Antisemitische Werke: Kunst oder Nichtkunst?
Antisemitismus ist in Deutschland kein Phänomen der Vergangenheit, sondern allgegenwärtig. In allen gesellschaftlichen Schichten und allen Lebensbereichen treten antisemitische Ressentiments in vielfältigen Erscheinungsformen auf.1) So auch in der Kunst, wie die Ereignisse um die documenta fifteen im Sommer 2022 eindrücklich gezeigt haben. Dank dieses Skandals sind längst überfällige Debatten über soziale, politische und rechtliche Reaktionsmöglichkeiten auf Antisemitismus und im konkreten Fall auf antisemitische Kunst endlich an der Tagesordnung. Aus rechtlicher Perspektive stellt sich dabei insbesondere die Frage nach dem Verhältnis von Antisemitismus und verfassungsrechtlich gewährleisteter Kunstfreiheit. Ist antisemitische Kunst noch Kunst? Wo verlaufen die Grenzen der Kunstfreiheit? Darf der Rechtsstaat mit rechtlichen Mittel gegen antisemitische Kunst vorgehen? Ist der Staat vielleicht sogar auf Grund einer verfassungsrechtlichen „Anti-Antisemitismuswertung“ zum Einschreiten gegen antisemitische Kunst verpflichtet? Oder kritisieren Künstler:innen der documenta zu Recht die „externen Eingriffe“ in ihr Grundrecht auf Kunstfreiheit gem. Art. 5 III GG?
All diese Fragen wurden im Anschuss an den documenta-Skandal diskutiert und werden es hoffentlich auch weiterhin. Vor dem Hintergrund der politischen Brisanz und der Gefahren, die von Antisemitismus ausgehen, werden zurecht Antworten der Rechtswissenschaft auf diese Fragen erwartet und „rechtsdogmatische Innovationen“ verlangt. Was dabei aber nicht hilft, sondern gar kontraproduktiv wirkt, sind große, einfache und verallgemeinernde Antworten, wie sie sowohl in der Politik als auch im Kunst- und Kulturbereich sowie in der Wissenschaft in diesem Zusammenhang häufig zu beobachten sind. So auch der Vorschlag von Hannes Ludyga, antisemitischen Werken die Kunsteigenschaft im Sinne des Art. 5 III GG abzusprechen und sie somit per se aus dem Schutzbereich der Kunstfreiheit auszuschließen.2) Nichts anderes könne sich aus der Identität der Bundesrepublik als Gegenentwurf zum NS-Regime und einer historischen Auslegung der Verfassung ergeben, so der Autor in seinem kürzlich in der NJW erschienen Aufsatz „Kunstfreiheit und Antisemitismus“. Der Kunstbegriff, wie ihn der Parlamentarische Rat bei der Verfassung des Grundgesetzes vor Augen gehabt habe, knüpfe „an demokratische Werte vor der Zeit des Nationalsozialismus an“ und schließe folgerichtig antisemitische Kunst aus.3)
I. Einfache Lösungen für vielfältige Erscheinungsformen des Antisemitismus?
Der dogmatische Ansatz, Werken aufgrund von antisemitischen Inhalten die Kunsteigenschaft abzusprechen, mag aufgrund des eigenen politischen Verständnisses und Gerechtigkeitsgefühls legitim und als vermeintlich einfache und damit adäquate Lösung eines zentralen Problems erscheinen. Jedoch ist er aus grundrechtsdogmatischer und verfassungsrechtlicher Perspektive weder zu rechtfertigen noch wünschenswert. Und mehr noch: Der Vorschlag ist nicht zu Ende gedacht, denn er würde Definitionsleistungen nach sich ziehen, die Rechtswissenschaft und Justiz nur bedingt leisten können und darüber hinaus den Dynamiken des Antisemitismus entgegenstehen.
1. Art. 5 III GG als Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Kulturdiktatur
Entgegen der Auffassung von Hannes Ludyga bietet die Entstehungsgeschichte des Art. 5 III GG keine Anhaltspunkte für einen Ausschluss antisemitischer Werke aus dem Schutzbereich der Kunstfreiheit. Die Begründung, der Parlamentarische Rat habe aufgrund der Erfahrungen aus dem NS-Regime antisemitische Werke nicht als Kunst auffassen können, unterliegt sowohl einer anachronistischen als auch romantisierenden Betrachtungsweise. Das von den Mitgliedern des Parlamentarischen Rats zwischen September 1948 und Mai 1949 ausgearbeitete Grundgesetz und mithin auch die in Art. 5 III GG normierte Kunstfreiheit war ohne Zweifel geprägt von den Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und bildete damit einen Gegenentwurf zur NS-Diktatur. Die Antwort auf diese Erfahrungen bestand aber nicht in einer erneuten Restriktion künstlerischer Freiheit, sondern in einer absolut liberalen und inhaltsneutralen Gewährleistung derselben. Gerade vor dem Hintergrund der totalitären Kontrolle der Kunst durch die Nationalsozialisten sollte der staatliche Einfluss auf die Kunst so weit wie möglich ausgeschlossen werden.4) Somit war das vorrangiges Ziel die „Befreiung der Kunst“.5) Dass darüber zum größten Teil Einigkeit herrschte, zeigt unter anderem die Tatsache, dass es weder zur Kunstfreiheit im Allgemeinen noch zu ihren Grenzen eingehende Erörterungen im Parlamentarischen Rat gab.6) Auch der dem Grundrecht zugrundliegende Kunstbegriff wurde dabei nicht problematisiert.7) Zu präsent war die „ideologische Kunstförderung“ der NS-Zeit.8) Es ist daher nicht davon auszugehen, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rats antisemitische Kunst als Problem und Herausforderung vor Augen hatten.
2. Antisemitismus und die Kraft der öffentlichen Auseinandersetzung
Ebenso wenig kann der von Hannes Ludyga zitierte sog. Wunsiedel-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als Argument für eine Restriktion des Schutzbereichs der Kunstfreiheit bezüglich antisemitischer Werke herangezogen werden. Ganz im Gegenteil widerspricht die Entscheidung einer solchen Vorgehensweise. Denn die darin enthalten Ausführungen zur Ausnahme des Verbots des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze beziehen sich ausdrücklich allein auf die Schrankenregelung des Art. 5 II 1. Alt. GG und lassen den materiellen Gehalt und damit den Schutzbereich des Grundrechts der Meinungsäußerungsfreiheit gänzlich unberührt (Rn. 67). Folglich und umso mehr muss das auch für den Schutzbereich der Kunstfreiheit gelten. Auch dieser muss davon unbeeinträchtigt bleiben.
Darüber hinaus betont das Gericht ausdrücklich, dass kein „allgemeines nationalsozialistisches Grundprinzip“ besteht, das NS-Gedankengut allein aufgrund seines Inhalts verbietet. Vielmehr gewährt das Grundgesetz die Meinungsfreiheit „im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung [ …] grundsätzlich auch den Feinden der Freiheit“, so das Bundesverfassungsgericht (Rn. 67). Wenn es aber aus grundrechtsdogmatischer Perspektive schon nicht möglich ist, Meinungen aufgrund von nationalsozialistischen Inhalten zu verbieten, dann muss das gleichsam (und um so mehr) für antisemitisches Gedankengut gelten. Folgerichtig enthält die Verfassung auch keine „immanente Anti-Antisemitismuswertung“ wie sie hier gesehen wird und auch dem Vorschlag von Hannes Ludyga zugrunde liegt. Zumindest nicht in der Ausgestaltung, dass antisemitisches Gedankengut per se vom Grundrechtsschutz ausgeschlossen ist. Denn Nationalsozialismus und Antisemitismus sind trotz ihrer Überschneidungen nicht gleichzusetzen. In der nationalsozialistischen Rassenideologie hat Antisemitismus seine extremste und tödlichste Erscheinungsform angenommen. Antisemitische Ressentiments gab es aber bereits lange vor 1933. Als Weltdeutungen haben sie sich „über Jahrhunderte in die Kultur eingeschrieben“9) und manifestieren sich bis heute in ganz unterschiedlicher Weise. Eine Reduzierung von Antisemitismus auf NS-Ideologie, wie sie auch in gegenwärtigen Gerichtsentscheidungen häufig zu erkennen ist, greift somit zumindest aus rechtlicher Perspektive zu kurz. Denn dadurch werden gegenwärtige Erscheinungsformen des Antisemitismus ausgeblendet und relativiert, ja sogar normalisiert,10) wie sich in den fachgerichtlichen Entscheidungen zum Antisemitismusvorwurf gegen Xavier Naidoo deutlich gezeigt hat.11)
Dieser Komplexität des Antisemitismus kann folgerichtig nicht mit „einer großen Lösung“ begegnet werden, wie Christoph Möllers zurecht hervorhebt und eine solche sogar als verfassungswidrig ansieht (siehe hier, S. 45). Vielmehr bedarf es eines differenzierten und dem Einzelfall entsprechenden juristischen Umgangs. Nicht jeder Person, die antisemitisches Gedankengut verbreitet, kann eine „weltumspannende Vernichtungsfantasie“ unterstellt werden, auch wenn diese in der „Logik des Antisemitismus“ angelegt ist, wie Lukas Daum, Jeremias Düring und Constantin Luft zurecht hervorheben. Im Lichte des Rechts kann eine Rudolf Heß-Gedenkkundgebung in Wunsiedel beispielsweise nicht mit den antisemitischen Verschwörungsmythen in den Liedzeilen von Xavier Naidoo gleichgesetzt werden. Letztere können im Gegensatz zur Gedenkveranstaltung für Rudolf Heß rechtlich wohl nicht untersagt werden. Gleichsam muss der Sänger jedoch damit leben, als Antisemit bezeichnet zu werden, wenn er antisemitische Ressentiments in der Öffentlichkeit verbreitet, wie das Bundesverfassungsgericht überzeugend dargelegt hat (s. Rn. 23). Denn genau hier zeigt sich die Kraft der öffentlichen Auseinandersetzung, da nur hier eine Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Positionen möglich ist.
3. Antisemitismus: eine Frage der rechtlichen Definition?
Somit spricht neben diesen grundrechtsdogmatischen und verfassungsrechtlichen Erwägungen darüber hinaus bereits die Komplexität sowie die vielfältigen Erscheinungsformen des Phänomens Antisemitismus gegen den Ausschluss antisemitischer Kunst aus der Kunstfreiheit. Denn was ist unter dem Begriff „Antisemitismus“ und damit „antisemitischer Kunst“ zu verstehen? Was bedeutet Antisemitismus im Recht? Ist Antisemitismus überhaupt eine (Denk)kategorie des Rechts? All das wären Fragen, die bereits auf Ebene des Schutzbereichs der Kunstfreiheit zu klären wären, würde man dem Vorschlag von Hannes Ludyga folgen. Die anhaltenden Debatten in der Antisemitismusforschung zu diesem Thema zeigen, dass diese Fragen nicht leicht zu beantworten sind. Sofern es diesbezüglich überhaupt eindeutige Antworten geben kann und sollte. Als Nicht-Expert:innen auf diesem Gebiet wäre es mehr als vermessen, wenn jetzt Rechtswissenschaftler:innen mit einer Lösung daherkommen. Zumindest für rechtliche Fragen gilt, dass eine Definition des Antisemitismus als Rechtsbegriff – wenn überhaupt – nur in einem ganz eng abgesteckten Bereich und unter Beachtung der Relativität von Rechtsbegriffen realisierbar ist. Durch die Negierung der Kunsteigenschaft antisemitischer Werke wird das Problem somit lediglich verschoben und nicht gelöst. Der Diskurs und damit der Austausch über widerstreitende Rechte und Interessen wird dadurch von vornherein ausgeschlossen.
II. Für eine antisemitismuskritische Rechtswissenschaft
Ob ein antisemitisches Kunstwerk von der Kunstfreiheit gedeckt ist, darf damit keine Frage des Schutzbereichs sein, sondern ist allein auf der Ebene der Grundrechtsschranken zu prüfen. Denn nur hier kann dem Konflikt entsprechend seiner konkreten Ausgestaltung Rechnung getragen werden. Dabei kommt es in jedem Einzelfall auf die Abwägung der sich im Konflikt multipolar gegenüberstehenden Verfassungsrechte an. Inwieweit in diesem Abwägungsprozess in der Praxis alle Schutzpositionen der Betroffenen gleichermaßen Beachtung finden, bedarf einer detaillierten Untersuchung. Dabei stellt sich auch die Frage, ob und inwieweit es auf der Grundlage der klassischen Struktur und Dogmatik des Grundrechtsschutzes tatsächlich gelingen kann, strukturellem Antisemitismus in seiner Vielschichtigkeit zu begegnen. Zentrale Voraussetzung dafür ist eine antisemitismuskritische Rechtswissenschaft, die sich den Herausforderungen der komplexen Dynamiken und Erscheinungsformen von Antisemitismus offen und selbstkritisch stellt. Dabei müssen eingefahrene Denkmuster sowie Perspektivverengungen ebenso hinterfragt werden wie blinder wissenschaftspolitischer Aktionismus. Auch ein interdisziplinärer Austausch insbesondere unter Einbeziehung der Erkenntnisse der Antisemitismusforschung ist eine essentielle Grundbedingung, will man sich ernsthaft mit dem Phänomen aus rechtlicher Perspektive befassen. Ein erster Anfang hierfür ist das Verbundprojekt ASJust, das sich mit dem justiziellen Umgang mit Antisemitismus befasst. Weiterführende Forschung muss aber dringend anschließen, denn es bedarf einer kontinuierlichen und nicht nur kurzfristigen Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus in Rechtswissenschaft und Justiz.
References
↑1 | Siehe dazu insbesondere den Jahresbericht 2021 des Bundesverbands RIAS e.V. |
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↑2 | Hannes Ludyga, Kunstfreiheit und Antisemitismus, in: NJW 2023, S. 713-717 (713). |
↑3 | Ebd., S. 716. |
↑4 | Gabriele Britz in Dreier, GG Kommentar, Art. 5, Rn. 3. |
↑5 | Ulrich Meyer-Cording, JZ 1976, 737-745, 739. |
↑6 | Fabian Wittreck in Dreier, GG Kommentar, Art. 5 Abs. 3 (Kunst) Rn. 10. |
↑7 | Peter Emmerich/ Joachim Würkner, Kunstfreiheit oder Antisemitismus?, NJW 1986, 1195, 1198. |
↑8 | Bodo Pieroth, Kunstfreiheit im Verfassungswandel, 2021, S. 6. |
↑9 | Klaus Holz/Thomas Haury, Antisemitismus gegen Israel, 2021, S. 353. |
↑10 | Ebd., S. 95. |
↑11 | Siehe OLG Nürnberg, Urteil vom 22.10.2019 – 3 U 1523/18 sowie LG Regensburg, Endurteil vom 17.07.2018 – 62 O 1925/17; siehe dazu auch: Keller-Kemmerer/Löbrich, Antisemitismusvorwürfe vor Gericht, ASJust Working Paper Series (im Erscheinen). |