13 May 2025

Wenn Richter:innen sich dumm stellen

Zum geplanten Wechsel vom Amtsermittlungs- zum Beibringungsgrundsatz im Asylrecht

Der schwarz-rote Koalitionsvertrag sieht neben zahlreichen Verschärfungen im Asyl- und Migrationsrecht auch eine gewichtige prozessuale Änderung vor. In Zeile 3090-3091 heißt es: „Aus dem ‚Amtsermittlungsgrundsatz’ muss im Asylrecht der ‚Beibringungsgrundsatz’ werden.“ Dieser Grundsatz aus dem Zivilprozess besagt, dass die Parteien den Prozessstoff selbst bestimmen und dass das Gericht seiner Entscheidung explizit nur die von den Parteien vorgebrachten Tatsachen zugrunde legen darf. Der Ansatz erscheint nachvollziehbar: Wer etwas vom Staat haben will, der soll gefälligst auch selbst erklären und beweisen, warum es ihm zustehen soll.

Viele asyl- und migrationskritische Bürger:innen werden der Meinung sein, eine solche Eigeninitiative der Geflüchteten sei ja wohl das Mindeste für den Erhalt eines Schutzstatus. Und Jurist:innen, die im Zivilrecht tätig sind, mögen darauf verweisen, dass sich der Beibringungsgrundsatz vor den Amts- und Landgerichten schon lange bewährt hat. Verwaltungsrichter:innen hingegen hadern zu Recht mit der Abschaffung des Amtsermittlungsgrundsatzes im Asylrecht. Positive Erfahrungen aus dem Zivilprozess lassen sich auf den Verwaltungsprozess – und insbesondere auf das Asylverfahren – nicht übertragen.

Realität im Asylverfahren

Die Welt des Zivilprozesses ist viel kleiner und überschaubarer als die des Asylprozesses. Der Asylprozess beschäftigt sich mit globalen Krisen, fremden Rechtssystemen, historischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Dagegen findet der Zivilprozess regelmäßig in der begrenzten „Welt“ zweier Privatpersonen in Gestalt ihres jeweiligen Rechtskonfliktes statt. Etwa rund um einen Baum, der Blätter aufs Nachbargrundstück abwirft, um einen Fahrzeugmotor, der nicht anspringt, oder um eine Wohnungswand, auf der sich Schimmel ausbreitet. Und auch in hochkomplexen Fällen, die im Zivilprozess natürlich vorkommen, sind die Beteiligten meistens mit ihrem eigenen Streitstoff gut vertraut. Darüber hinaus sind die Parteien im Zivilprozess – jedenfalls in der Theorie – gleich mächtig. Zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und einer einzelnen geflüchteten Person besteht dagegen strukturell und ohne Ausnahme ein massives Gefälle an Macht und Kapazitäten.

Dass das Asylverfahren ohne Amtsermittlung nicht auskommt, zeigt sich exemplarisch in Dublin-Verfahren. Hier prüfen BAMF und Gerichte nicht die Rückführung des Asylantragstellers in den Herkunftsstaat, sondern in den europäischen Ersteinreisestaat. Die Klage hat Erfolg, wenn das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass dem Antragsteller im Staat der ersten Einreise oder Asylantragstellung unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht, weil das dortige Asylverfahren systemisch mangelhaft ist. Diese Feststellung lässt sich nur auf Grundlage umfangreicher und aktueller Informationen zu den rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen in diesen Staaten treffen. Hier werden deshalb bisher zumeist um die 90 % des gesamten Prozessstoffes durch Amtsermittlung des BAMF und der Gerichte in das Verfahren eingeführt.

Alles, was die Geflüchteten selber praktisch zum Verfahren beitragen können, sind ihre individuellen Erfahrungen, die sie gemacht haben, während sie sich einige Wochen oder Monate (oft aber auch nur wenige Tage) beispielsweise in Griechenland, Bulgarien oder Kroatien aufgehalten haben, und das zumeist in weit abgelegenen, geschlossenen Camps. Von ihnen zu erwarten, alle wesentlichen Informationen selbst beizubringen, würde jedem Einzelnen abverlangen, vorzutragen und empirisch nachzuweisen, dass die Asylverfahren Griechenlands, Bulgariens oder Kroatiens „systemisch mangelhaft“ sind und Geflüchtete dort „mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ verelenden, obdachlos werden, inhaftiert oder von Push-backs betroffen sein werden. Und das, während die Betroffenen sich regelmäßig nicht ansatzweise mit den fremden Rechts- und Lebensverhältnissen auskennen.

Weder Antworten noch Fragen

Hinzu kommt, dass es noch lange keine beachtliche Wahrscheinlichkeit unmenschlicher Behandlung begründet, dass Geflüchtete bei ihrem ersten Aufenthalt im Ersteinreisestaat etwa Obdachlosigkeit erfahren haben. Das Bundesamt tritt dem regelmäßig mit dem Einwand entgegen, dass der Antragsteller sich beim nächsten Mal eben einfach mehr anstrengen müsste. Um das Argument zu widerlegen, dass ein „Anstrengen“ eben nicht reicht, braucht es wiederum genaue Kenntnisse der Strukturen im Ersteinreisestaat: Auf welche Sozialleistungen haben Geflüchtete Anspruch und können sie diese auch faktisch erhalten? Wie viele Plätze stehen in staatlichen Unterkünften bereit und hat der Geflüchtete nach seiner Ausreise überhaupt noch Zugang dazu? Wie aufnahmefähig ist der Arbeitsmarkt für Menschen ohne Kenntnisse der Landessprache? Stehen Privatwohnungen für geflüchtete Personen zur Verfügung und vermieten Wohnungseigentümer überhaupt an Geflüchtete? Gibt es Sprachkurse und ab wann? Gibt es Kinderbetreuung und wo? Gibt es medizinische Versorgung und welche?

Diesem Wust an Erkenntnisstoff aus Lagebeurteilungen, NGO-Berichten und Medienartikeln, die ständig aktualisiert werden und oft auch zueinander in Widerspruch stehen, Herr zu werden, überfordert schon viele Jurist:innen. Übrigens auch Asylanwält:innen, die in ihren Klagebegründungen nicht selten standardisierte und veraltete Textbausteine verwenden. Der juristische Laie ist hier völlig ratlos, denn er kennt weder die richtigen Antworten noch ist ihm klar, welche Fragen überhaupt entscheidungsrelevant sind. Er weiß nicht einmal, wo und wonach er eigentlich suchen soll. Und ein juristischer Laie, der nur Arabisch oder Suaheli spricht, der möglicherweise Analphabet oder traumatisiert ist und der vor wenigen Tagen oder Wochen erstmals deutschen Boden betreten hat, erst recht nicht. Können BAMF und Gerichte die Ermittlungen also nicht mehr selbst vornehmen, sind Fehlentscheidungen nicht nur möglich, sondern vorprogrammiert.

Der Staat stellt sich dumm

In Dublin-Fällen sind die dramatischen Konsequenzen des Beibringungsgrundsatzes besonders augenfällig, doch auch im „regulären“ Asylverfahren, in dem die Gefahren der Rückführung ins Herkunftsland geprüft werden, entstehen ähnliche Probleme. Die Geflüchteten können (und müssen schon heute) „nur“ ihr persönliches Schicksal und ihre eigenen Erfahrungen schildern; also etwa die drohende Genitalverstümmelung, die Vertreibung aufgrund des Bürgerkriegs oder die drohende Festnahme aufgrund ihres politischen Engagements. Dagegen haben sie strukturell kaum die Möglichkeit, fundiert darzulegen und zu beweisen, ob beispielsweise die heimische Polizei die drohende Zwangsbeschneidung verhindern kann und möchte, wie hoch die statistische Wahrscheinlichkeit ist, dass der Bürgerkrieg sie auch bei Flucht in einen anderen Landesteil wieder einholt, oder wie die gerichtliche Spruchpraxis gegenüber politischen Gefangenen im landesweiten Durchschnitt aussieht.

Die Entscheider:innen des Bundesamtes und die Richter:innen des Verwaltungsgerichts kennen dagegen die rechtlichen Maßstäbe. Und sie verfügen über umfangreiche Datenbanken zu den Verfolgungsgefahren in den Herkunftsländern der Geflüchteten. Offenen und entscheidungserheblichen Fragen können sie durch Einholung von Gutachten, Stellungnahmen und Auskünften begegnen. Das kostet zwar Zeit, doch geht es dabei nicht selten um die Frage von Leben, körperlicher wie psychischer Unversehrtheit und einer würdevollen Existenz. Der Beibringungsgrundsatz droht sie in die absurde Situation zu bringen, dass sie ihre über Jahre zusammengetragenen Erkenntnisse zu den Lebensumständen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen im Drittstaat nicht mehr verwenden dürfen. Stattdessen müssten sie sich bewusst „dumm stellen“ und Informationen ausblenden, solange der Geflüchtete sie nicht von sich aus vorträgt.

Offenkundig unklar

Im Zivilprozess wird der Beibringungsgrundsatz zwar dadurch relativiert, dass er nicht für offenkundige, insbesondere auch gerichtsbekannte Tatsachen gilt, die nicht erst ermittelt werden müssen. Aber auch, wenn diese Einschränkung in den Verwaltungsprozess übernommen wird, bleiben viele Fragen offen: Wenn eine Richterin etwa die Frage recherchiert, ob das Flüchtlingslager, in dem der yezidische Geflüchtete im Irak lebte, mittlerweile geschlossen wurde, wird die Information dadurch gerichtsbekannt? Oder nur dann, wenn sie rein zufällig oder in einem anderen Verfahren davon erfahren hat? Was ist die Konsequenz, wenn sie gezielt nach der Information sucht, obwohl sie „nicht durfte“? Ist das ein Verfahrensfehler, ein Verstoß gegen Beweislastgrundsätze? Ist das ein Grund für die Zulassung der Berufung? Müssen Richter dann heimlich nach Dienstschluss googeln? Und ist es dagegen völlig in Ordnung, wenn ein anderer Richter die Informationen, über die er nachweislich verfügt, nicht verwendet, weil die Beteiligten sie nicht selbst in den Prozess eingeführt haben?

Letztlich dürfte der Beibringungsgrundsatz im Asylrecht angesichts all dieser praktischen Schwierigkeiten jedenfalls nicht in einer restriktiven, mit dem Zivilprozess vergleichbaren Art und Weise umsetzbar sein. Ehe die Anwaltschaft beginnt, das Gericht in jedem Verfahren aufs Neue vorsorglich mit Länderberichten zu überhäufen, um sie zum Prozessstoff zu machen, muss man sich auch im Asylprozess darauf einigen, dass alle Tatsachen, die das Gericht dem Internet (inklusive aller üblichen Datenbanken und online veröffentlichten Medienberichten) entnehmen kann, als gerichtsbekannt und damit offenkundig gelten. Entsprechendes nimmt jedenfalls auch der Bundesgerichtshof im Hinblick auf den Zivilprozess an, zuletzt in seinem Beschluss vom 27.01.2022 (III ZR 195/20). Bleibt also sowieso alles beim Alten?

Klassenunterschied im Verwaltungsrecht

Nein, denn in jedem Fall verschiebt sich der Maßstab richterlicher Arbeit. Die Amtsermittlung, also das selbstständige Sammeln, Abgleichen und Bewerten von Informationen, wird von der gesetzlichen Pflicht des Gerichts zum Privatvergnügen der einzelnen Richterin. Die jetzt schon umstrittene Abwägung zwischen Quantität und Qualität der Entscheidungen kippt zugunsten der Quantität. Schnelle und oberflächliche Arbeit, der „Schuss aus der Hüfte“ wird aufgewertet, die sorgfältige Prüfung aller Gesichtspunkte im Einzelfall dagegen entwertet. Der Beibringungsgrundsatz lässt sich damit insbesondere fruchtbar machen, um „übermotivierte“ Richter:innen unter Druck zu setzen, sie schlecht zu beurteilen oder sie gar als befangen darzustellen. All das droht, wenn eine eigenständige und gewissenhafte Ermittlung der relevanten Tatsachen keinen Indikator für gute richterliche Arbeit mehr bildet.

Damit stellt der Beibringungsgrundsatz im Asylprozess eine erhebliche Gefahr dar: sowohl für die richterliche Unabhängigkeit als auch für die Fortentwicklung der gerichtlichen Spruchpraxis. Schon heute lässt sich mit umfangreichen Asylurteilen „kein Blumentopf gewinnen“, weil das Asylrecht in der Richterschaft weniger hoch angesehen ist als das „allgemeine“ Verwaltungsrecht (wie etwa Baurecht oder Beamtenrecht). Die Beurteilung als minderwertiges Rechtsgebiet ist schon im Asylgesetz angelegt. Dies zeigt sich darin, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nicht als Grund für die Zulassung der Berufung ausreichen (§ 78 Abs. 3 Asyl, anders als in § 124 Abs. 2 VwGO). Oder darin, dass die Sperrzeit, nach deren Ablauf neu ernannte Richter:innen auf Probe erstmals als Einzelrichter tätig sein dürfen, für das Asylrecht von einem Jahr auf sechs Monate verkürzt wurde (§ 76 Abs. 5 AsylG im Vergleich zu § 6 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Sie zeigt sich auch darin, dass Asylverhandlungen und -entscheidungen mitunter bei der dienstlichen Beurteilung der Richter:innen außer Betracht bleiben. Selbst der Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen beklagt in seiner aktuellen Stellungnahme zum Koalitionsvertrag einen Ansehensverlust der Verwaltungsgerichtsbarkeit für den Fall, dass besondere Verwaltungsgerichte für Asylrechtssachen eingerichtet werden sollten.

Asylrecht aufwerten

Mit der Abschaffung des Amtsermittlungsgrundsatzes im Asylrecht würde diese Geringschätzung noch verstärkt. Damit verdient ganz offiziell jeder Hundesteuerfall mehr richterliche Aufmerksamkeit als das Schicksal von Menschen. Selbst wenn es also nicht so weit kommen dürfte, dass Asylrichter:innen sich aufgrund der Einführung des Beibringungsgrundsatzes dumm stellen müssen, so wird ihnen doch nahegelegt, dass sie sich zukünftig dumm stellen dürfen und es auch sollen, auch wenn dabei Menschen unter die Räder geraten. Doch das Asylrecht ist das Thema Nummer 1 der letzten zehn Jahre und dient wie kaum ein anderes Recht der Wahrung der Menschenwürde. Was es tatsächlich braucht und verdient, ist keine Herabwürdigung, sondern eine Aufwertung.

Eine konsequente Aufwertung, die der Bedeutung des Asylrechts gerecht wird, erreicht man nicht allein dadurch, dass die Vertreter:innen des BAMF in den Verfahren mehr Präsenz zeigen und mehr Entscheidungsspielraum erhalten, oder dadurch, dass das Personal des Bundesamtes und der Verwaltungsgerichte weiter aufgestockt wird – auch wenn beides wünschenswert wäre. Notwendig ist aber mehr als das, nämlich diesem Rechtsgebiet angepasste Strukturen und Qualitätsmaßstäbe. Ein Asylverfahren verlangt von den beteiligten Behörden und Gerichten besondere Kompetenzen, andere als in gewöhnlichen Verwaltungsverfahren. Diese Kompetenzen müssen gezielt gefördert werden, sowohl in der juristischen Ausbildung (ein Positivbeispiel ist hier, dass kürzlich ein Dublin-Verfahren im Staatsexamen abgeprüft wurde) als auch in Schulungen von Entscheider:innen. Sie müssen sensibilisiert werden für Themen wie Rassismus, interkulturelle Kommunikation und Traumata und sich gezielt fortbilden können zu Herkunftsländern und der wechselvollen Gesetzgebung und Rechtsprechung der Europäischen Union. Auch Justizdolmetscher:innen sollten mittels Weiterbildungen und Zertifizierungen gestärkt werden, um eine qualitativ hochwertige Übersetzung der Asylanhörungen zu sichern.

Verwaltungsgerichte sollten zudem (wie in § 83 Abs. 1 AsylG vorgesehen, aber nur vereinzelt praktisch umgesetzt) besondere Asylkammern schaffen, um Richter:innen die Wahl zu lassen, ausschließlich Asylverfahren zu bearbeiten, nur einige oder auch gar keine. Das bietet sich insbesondere an für seltene Herkunftsländer, die ebenso viel Aufmerksamkeit benötigen wie Syrien oder Irak; sie aber aufgrund des geringen „Outputs“ nur selten bekommen.  Anstelle der Schaffung spezieller Verwaltungsgerichte für Asylsachen – die wegen einer zu erwartenden Zentralisierung an einem Ort für Richter:innen unattraktiv wären – könnte man auch die Gründung einer eigenen Asylgerichtsbarkeit andenken, die wie die Sozialgerichte örtlich an die Verwaltungsgerichte angedockt, organisatorisch aber selbstständig wäre.

Auch wenn die Beschleunigung von Asylverfahren für alle Beteiligten ein wichtiges Anliegen ist, darf sie niemals auf Kosten der Einzelfallgerechtigkeit und des fairen Verfahrens gehen. Gute Rechtsprechung und Verwaltung zeichnen sich dadurch aus, dass diese Prinzipien Hand in Hand gehen, anstatt gegeneinander ausgespielt zu werden.


SUGGESTED CITATION  Dörr, Carolin: Wenn Richter:innen sich dumm stellen: Zum geplanten Wechsel vom Amtsermittlungs- zum Beibringungsgrundsatz im Asylrecht, VerfBlog, 2025/5/13, https://verfassungsblog.de/asylrecht_untersuchungsgrundsatz_beibringungsgrundsatz/.

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