Asylrechtliche Einzelfallgerechtigkeit und Demokratieprinzip
Die Härtefallkommission besteht auch die Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht
Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit wurde eine Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs durch das Bundesverfassungsgericht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüft. Nachdem die gegen die Verwerfung des Parité-Wahlrechts durch den Verfassungsgerichtshof (ThürVerfGH, Urt. v. 15.7.2020 – VerfGH 2/20) eingelegte Verfassungsbeschwerde als unzulässig zurückgewiesen wurde (BVerfG v. 06.12.2021 – 2 BvR 1470/20), wählte die 3. Kammer des Zweiten Senats nun die verfahrensrechtliche Alternative der Nichtannahme zur Entscheidung wegen Unbegründetheit. Das eröffnet die Möglichkeit, zu den wesentlichen Streitfragen auch inhaltlich Stellung zu nehmen.
Streit über die Härtefallkommissionen
In der Sache ging es in den von der AFD-Fraktion im Thüringer Landtag geführten Verfahren um die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen zu den Härtefallkommissionen in § 23a AufenthG. Die hauptsächlichen Einwände richteten sich sowohl gegen die Bildung und Zusammensetzung der Kommissionen als auch die nach Ansicht der Beschwerdeführer unzureichende demokratische Legitimation der aus ihrem Vorschlagsrecht resultierenden Entscheidungen der obersten Landesbehörde.
Die heutige Regelung zur Härtefallkommission in § 23a AufenthG ersetzte eine im Entwurf des Zuwanderungsgesetzes (2005) im Rahmen des § 25 AufenthG vorgesehene sehr weite Härtefallregelung, die im Vermittlungsverfahren wegen ihrer Unbestimmtheit auf erhebliche Kritik gestoßen war. Als Sinn und Zweck der Regelung wird eine „Ventil-„ und Korrekturfunktion im Einzelfall angesehen, durch die „unerwünschte“ Folgen der grundsätzlich nicht in Frage gestellten allgemeinen gesetzlichen Regelungen korrigiert werden können. Zur Umsetzung werden die Länder ermächtigt, durch Rechtsverordnung die Errichtung und Zusammensetzung von Härtefallkommissionen zu regeln. In die Härtefallkommission werden in Thüringen nach der Konzeption der angegriffenen Verordnung Vertreter von Einrichtungen oder Organisationen, die mit den Angelegenheiten von Ausländern befasst sind, maßgebliche Teile der Bevölkerung repräsentieren oder ein sachdienliches Fachwissen besitzen, als stimmberechtigte Mitglieder einbezogen.
Die Härtefallkommissionen greifen Fälle auf, die an sie herangetragen wurden. Ein förmliches Antragsrecht der Ausländer gibt es nicht. Nach der Würdigung des Falls wird in den Fällen, in denen die Kommission einen Handlungsbedarf sieht, entsprechende nicht bindende Vorschläge der zuständigen obersten Landesbehörde zugeleitet, die dann eigenständig entscheidet. Diese Entscheidungen sind nicht justitiabel. Die Zahl der Fälle ist im Vergleich zu den regulären Entscheidungen sehr gering.
Die Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hatte sich 2021 zunächst ausführlich mit seiner Befugnis zur Prüfung einer auf Bundesrecht basierenden Rechtsverordnung am Maßstab des Landesverfassungsrechts geäußert (ThürVerfGH Urt. v. 16.12.2020 – VerfGH 14/18 und dazu Kluth ZAR 2022, 204) und war dabei ausführliche auf das Verhältnis beider Verfassungsrechtsräume eingegangen. Dabei sah er auch keine Notwendigkeit einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht.
Inhaltlich sah der Verfassungsgerichthof die Durchbrechung des parlamentsgesetzlich geregelten Systems der Aufenthaltsgewährung durch die Möglichkeit der Exekutive, auf Ersuchen einer Härtefallkommission eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, durch § 23a AufenthG als parlamentsgesetzlich ausreichend legitimiert an. Eine solche Durchbrechung sei auch mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar, solange sie normativ als enge Ausnahme für tatsächlich vorliegende Härtefälle ausgestaltet ist und diesem Ausnahmecharakter in der praktischen Handhabung Rechnung getragen wird. Auch das wurde bejaht. Schließlich sei die Tätigkeit der Härtefallkommission mit dem Demokratieprinzip vereinbar, weil sie nicht als Ausübung von Staatsgewalt zu qualifizieren sei und im Übrigen ihre andernfalls erforderliche demokratische Legitimation durch das Letztentscheidungsrecht der obersten Landesbehörde und das Zusammenwirken mehrerer Legitimationsstränge gewährleistet werde.
Im Sondervotum eines Richters wurden allerdings unter enger Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegenteilige Schlüsse abgeleitet, wobei vor allem die Vorschläge der Kommission bereits als staatliche Entscheidung qualifiziert wurden, die demokratisch nicht hinreichend legitimiert seien.
Die problematische, aber offengelassene Zulässigkeitsfrage
Unter anderem an diese Argumentation knüpfte die von der Landtagsfraktion der AFD erhobene Verfassungsbeschwerde an, die insbesondere eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs.1 Satz 2 GG sowie eine Verletzung des Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG durch Teile der Argumentation des Thüringer Verfassungsgerichtshofs
Die juristisch interessanteste Frage des Verfahrens war die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde. Diese wurde von der Kammer aber offengelassen, was richterlichem Pragmatismus entspricht. Eine Landtagsfraktion ist kein Grundrechtsträger und die Frage, ob sich Landtagsfraktion ähnlich wie Körperschaften des öffentlichen Rechts auf Prozessgrundrechte berufen können, deren Verletzung wegen der Nichtvorlage an das Bundesverfassungsgericht durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof vor allem gerügt wurde, ist in der Verfassungsrechtsprechung bislang noch nicht geklärt worden. Die besseren Gründe sprechen wohl gegen die Zulässigkeit, aber es kam letztlich nicht darauf an. Zudem hätte dazu der Senat entscheiden müssen, da die Frage noch nicht durch Senatsrechtsprechung geklärt ist.
Präzisierung des Kontrollmaßstabs gegenüber Landesverfassungsgerichten
Den größten Raum nehmen in dem Beschluss Ausführungen zum Kontrollmaßstab von Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte durch das Bundesverfassungsgericht ein. Hier zeichnet der Kammerbeschluss die bisherige Senatsrechtsprechung zum Recht auf den gesetzlichen Richter im Zusammenhang mit Vorlagepflichten nach, die vor allem verlangt, dass ein Landesverfassungsgericht sich mit der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auseinandergesetzt und eine im Rahmen der juristischen Auslegungsmöglichkeiten vertretbare Position entschieden hat.
Der Kammerbeschluss geht mit diesem Maßstab auf die einzelnen Rügen ein und überprüft die Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs jeweils mit dem Ergebnis, dass sich dieser für eine vertretbare verfassungsgerichtliche Beurteilung entschieden hat. Dabei wird inzident auch auf die abweichende Sichtweise des dortigen Sondervotums eingegangen und aufgezeigt, dass dessen Ergebnis nicht zwingend aus den in Bezug genommenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ableitbar ist. Insoweit wird vor allem betont, dass die Vorschläge der Härtefallkommission anhand der Maßstäbe, die aus früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts abzuleiten sind, nicht zwingend als Maßnahmen mit Entscheidungscharakter, d.h. mit einer rechtlichen Bindungswirkung, zu qualifizieren sind. Auch in Bezug auf die übrigen gerügten Begründungen reichen der 3. Kammer die vom Verfassungsgerichtshof angeführten Argumentation jeweils aus, um als vertretbar und nicht willkürlich eingestuft zu werden. Das ist in der Sache auch überzeugend.
Keine eigene inhaltliche Positionierung des Bundesverfassungsgerichts
Auf den ersten Blick mag nach der Lektüre des Beschlusses ein gewisses Unbehagen beim Leser zurückbleiben, weil man nicht erfährt, ob die Kammer im Falle einer eigenen Entscheidung in der Sache zu dem gleichen Ergebnis gekommen wäre. Das kann man insoweit annehmen, weil der gesamte Duktus der Argumentation in diese Richtung weist.
Wer mehr erwartet, muss aber bedenken, dass in diesem Fall in Bezug auf die Zulässigkeit eine Senatsentscheidung erforderlich gewesen wäre, weshalb es hilfreich ist, sich auch am Ende noch einmal vor Augen zu führen, dass einer Landtagsfraktion kein prozessrechtlicher Anspruch zusteht, die Vereinbarkeit von Bundesrecht mit dem Grundgesetz durch das Bundesverfassungsgericht anzustoßen. Die dafür vorgesehene abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG sieht nur die Landesregierungen als Antragsberechtigte. Auch bei der Subsidiaritätsklage nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG sind nur die Landtage als solche und nicht die Fraktionen antragsberechtigt. Insoweit stellte die Verfassungsbeschwerde letztlich den Versuch dar, insoweit einen Schleichpfad zu beschreiten, um ein nicht bestehendes Antragsrecht durch die Hintertür zu erreichen.
Vergleich zum Umgang mit der Rechtsprechung des EuGH
Abschließend ist es interessant zu beobachten, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zu den Spielräumen der Landesverfassungen und der Landesverfassungsgerichte sich auf eine Linie der Großzügigkeit und Zurückhaltung festgelegt hat, wie die Entscheidungen zur kommunalen Selbstverwaltung, zum Wahlrecht und zum Wahlprüfungsrecht aus den letzten Jahren zeigen.
Anders ist die Entwicklung im Bereich der Einwirkungen durch das Unionsrechts. Hier hat das Bundesverfassungsgericht seinen eigenen Kontrollanspruch schrittweise ausgeweitet mit der Folge, dass die Homogenitätskontrolle abnimmt, während die Integrationskontrolle zunimmt. Das ist auch deshalb interessant, weil das Gericht eigentlich gegenüber dem Landesverfassungsrecht in der stärkeren Position wäre, aber die Konfrontation eher mit dem Europäischen Gerichtshof aufnimmt. Der Grund für die unterschiedlichen Strategien dürfte neben dem jahrzehntelangen Machtkampf mit dem EuGH vor allem darin zu suchen sein, dass in diesem Verhältnis die inhaltlichen Positionen stärker voneinander abweichen.