen.

  5. Klaus Wenger Sat 16 Apr 2016 at 08:57 - Reply

    Was mich etwas sprachlos macht, ist dass Merkel die in sich widersprüchliche Entscheidung trifft, ein Verfahren nach einem Paragrafen loszutreten, den sie erklärtermaßen abschaffen will, so dass das Verfahren nicht mit einer Verurteilung enden kann.

  6. Klaus aus Mönchengladbach Sat 16 Apr 2016 at 11:10 - Reply

    @Daniel-Pascal Zorn:

    Sehr interessanter Artikel, dem ich allerdings mangels juristischer Ausbildung nicht in jedem Detail folgen kann.

    Nach meinem persönlichen Rechtsgefühl halte ich jedoch die Entscheidung für schlüssig und nachvollziehbar.

    In Zusammenhang mit dem Begriff “Majestätsbeleidigung” stelle ich mir die Frage, warum im aktuellen Diskurs nicht auch über den §90 StGB diskutiert wird, der für mich der eigentliche “Majestätsparagraph” und somit ähnlich antiquiert ist.

    Wie ist denn Ihre Meinung dazu?

  7. logicorum Sat 16 Apr 2016 at 12:03 - Reply

    @DPZ

    “Wird Böhmermann jedoch verurteilt… ” ff

    Einem Urteilspruch kann “das Grundrecht” und auch die Regierung durch die Anrufung nach §185 nicht entgehen. Ihr Argument in dieser Hinsicht ist daher m.E. hinfällig.

    Ich glaube Merkel (durch das Patt hat nach Presseberichten wohl sie persönlich entschieden) hat bewusst die Schwierigkeiten für sich persönlich und auch für Ihre Partei in Kauf genommen um den Türkei-Deal nicht zu gefährden. Aus Ihrer Sicht wäre das dann ein (eigenes) “Opfer” für die Flüchtlingsfrage. Die Begründungen welche Sie anbringen wären dann Beiwerk.

    MfG
    aloa5

  8. DPZ Sat 16 Apr 2016 at 13:42 - Reply

    @Logicorum: Ich stimme Ihnen zu: in “dieser Hinsicht” ist mein Argument “hinfällig”. Wenn ich richtig verstehe, handelt es sich bei dieser Hinsicht aber um die exlusiv juristische Perspektive. Mir ging es jedoch um eine diskursanalytische Perspektive, die juristische und politische Ebene sowie den öffentlichen Diskurs miteinander verbindet, vgl. meine Antwort oben. (“verurteilt” meint hier nicht “ein Urteil wird gesprochen”, sondern ist eine Ellipse: “wegen Beleidigung verurteilt.”)

    Ich stimme Ihnen zu, dass man die Entscheidung im Sinne dieses “Opfers” für die Flüchtlingsfrage lesen kann. Aber diese Möglichkeit etabliert noch keinen