Auf der Suche nach rechtlichen Kontrollmaßstäben
Das Public Sector Purchase Programme vor dem Bundesverfassungsgericht
Am 30. und 31. Juli verhandelte das Bundesverfassungsgericht über die Anleihenankäufe des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB). Dabei wurde erneut deutlich, wie schwierig es im Mehrebenensystem ist, in sachlich eng verflochtenen Politikbereichen den verfassungsrechtlichen Anforderungen und europarechtlich notwendigen Abgrenzungen gleichsam gerecht zu werden. Nicht zum ersten Mal steht das BVerfG vor diesem Problem und dennoch scheint die Übertragung der zuvor gefundenen Kriterien nicht ohne Weiteres möglich zu sein. Aus ökonomischer Perspektive gebe es, so die Sachverständigen, keine einheitlichen, stets gleichen Kriterien, die eindeutig eine rechtmäßige Geldpolitik kennzeichnen. Die Anwendung eines solch starren Kriterienkatalogs könnte zu einer rechtspolitischen Verzerrung der Wirklichkeit führen. Gleichzeitig erfordert es die Kompetenzordnung der EU, indem sie zwischen mitgliedstaatlicher Zuständigkeit im Bereich der Wirtschaftspolitik und unionaler Zuständigkeit für die Geldpolitik unterscheidet, eine rechtlich handhabbare Abgrenzung zu finden, die Rechtssicherheit schafft.
Vorgeschichte
Im Rahmen des Public Sector Purchase Programme (PSPP) kaufte das ESZB innerhalb von knapp fünf Jahren Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt (d.h. bereits in Umlauf befindliche Staatsanleihen) im Wert von 2.177.277 Mio. EUR an. Als Grund für die Ankäufe wurden Deflationsgefahren und mangelnder Handlungsspielraum für das ESZB im Bereich der ohnehin bereits niedrigen Zinsen genannt. Zwischenzeitlich hat der EZB-Rat die Einstellung der Nettoankäufe beschlossen, allerdings soll der derzeitige Bestand mittels Reinvestitionen zunächst weiter gehalten werden. Auch eine Reaktivierung des Programms scheint nicht ausgeschlossen, sollten die Umstände es erneut gebieten. Die nun vor dem BVerfG verhandelten Verfassungsbeschwerden richten sich zum einen gegen die innerstaatliche Anwendbarkeit und Umsetzung des Programms und zum anderen dagegen, dass Bundesregierung und Bundestag es unterlassen haben, auf die Aufhebung der entsprechenden Beschlüsse hinzuwirken. Das BVerfG hatte das Verfahren zunächst ausgesetzt und die europarechtlichen Vorfragen dem EuGH zur Vorabentscheidung gem. Art. 267 AEUV vorgelegt. Der EuGH hat hierauf geurteilt, dass es sich beim PSPP um eine verhältnismäßige geldpolitische Maßnahme handle, die nicht gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung verstoße (Fragen 1-4). Die fünfte Vorlagefrage, die sich mit einem Ausfall der Anleihen und einer Haftungsverteilung zwischen den nationalen Zentralbanken des ESZB beschäftigt, hat der EuGH wegen der aktuell rein hypothetischen Natur dieses Szenarios als unzulässig abgewiesen. Das BVerfG ist ausweislich der Verträge und der eigenen Rechtsprechung grundsätzlich an das Urteil des EuGH gebunden, es sei denn dieser handelte selbst ultra vires.
Keine Bindung an das EuGH-Urteil?
Kaum überraschend teilten die Kläger die Ansicht des EuGH nicht. Für sie ging es um nichts Geringeres als den Schutz des Rechts auf Demokratie, das sie durch die Untätigkeit deutscher Staatsorgane gegenüber den Handlungen der EZB verletzt sahen. Das EuGH-Urteil sei objektiv willkürlich und deswegen nicht bindend. Die schwierige Hürde der objektiven Willkür – eine offensichtlich schlechterdings nicht mehr nachvollziehbare Vertragsauslegung – solle das Gericht notfalls durch die Absenkung der Honeywell-Kriterien nehmen. Es ist jedoch fraglich, ob das BVerfG letzterem zustimmen wird. Ausgeschlossen scheint eine Willkürfeststellung des BVerfG auf Basis der Honeywell-Kriterien allerdings ebenfalls nicht, da der Vorsitzende Richter Voßkuhle zumindest einen „Methodenbruch“ in der Vorgehensweise des EuGH gesehen haben will. Dieser Methodenbruch ergebe sich daraus, dass der EuGH die faktischen Auswirkungen der Geldpolitik im Vergleich zum Rechtsprechungsreichtum zu faktischen Auswirkungen in anderen Bereichen, bspw. den Grundfreiheiten, nicht ausreichend berücksichtigt habe. Zwingend ist dieser Schluss keineswegs. Bei den Grundfreiheiten handelt es sich um subjektive Rechte, wohingegen der EuGH vorliegend hauptsächlich mit Kompetenzfragen befasst war, deren Beurteilung regelmäßig nicht abhängig von den faktischen Auswirkungen einer Maßnahme ausfällt. Ob in der knapperen Behandlung faktischer Auswirkungen also wirklich ein Methodenbruch liegt, ist zumindest fraglich und erfüllt schon deshalb nicht die Honeywell-Kriterien.
Auswirkungen des PSPP aus Sicht der Sachverständigen
Ein Großteil der Verhandlung diente jedoch nicht dem Austausch der rechtlichen Argumente, sondern vielmehr der Befragung einer ganzen Reihe ökonomischer Sachverständiger. Eines der Hauptanliegen der Richter war, das Ausmaß der tatsächlichen Auswirkungen des PSPP zu eruieren. Die Ökonomen zeichneten dabei ein differenziertes Bild, das teilweise im Kontrast zu den durch die Kläger angemahnten massiven negativen Folgen stand. Neben den Erfolgen (ein jährliches Inflationsplus i.H.v. ca. 0.5%; zum Vergleich: für eine ähnliche Steigerungsrate ohne Ankäufe wären weitere Zinssenkungen i.H.v. ca. 1-2% nötig gewesen) wurde zudem klar, dass sich kaum einfache Rückschlüsse ziehen lassen. Zwar spiele das Niedrigzinsumfeld eine Rolle für Vermögensumverteilungen (Nachteile für Sparer, Vorteile für Schuldner, Aktien- und Immobilieninhaber), jedoch werde diese Rolle meist überbewertet, während demographische, strukturelle und regulatorische Ursachen sowie eine nicht bedarfsgerechte Neubauplanung im Immobilienbereich vernachlässigt werden. Im Übrigen falle die Analyse für andere Mitgliedstaaten teilweise anders aus, da nicht alle dieselben System- und Regulierungsansätze verfolgten. Die Botschaft war vergleichsweise eindeutig: Anleiheankäufe in diesem Umfang und über diese Dauer sind Krisenmaßnahmen, die auch mit Blick auf die gesteigerte Risikoübernahmebereitschaft des Finanzsektors mit Bedacht eingesetzt werden sollten, aber deren Einsatz unter den gegebenen Umständen vertretbar und nachvollziehbar war. Die Sachverständigen monierten jedoch fast einhellig die mangelnde oder nicht ausreichend kommunizierte Ausstiegsstrategie, die das BVerfG wahrscheinlich zum neuen Kriterium im Rahmen der Verhältnismäßigkeit erheben wird.
Die Unmöglichkeit eines „one size fits all“-Kriterienkatalogs
Neben den Auswirkungen der Geldpolitik dienten die Fragen der Richter dazu, belastbare, verallgemeinerungsfähige Kriterien herauszuarbeiten, die eindeutig eine rechtmäßige Geldpolitik kennzeichnen. Die Juristen eigentlich wohlvertraute Antwort der Sachverständigen „es kommt darauf an“ war für die Richter in diesem Kontext sichtlich unbefriedigend. Immer wieder klang die Befürchtung durch, wechselnde Kriterien kämen einer Unkontrollierbarkeit gleich. Dabei blieb allerdings unklar, warum unterschiedliche Maßnahmen nicht differenziert und dem Einzelfall gerecht beurteilt werden sollten und woraus hierbei die Gefahr für den Rechtsstaat resultiert. Den Darstellungen der Sachverständigen war jedenfalls zu entnehmen, dass es sich bei Anleihenankaufprogrammen nicht stets um dieselbe geldpolitische Maßnahme handle, sondern es wesentlich auf die jeweiligen Umstände und die Ausgestaltung des Programms ankomme. Insofern würden rechtliche Einheitskriterien hier zu fehlerhaften Ergebnissen führen. Anstatt sich auf die vergebliche Suche nach einem „one size fits all“-Kriterienkatalog zu begeben, sollte daher ein einzelfallbezogener Ansatz gewählt werden. Damit geht keine Verringerung der Kontrolldichte einher, sondern es wird vielmehr eine engmaschige Kasuistik aufgebaut, die letztlich befriedigende Antworten bieten wird.
Die Währungspolitik im Lichte des Prinzips begrenzter Einzelermächtigung und der Verhältnismäßigkeit
Auf welche – unerwünschten – Wege die Rechtsprechung ansonsten gelangen könnte, verdeutlichte der Appell des Bundesbankdirektors Ulbrich, das BVerfG möge bitte das Mandat der EZB nicht ausweiten, indem es die Einbeziehung weitreichender Aspekte (z.B. Auswirkungen auf Sozialversicherungssysteme und die Altersversorgung) im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsabwägung anordne. Dieser zunächst überraschend anmutende Appell hat durchaus seine Berechtigung. Während der Verhandlung kristallisierte sich mehr und mehr heraus, dass das BVerfG hauptsächlich im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 5 Abs. 4 EUV) eine handhabbare Abgrenzungsmöglichkeit zwischen Geld- und Wirtschaftspolitik sieht. Versteht man diesen Grundsatz jedoch losgelöst von Art. 127 Abs. 1 AEUV, so droht tatsächlich eine Mandatsausweitung oder zumindest eine Nichterfüllung der dem ESZB in den Verträgen zugedachten Aufgabe. In der Praxis würde dies bedeuten, dass negative Auswirkungen in anderen Bereichen (unklar bleibt hier, ob dies alle, eine Mehrzahl oder nur große Mitgliedstaaten betreffen müsste) eine geldpolitisch eigentlich gebotene Maßnahme zu einer kompetenzrechtlich verbotenen Wirtschaftsmaßnahme werden ließen. Im Extremfall würden damit womöglich notwendige geldpolitische Maßnahmen zugunsten wirtschaftspolitischer Missstände (robuste, auf künftige Entwicklungen gut vorbereitete Bereiche dürften einer für sie ungünstigen Geldpolitik leichter standhalten) nicht ergriffen. Die Folge könnte eine fatale geldpolitische und wirtschaftspolitische Fehlentwicklung sein und nicht zuletzt die faktische Aufgabe einer unabhängigen Geldpolitik. Darüber hinaus stehen den Mitgliedstaaten nicht nur die umfangreicheren und adäquateren Maßnahmen zur Verfügung, auf ungewollte Auswirkungen zu reagieren, sondern es liegt gerade in ihrer Verantwortung eine solide Wirtschaftspolitik zu betreiben.
Maßstäbe für eine kompetenzrechtliche Verhältnismäßigkeitskontrolle
Welche Maßstäbe sind also an eine Verhältnismäßigkeitsprüfung anzulegen, sprich welche Belange sind einzustellen? Dies ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen Art. 5 Abs. 4 EUV und Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV. Das klare Primärziel der Preisstabilität erfordert hierfür geeignete und erforderliche Maßnahmen. In die Abwägung einzubeziehen sind insbesondere die wahrscheinlichen Erfolgschancen, die Risiken einer Untätigkeit, Auswirkungen und Risiken auf für die Geldpolitik relevanten Bereiche, also insbesondere Bereiche, die die Transmissionskanäle (geldpolitische Wirkungskanäle) betreffen. Die allgemeine Wirtschaftspolitik darf nur subsidiär unterstützt werden, also wenn Maßnahmen zur Sicherung der Geldpolitik nicht notwendig (erforderlich) sind, wobei der Preisstabilität im Konfliktfall der Vorrang einzuräumen ist (Art. 127 Abs. 1 AEUV). Ausgehend von Art. 127 Abs. 1 AEUV ist es daher weder rechtswidrig noch verantwortungslos, die Preisstabilität zur Priorität zu machen. Vielmehr hat das ESZB genau hierfür das Mandat erhalten und nur eine klare, begrenzte Zielsetzung rechtfertigt eine unabhängige Stellung im demokratischen System. Dass diese unabhängige Geldpolitik auf die Mitgliedstaaten gegebenenfalls. einen Reformdruck ausübt, ist in den Verträgen angelegt und durchaus gewollt.
Unter Berücksichtigung dieser Aspekte erklärt sich vielleicht auch das Urteil des EuGH, selbst wenn ein intensiveres Eingehen auf einzelne Abwägungsbelange für einen fruchtbaren Dialog mit dem BVerfG im hiesigen Verfahren hilfreich gewesen wäre.
Das Verbot monetärer Staatsfinanzierung – Kontrollmaßstäbe
Das Verbot der monetären Staatsfinanzierung (Art. 123 AEUV) oder vielmehr dessen Umgehung bildete einen weiteren Verhandlungsblock. Auch hier wurden abermals Kriterien gesucht, anhand derer sich eine Umgehung feststellen ließe. Der EuGH geht von einer Umgehung aus, wenn einerseits die Marktteilnehmer des Primärmarktes nur noch als Mittelspersonen des ESZB fungieren würden, dem der direkte Erwerb der Anleihen von öffentlichen Körperschaften und Einrichtungen selbst verboten ist, und/oder wenn den Mitgliedstaaten der Marktanreiz zur soliden Haushaltspolitik genommen würde. Wichtige Eckpunkte aus Sicht der Sachverständigen seien das Maß der makroökonomischen (Staaten) und mikroökonomischen (individuelle Primärmarktteilnehmer) Gewissheit über die Ankäufe des ESZB und deren Volumen, ein funktionierender Preisbildungsmechanismus und der Anteil der gehaltenen Anleihen an der Gesamtschuldenlast eines Staates. Bisher deuten die Daten darauf hin, dass die spezielle Ausgestaltung des PSPP eine Umgehung des Verbots verhindert habe. Selbst bei den sogenannten „notorischen Schuldnerstaaten“ habe sich im Zeitraum der Programmlaufzeit ein Rückgang der zinsbereinigten Neuverschuldung (Primärsaldo) feststellen lassen. Gleichzeitig habe der Preisbildungsmechanismus auf dem Primärmarkt durchgängig funktioniert. Übersetzt auf die Kriterien, die der EuGH hierzu entwickelt hat, fungierten die Primärmarktteilnehmer also nicht lediglich als Mittelspersonen, da bei den einzelnen Händlern laut Sachverständigen noch erhebliche Unsicherheit über konkrete Ankäufe herrsche. Zudem schafft ein funktionierender Preisbildungsmechanismus einen Anreiz zu solider Haushaltspolitik für die Mitgliedstaaten, die ihre Ausgaben und Schuldenlast fortwährend finanzieren müssen.
Problematisch am Mittelspersonentest ist jedoch, dass das erforderliche Maß an Gewissheit auf mikroökonomischer Ebene wohl erst bei konkreten Ankaufsankündigungen individueller Anleihen gegeben sein dürfte. Dieser Fall wird kaum jemals eintreten und zudem dürfte dies ohnehin mit einem vorherigen Versagen des Preisbildungsmechanismus einhergehen. In dieser Form ist der Test folglich redundant. Als ausschlaggebender Aspekt stellt sich anhand der Aussagen der Sachverständigen das Maß der Gewissheit der Staaten dar, ihre Schuldenlast über einen nennenswerten Zeitraum, gegebenenfalls sogar expansiv monetär finanzieren zu können. Hierbei spielt neben der Programmdauer und der Glaubhaftigkeit eines künftigen Ausstiegs vor allem der Gesamtanteil an der staatlichen Schuldenlast eine Rolle. Wo genau die Grenzen zu ziehen sind, hängt von der jeweiligen Situation des konkreten Staates ab. Es spricht mithin einiges dafür, den Mittelspersonentest als Umgehungskriterium aufzugeben und stattdessen neben einem funktionierenden Primärmarkt auf das Verhalten der Staaten abzustellen.
Haftungsverteilung und vorbeugender Rechtsschutz
Über die noch offene, vom EuGH als unzulässig abgewiesene Frage nach den Risiken einer Haftungsverteilung verbunden mit Nachschusspflichten der Mitgliedstaaten im Falle eines Ausfalls von Staatsanleihen mag man hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeit dieses Szenarios geteilter Ansicht sein. Die überzeugenderen Gründe sprechen wohl für die rein hypothetische Natur dieses Szenarios und die Beklagtenseite verwies zu Recht darauf, dass gewissermaßen vorbeugender Rechtsschutz hier nicht geboten ist. Zum einen bedarf eine solche Haftungsverteilung eines gesonderten Beschlusses des EZB-Rates auf Grundlage von Art. 32 Abs. 4 ESZB-Satzung, der mit der Nichtigkeitsklage – aller Voraussicht nach mit Erfolg – vor dem EuGH angegriffen werden könnte. Zum anderen ist sogar eine Verfassungsbeschwerde bei Untätigkeit der Regierung mit Blick auf diese Klagemöglichkeit denkbar. Der Streit um die richtige Prognoseeinschätzung muss rechtlich daher derzeit nicht entschieden werden.
Vorbildfunktion vs. Konfrontationskurs
Letztlich hat das BVerfG in diesem Verfahren die Chance, dem währungspolitischen Mandat in wichtigen Details klarere Konturen zu geben, ohne dabei vom Ergebnis des EuGH-Urteils abweichen zu müssen. Auf diese Weise könnte das BVerfG das Kooperationsverhältnis mit dem EuGH konstruktiv fortführen und seinem verfassungsrechtlichen Auftrag als europafreundliche Kontrollinstanz gerecht werden. Ein Konfrontationskurs auf Grund partieller nationaler Befindlichkeiten scheint vorliegend mehr Gefahren als tatsächlichen Rechtsschutz zu bieten.