Anträge mit Sprengkraft
Zu den Anträgen auf Haftbefehle durch den Chefankläger des IStGH im Gaza-Konflikt
Am 20.5.2024 hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Karim A.A. Khan, bekannt gegeben, dass er in der „Situation Palästina“ mehrere Haftbefehle gegen ranghohe politische und militärische Führungspersonen beantragt hat. Die Ermittlungen der internationalen Anklagebehörde richten sich zum einen gegen die Führungselite der Hamas – namentlich gegen Yahya Sinwar als Kopf der Hamas, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri (besser bekannt als Mohammed Deif), den Anführer des militärischen Flügels der Hamas, sowie Ismail Haniyeh, den Leiter des Politbüros. Zum anderen beantragte der Chefankläger aber auch Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Yoav Galant. Politisch hat diese Entscheidung enorme Sprengkraft. Israel ging erwartungsgemäß in Abwehrhaltung. Der ehemalige Militärchef Israels und Mitglied des israelischen Kriegskabinetts, Benny Gantz, attestierte dem Chefankläger „moralische Blindheit“ und bezeichnete sein Vorgehen als „historisches Verbrechen“. Auch die USA warnten vor einer „Gleichsetzung“ Israels mit der Hamas. Dagegen hob das Auswärtige Amt hervor, dass es die Unabhängigkeit und Verfahrensabläufe des IStGH respektiere, stellte aber zugleich nochmals klar, dass die israelische Regierung das Recht und die Pflicht habe, ihre Bevölkerung vor den Angriffen der Hamas zu schützen. Der Ankläger des IStGH steht damit unter enormen politischen Druck. Auch rechtlich ist die Situation komplex. Dies liegt zum einen an dem immer noch umstrittenen völkerrechtlichen Status Palästinas und zum anderen daran, dass Israel den IStGH nicht anerkannt.
Die Zuständigkeit des IStGH in der Situation Palästina
Der IStGH wurde 1998 durch einen völkerrechtlichen Vertrag geschaffen, der am 1.7.2002 in Kraft getreten ist. Als vertragsbasierter Gerichtshof ist der IStGH weitgehend auf die Anerkennung durch die Nationalstaaten angewiesen. Nach Art. 12 Abs. 2 IStGH-Statut kann er grundsätzlich nur Verbrechen verfolgen, die auf dem Gebiet eines Mitgliedstaates (Territorialitätsprinzip) oder von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates (aktives Personalitätsprinzip) begangen werden. Universelle Gerichtsbarkeit, die unabhängig vom Tatort oder der Nationalität von Täter und Opfer ausgeübt werden kann, steht ihm nur dann zu, wenn ihm eine Situation vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Ermittlung überwiesen wird (Art. 13 lit. b] IStGH-Statut). Dies ist, wenn es (auch) um mutmaßliche völkerrechtliche Verbrechen israelischer Staatsangehöriger geht, schon deswegen ein unwahrscheinliches Szenario, da die USA ihre Vetomacht regelmäßig nutzen, um potentiell nachteilige Resolutionen gegen Israel zu verhindern. Dass der Ankläger des IStGH im Gaza-Konflikt ermitteln kann, obwohl Israel das IStGH-Statut nicht ratifiziert hat, ist Folge des langjährigen Bemühens Palästinas in völkerrechtliche Vertragssysteme eingebunden zu werden. Bereits 2009 wollte die Palästinensische Autonomiebehörde die Zuständigkeit des IStGH auf einer ad-hoc-Basis für alle völkerrechtlichen Verbrechen anerkennen, die seit dem 1.7.2002 auf dem Gebiet Palästinas begangen werden. Eine solche ad-hoc Erklärung nach Art. 12 Abs. 3 IStGH-Statut können aber nur Staaten abgeben. Der völkerrechtliche Status Palästinas war zu dieser Zeit vergleichsweise schwach; so hatte Palästina 2009 beispielsweise nur einen allgemeinen Beobachterstatus bei der UN. 2012 kam der damalige Chefankläger des IStGH Luis Moreno Ocampo dementsprechend zu dem Schluss, dass sich Palästina als „Nicht-Staat“ nicht auf Art. 12 Abs. 3 IStGH-Statut berufen und seine Anerkennungserklärung daher keine zuständigkeitsbegründende Wirkung haben könne.
In den Folgejahren konnte Palästina seine internationale Anerkennung aber beständig ausweiten. Insbesondere wurde ihm 2012 von der UN-Generalversammlung durch Resolution 67/19 der Status eines Beobachterstaates verliehen. Am 1.1.2015 erklärte Palästina erneut, dass es die Gerichtsbarkeit des IStGH in den besetzten Gebieten rückwirkend anerkenne. Einen Tag später hinterlegte Palästina seine Ratifikationsurkunde beim Generalsekretär der Vereinten Nationen mit der Folge, dass das IStGH-Statut für Palästina zum 1.4.2015 in Kraft trat. Am 22.5.2018 ersuchte Palästina den Ankläger erneut förmlich um Ermittlungen. Im Zentrum stand die israelische Siedlungspolitik, die von Palästina u.a. als Kriegsverbrechen in Form der Vertreibung und der Überführung der eigenen Bevölkerung sowie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form der Verfolgung und des Verbrechens der Apartheid eingestuft wurde. In dem sodann eingeleiteten Vorermittlungsverfahren, in dem die Anklagebehörde prüft, ob eine hinreichende Grundlage zur Durchführung formeller Ermittlungen besteht, kam dann noch einmal die Frage nach der Staatlichkeit Palästinas auf. Nach Art. 13 lit. a) IStGH-Statut können nur Vertragsstaaten dem Ankläger Situationen zur Ermittlung überweisen. Zudem bezieht sich die territoriale Gerichtsbarkeit des IStGH auf das Hoheitsgebiet von Vertragsstaaten. Um nicht unnötig Ermittlungsressourcen zu verschwenden, schaltete die Anklagebehörde die Vorverfahrenskammer ein und bat darum, vorab über die Zuständigkeit des Gerichtshofs in der Situation Palästina zu entscheiden (Art. 18 Abs. 3 IStGH-Statut). Der Vorverfahrenskammer gelang es, Rechtsklarheit zu schaffen, ohne Völkerrechtspolitik betreiben zu müssen: Sie ließ in ihrer Entscheidung aus dem Jahr 2021 die allgemeine Frage nach der Staatlichkeit Palästinas offen und beschränkte sich auf die Feststellung, dass Palästina mit erfolgreicher Ratifizierung des IStGH-Statuts in den Kreis der Vertragsstaaten aufgenommen worden ist und damit jedenfalls in diesem Kontext wie ein Staat zu behandeln sei. Daraufhin leitete die damalige Chefanklägerin Fatou Bensouda im März 2021 offizielle Ermittlungen in der Situation Palästina ein.
Da die Situationsüberweisung Palästinas zeitlich offen formuliert ist und sich auf alle völkerrechtlichen Verbrechen bezieht, die seit dem 13.6.2014 begangen wurden, bildet sie auch eine hinreichende Grundlage für Ermittlungen im Kontext der jüngsten Konflikteskalation nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7.10.2023. Am 17.11.2023 haben zudem Südafrika, Bangladesch, Bolivien, die Komoren und Dschibuti eine ergänzende Staatenüberweisung vorgelegt, die sich auf die aktuelle Situation im Gaza bezieht. Neben weiteren Kriegsverbrechen wird insbesondere auch der Verdacht geäußert, dass im Gazastreifen ein Völkermord begangen wird. In eine ähnliche Richtung zielt die Überweisung Chiles und Mexikos vom 18.1.2024, die Israel insbesondere eine unterschiedslose Kriegsführung und die Verursachung unverhältnismäßiger ziviler Kollateralschäden zur Last legen.
Zusammengefasst hat der IStGH damit Gerichtsbarkeit über völkerrechtliche Verbrechen, die
- auf palästinensischem Gebiet, einschließlich Gaza, dem Westjordanland und Ostjerusalem begangen werden. Auf die Staatsangehörigkeit der beschuldigten Personen kommt es insoweit nicht an, sodass der Ankläger auch gegen israelische Staatsangehörige vorgehen kann, obwohl Israel das IStGH-Statut nicht ratifiziert hat.
- von palästinensischen Staatsangehörigen begangen werden. Auf den Tatort kommt es nicht an. Der Ankläger kann daher auch wegen Verbrechen ermitteln, die von palästinensischen Staatsangehörigen auf dem Territorium Israels und damit auf dem Gebiet eines Nicht-Vertragsstaates begangen werden.
Die angestrebten Haftbefehle
Mit dem Antrag auf Erlass von mehreren Haftbefehlen werden die Ermittlungen auf die nächste Stufe gehoben. Sie betreffen nun nicht mehr allgemein die Situation Palästina, sondern richten sich gegen konkrete Personen. Dieser Schritt war seit mehreren Wochen erwartet worden. Insbesondere der drohende Erlass von Haftbefehlen gegen ranghohe politische und militärische Führer Israels hatte für politische Unruhe gesorgt. Netanjahu sprach in diesem Zusammenhang von einem „antisemitischen Hassverbrechen“. Wie groß der Druck auf die Internationale Strafjustiz derzeit ist, zeigt auch, dass der Präsident der Versammlung der Vertragsstaaten des IStGH am 17.5.2024 öffentlich seine Besorgnis über aktuelle Bestrebungen äußerte, die Unabhängigkeit, Integrität und Unparteilichkeit des IStGH durch „Drohungen mit Vergeltungsmaßnahmen“ („threats of retaliation“) zu unterminieren. Dies mag auch ein Grund dafür sein, dass der Chefankläger seinen Ermittlungsfokus zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt offengelegt hat – nämlich bereits mit Beantragung der Haftbefehle. Im Verfahren gegen den russischen Präsidenten Putin wurde die Öffentlichkeit beispielsweise erst informiert, als die Vorverfahrenskammer den beantragten Haftbefehl tatsächlich erlassen hat. Auch wenn die Anträge auf Erlass der Haftbefehle nicht im vollen Wortlaut veröffentlicht wurden, ist die Stellungnahme des Anklägers bemerkenswert detailliert. Dies lässt insgesamt darauf schließen, dass die Legitimität und Glaubwürdigkeit der Internationalen Strafjustiz durch ein hohes Maß an Transparenz gestärkt werden soll. Hierzu passt, dass die Anklagebehörde auch den Abschlussbericht eines hochkarätig besetzten Expertengremiums („Panel of Experts in International Law“) veröffentlicht hat, das sie bei der Entscheidung, ob Haftbefehle beantragt werden sollen, beraten hat. Hierdurch wird der internationalen Öffentlichkeit in einem außergewöhnlichen Umfang Einblick in den Entscheidungsfindungsprozess der Anklagebehörde gewährt.
Zentraler Vorwurf der angestrebten Haftbefehle gegen die Führungspersonen der Hamas ist das Kriegsverbrechen der Geiselnahme; es wird insoweit unmittelbar an den Angriff der Hamas vom 7.10.2023 auf israelischem Gebiet angeknüpft. Hinzu kommen u.a. die Verbrechen der Ausrottung, des Mordes, der Folter und unmenschlichen Behandlung sowie diverse Sexualverbrechen, die – je nach Einzelakt – als Kriegsverbrechen und / oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt werden sollen. Damit geht die Anklagebehörde in überzeugender Weise davon aus, dass zwischen der Hamas und Israel ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt besteht. Die Terrororganisation Hamas als nicht-staatliche Konfliktpartei verfügt über den hierfür notwendigen Organisationsgrad und die Auseinandersetzungen gehen in Ausmaß und Intensität deutlich über bloße innere Unruhen und Spannungen hinaus. Zugleich richtet sich die Hamas gezielt gegen die Zivilbevölkerung, sodass einiges dafür spricht, dass auch ein systematischer oder ausgedehnter Angriff gegen die Zivilbevölkerung i.S.d. Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt. Die Beschuldigten Sinwar, Deif und Haniyeh werden vom Ankläger als Mittäter eingestuft; sie sollen also auf Basis eines gemeinsamen Tatplans wesentliche Tatbeiträge zur Verwirklichung der genannten Straftatbestände geleistet haben. Ergänzend bringt der Ankläger eine mögliche Vorgesetztenverantwortlichkeit ins Spiel. Hierbei handelt es sich um eine Unterlassungsstrafbarkeit, bei der den beschuldigten (militärischen oder zivilen) Vorgesetzten zur Last gelegt wird, Verbrechen ihrer Untergebenen nicht verhindert zu haben.
Steht bei den ersten drei beantragten Haftbefehlen der Angriff der Hamas vom 7.10. und damit das Leid der israelischen Bevölkerung im Mittelpunkt, richtet sich im Weiteren der Blick des Anklägers auf die durch die Gegenoffensive Israels ausgelöste humanitäre Katastrophe. Im Mittelpunkt der Vorwürfe gegen Netanjahu und Galant steht das Kriegsverbrechen des Aushungerns der Zivilbevölkerung. Insoweit geht es um die umfassende Blockade des Gazastreifens, die dazu führte, dass die Zivilbevölkerung von Lebensmitteln, Medikamenten und anderen lebenswichtigen Gütern systematisch abgeschnitten wurde. Der Ankläger verweist insoweit explizit auch auf die Behinderung von Hilfslieferungen durch humanitäre Organisationen und die Angriffe auf ihre Mitarbeiter*innen. Darüber hinaus werden den Beschuldigten die mittäterschaftliche Begehung der Kriegsverbrechen der Verursachung großer Leiden, der vorsätzlichen Tötung und des vorsätzlichen Angriffs auf die Zivilbevölkerung zur Last gelegt. Diese mutmaßlichen Taten werden in Zusammenhang mit einem (diesmal) internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Israel und Palästina gesetzt – eine weitere mittelbare Anerkennung der Staatlichkeit Palästinas. Nach Ansicht des Anklägers existieren damit in Gaza zwei bewaffnete Konflikte parallel: ein nicht-internationaler zwischen Israel und der Hamas und ein internationaler zwischen Israel und Palästina. Da er zudem davon ausgeht, dass das israelische Militär im Kampf gegen die Hamas gezielt gegen die palästinensische Zivilbevölkerung vorgeht, legt er den Beschuldigten auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit u.a. in Form der Ausrottung, Tötung und Verfolgung zur Last.
Dass der Ankläger zeitgleich gegen Mitglieder der Hamas und der israelischen Regierung vorgeht, bedeutet nicht, dass er eine Terrorgruppe mit einer demokratisch legitimierten Regierung gleichsetzt. Er bringt vielmehr zum Ausdruck, dass das Völkerstrafrecht für alle Konfliktparteien gilt und bemüht sich um einen ausgewogenen und (soweit in diesem Konflikt überhaupt möglich) neutralen, zumindest entpolitisierten Ansatz. Damit wird der Grundstein für eine gleichmäßige Anwendung des Völkerstrafrechts gelegt. Zugleich konzentriert sich der Ankläger in diesem frühen Stadium (der Konflikt und die in ihm begangenen völkerrechtlichen Verbrechen dauern noch an) auf die Delikte, bei denen die Beweislage besonders klar zu sein scheint, und die in besonderem Maße für das immense Leid stehen, das dieser Konflikt verursacht: die Geiselnahmen israelischer Zivilist*innen und die humanitäre Katastrophe im Gaza. Die Anklagebehörde wird so zum Sprachrohr aller (zivilen) Opfer des Konflikts – unabhängig von ihrer Staats-, Religions- und sonstigen Gruppenzugehörigkeit.
Ausblick: Am Zug sind die Vorverfahrenskammer und die internationale Staatengemeinschaft
Ob dieser Ansatz das in ihm liegende Versprechen der objektiven Gerechtigkeit halten kann, wird die Zukunft zeigen. Am Zug ist nun die Vorverfahrenskammer – sie entscheidet, ob die beantragten Haftbefehle tatsächlich erlassen werden (Art. 58 IStGH-Statut). Hierzu prüft sie, ob der begründete Verdacht besteht, dass die genannten Personen ein der Gerichtsbarkeit des IStGH unterfallendes Verbrechen begangen haben und ob ein Haftgrund vorliegt. Letzteres ist dann der Fall, wenn die Festnahme der beschuldigten Person notwendig ist, um a) sicherzustellen, dass sie zur Verhandlung erscheint (Fluchtgefahr), b) sicherzustellen, dass sie die Ermittlungen oder das Verfahren nicht gefährdet (Verdunklungsgefahr) oder c) um sie gegebenenfalls an der weiteren Begehung völkerrechtlicher Verbrechen zu hindern (Wiederholungsgefahr). Erlässt die Kammer die Haftbefehle, obliegt ihre Vollstreckung den Mitgliedstaaten. Der IStGH hat keine eigene Polizeibehörde; er ist von der Kooperation der Staaten abhängig. Hier bleibt abzuwarten, wie sich politische Allianzen auf die nationale Verfolgungsbereitschaft auswirken werden. Auch für Deutschland könnten die Verfahren in Den Haag zur Herausforderung werden. Als der IStGH vor gut einem Jahr den Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten erließ, kündigte der deutsche Justizminister Marco Buschmann umgehend an, Putin festnehmen zu lassen, wenn er deutschen Boden beträte. Wird es – aller Staatsräson zum Trotz – ein ähnliches Bekenntnis zur Internationalen Strafjustiz geben, wenn ein Haftbefehl gegen Netanjahu ergeht? Jedenfalls steht zu erwarten, dass der Gaza-Konflikt den IStGH noch eine ganze Weile beschäftigen wird. Nicht nur kann der Ankläger jederzeit Haftbefehl gegen weitere Personen beantragen; er kann auch die Ermittlungen gegen die derzeit Beschuldigten ausdehnen. Die Vorwürfe, Israel begehe einen Völkermord im Gaza und habe ein Regime der Apartheid in den besetzten Gebieten errichtet, sind noch nicht vom Tisch.