Ausbildungsreform als präventiver Demokratieschutz
„Die Justizministerinnen und Justizminister […] sind sich einig, dass grundlegender Reformbedarf nicht besteht.“ Aufgrund dieses Beschlusses (TOP I.4) der diesjährigen Justizministerkonferenz (JuMiKo) bleibt die juristische Ausbildung vorerst unverändert. Das Ergebnis dürfte angesichts der zahlreichen, im Sande verlaufenen Reformbestrebungen der letzten Jahre (hier und hier) nicht überraschen. Dennoch löste die Reformabsage unter dem Hashtag #iurserious eine intensive Debatte über die Verbesserung der Juristenausbildung aus, an der sich neben der Bundesrechtsanwaltskammer auch der Deutsche Juristinnenbund und der Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften beteiligten und die nun erfreulicherweise auch Gegenstand dieses Symposiums ist.
Aber noch etwas Anderes fällt auf. Die JuMiKo betonte in weiteren Beschlüssen, dass es für einen leistungsfähigen Rechtsstaat sowohl eine wehrhafte Demokratie (Nr. 6 des Beschlusses TOP I.2) als auch hochqualifizierten Nachwuchses (Nr. 2 des Beschlusses TOP I.3) bedarf. Die dazugehörigen Stellungnahmen nehmen jedoch nicht aufeinander Bezug. Auch der vorbereitende Bericht des Ausschusses zur Koordinierung der Juristenausbildung für den obengenannten (Nicht-)Reformbeschluss setzt sich nicht mit der Relevanz der Juristenausbildung und ihrer Ausgestaltung für die Demokratie auseinander.
Generell zeigt sich, dass bislang überraschend wenige das Ziel, den Rechtsstaat gegenüber autoritär-populistischen Tendenzen resilienter zu machen, mit der juristischen Ausbildung zusammenbringen (so z.B. Safferling/Dauner-Lieb, NJW 2023, 1038, 1044).
Resilienz und Bildung
Dabei ist empirisch belegt, dass Bildung, die auf Risiken und Gefahren vorbereitet, einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Herausbildung eines kritischen Bewusstseins und auf die Bewältigung von Krisen hat (Riegger, in: Kardi et. al., Resilienz, 2018, S. 221 f.). Im Falle unserer Rechtsordnung gilt dies für Jurist:innen wie Nichtjurist:innen.
Von Studienbeginn bis zum Abschluss der Zweiten Juristischen Staatsprüfung wäre viel Zeit, um spätere Richter:innen, Staatsanwält:innen, Anwält:innen oder Verwaltungsbeamt:innen auf das Missbrauchspotential des Rechts vorzubereiten und auf Einstellungen zu Rechtsstaat und Demokratie einzuwirken. Stattdessen liegt der Fokus auf der obrigkeitshörigen Vermittlung von herrschender Meinung und höchstrichterlicher Rechtsprechung. Die Methodenkompetenz – ein Einfallstor für kritisch-historische Auseinandersetzung mit dem Recht (exemplarisch Rüthers, Unbegrenzte Auslegung, 1968) – spielt demgegenüber in der Praxis eine eher untergeordnete Rolle.
Die Debatten zu wehrhaftem Rechtsstaat, Nachwuchsgewinnung und Ausbildungsreform verlaufen getrennt voneinander: Einerseits fordern Politik und Zivilgesellschaft einen besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts und Gesetzesänderungen im Bereich des Beamtendisziplinarrechts. In einem davon getrennten Debattenraum fordern teilweise auch völlig andere Akteure mehr Vermittlung von Digitalkompetenzen oder die Einführung des Jura-Bachelors. So wichtig diese Reformen im Einzelnen sind (hier und hier), sollten alle Beteiligten – Rechtspolitik, Fachverbände und rechtswissenschaftliche Fakultäten – Schnittmengen und Responsivität dieser beiden Herausforderungen stärker betonen.
Richterkönigin, Subsumtionsautomat, Demokratieverteidigerin?
Dass die Verteidigung des Rechtsstaats und dessen Personalausbildung getrennt voneinander verhandelt werden, hat viel mit dem gesetzlichen Ausbildungsziel zu tun. Leitbild der juristischen Ausbildung in Deutschland ist nach § 5 des Deutschen Richter(!)gesetzes die Befähigung zum Richteramt, also die Anwendung des geltenden – mit Ausnahme von Art. 100 GG – nicht zu problematisierenden Rechts. Diese Perspektive prägt.
Recht ist hingegen stets gestaltbar – zum Guten wie zum Schlechten. Zwar nennt § 5a Absatz 3 DRiG neben der rechtsprechenden auch die verwaltende und rechtsberatende Praxis. Die Gesetzgebungslehre („Legistik“), also die Neufassung und Veränderung von Gesetzesrecht als weitere rechtspolitisch gestaltende Tätigkeit, enthält die Norm hingegen nicht. Entsprechend lehrt das rechtswissenschaftliche Studium und der Vorbereitungsdienst in der Praxis zwar viel über das geltende Recht, hingegen wenig(er) über die dahinterstehenden ökonomischen, politischen oder ideologischen Beweggründe und damit auch über Alternativen und Missbrauchsanfälligkeiten. Diese Veränderbarkeit des Rechts sollte mit Blick auf die gesellschaftliche Autorität von Jurist:innen in der Ausbildung mehr Raum haben. Warum nicht Studierende vor die Aufgabe stellen, Urteile zu analysieren, Normen kritisch zu bewerten oder Gesetze neu zu schreiben? Liberale wie repressive Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers im Straf-, Polizei- oder Arbeitsrecht könnten einschließlich Argumenten für und gegen neue gesetzliche Regelungen diskutiert und Gerichtsentscheidungen kritisch neu geschrieben werden. Das würde der von der Praxis erwarteten Fähigkeit zur Rechtsgestaltung (Verträge, Vergleiche, Gesetzesvorschläge, etc.) ebenso dienen, wie der Erkenntnis, dass Recht nicht nur von der Politik für eigene Machtinteressen instrumentalisiert wurde und werden kann.
Kritische Erinnerungskultur in der juristischen Ausbildung
Vor dem Hintergrund anstehender Pensionierungswellen in der Justiz und dem Wahlverhalten (nicht nur) in Sachsen, Thüringen und Brandenburg stellt sich umso dringender die Frage, wie Jurist:innen, die durch das heutige Ausbildungssystem geprägt wurden, auf autoritäre Bedrohungen reagieren würden. Stellen wir insoweit schon heute ausreichend sicher, dass kommende Generationen an Jurist:innen sich nicht (erneut) als Steigbügelhalter:innen für Antisemitismus, Faschismus oder Autokratie anbieten, sondern Widerstand leisten, wenn Grundrechte und Demokratie in Frage gestellt werden?
Zahlreiche Neueinstellungen in den nächsten Jahren werden die Personalstruktur der Justiz für Jahrzehnte zementieren. Das gilt für wehrhafte wie reaktionäre Kräfte gleichermaßen.
Wie abhängig der Erhalt der Staatsform von der Haltung des juristischen Standes ist, zeigt der Blick in die Vergangenheit. Schon einmal stellte die Geschichte die Juristen – weniger die Juristinnen – auf die Probe. Nur ein Bruchteil der im Kaiserreich ausgebildeten und größtenteils antidemokratisch und -republikanisch eingestellten Hüter des Rechts widersetze sich dem Abbau von Demokratie und Rechtsstaat nach 1933.
Die Nationalsozialisten erkannten dabei früh die Nützlichkeit der Bildung für sich. Schon vor der Zeit der sogenannten Machtübernahme versuchten sie Schulen zur Erziehung in ihrem Sinne zu missbrauchen (vgl. BVerfGE 6, 132, 155 f.). Umso wichtiger wäre es, juristische Bildung heute widerständiger und historisch-kritisch auszugestalten.
Wir waren schon weiter
Aus genau diesem Bundesrat, der 2024 in seiner Stellungnahme zur juristischen Ausbildung kein Wort zur Bedeutung kritischer Erinnerungskultur für einen wehrhaften Rechtsstaat verliert, kam 2021 noch der Impuls, eine solche vorsorgende Beschäftigung mit Unrechtsregimen als Ausbildungsinhalt im Deutschen Richtergesetz zu verankern (BR-Drs. 20/21). Der Bundesrat setzte sich damals sogar dafür ein, das Missbrauchspotential des Rechts explizit als Ausbildungsgegenstand aufzunehmen (S. 15 ff.).
Seit dem 1. Januar 2022 heißt es nun in § 5a Absatz 2 Satz 3 Halbsatz 2 DRiG, dass „die Vermittlung der Pflichtfächer […] auch in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur [erfolgt]“.
Die juristische Ausbildung soll in diesem Sinne als wichtiger Baustein gegen eine Unterwanderung des Rechtsstaates stark gemacht werden, indem neben juristischem Grundlagenwissen auch politische Dimensionen des Rechts und die damit einhergehende Verantwortung bei der Rechtsanwendung vermittelt werden. Dazu gehört, sich mit der Geschichte der Instrumentalisierung von Recht für Ideologien zu beschäftigen (hier und hier) und Jurist:innen zu Mut und Bereitschaft zur Gegenrede zu erziehen, wie es in der Beschlussvorlage des Rechtsausschusses zu § 5a DRiG n.F. (BT-Drs. 19/30503, S. 21) heißt.
Diese Gesetzesnovelle hat damit zwar einen wichtigen zunächst rein normativen Impuls gesetzt, wird deshalb jedoch ohne eine Umsetzung durch die adressierten Institutionen wie Fakultäten oder die für die Referendariatsausbildung zuständigen Oberlandesgerichte keine nachhaltige Veränderung in der juristischen Ausbildung bewirken. Gerade heute sollte dieser Ausbildungsauftrag deshalb auch als ausbildungsspezifische Ausprägung der Grundentscheidung des Grundgesetzes für eine wehrhafte Demokratie – so das Bundesverfassungsgericht (Rn. 239) – verstanden werden: Das rechtswissenschaftliche Studium und der anschließende Vorbereitungsdienst sind der Flaschenhals, den alle Repräsentant:innen des Rechtsstaats passieren müssen. Die politische Einstellung von Menschen wird sich auch nach Beginn ihres Berufslebens ständig verändern und das konsequente Vorgehen gegen Demokratiefeindlichkeit in den eigenen Reihen nötig machen (dazu hier und hier). Nichtsdestotrotz kann eine Beschäftigung mit den rechtlichen Einfallstoren für Ungleichheitsideologien während der juristischen Ausbildung in diesem Sinne präventiv wirken und helfen, entsprechende Entwicklungen frühzeitig zu erkennen.
Bei der Auseinandersetzung mit dem, was im Namen des Rechts in der Vergangenheit getan wurde, geht es nämlich nicht um abgeschlossene Rechtsgeschichte(n), sondern um konkrete und praktische Folgen für Rechtswissenschaft und -praxis heute. Das Bewusstsein dafür, dass – in den Worten Fritz Bauers – nichts der Vergangenheit angehört, alles noch Gegenwart ist und wieder Zukunft werden kann, sollte daher als Ziel juristischer Ausbildung wichtiger Bestandteil jeder Reformdebatte sein – heute mehr denn je.