Bayerische Bedrängnis
Welche Folgen hätte ein Rücktritt oder eine Entlassung von Hubert Aiwanger?
Erdbeben im bayerischen Landtagswahlkampf: Tritt Hubert Aiwanger, der Stellvertreter des bayerischen Ministerpräsidenten und bayerische Staatsminister für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie, zurück? Oder wird er zurückgetreten? Die Causa Aiwanger, ausgelöst durch die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung, und sein Umgang damit sorgen für zahlreiche Rücktritts- bzw. Entlassungsforderungen. Während ein freiwilliger Rücktritt jederzeit möglich ist, dürften auf den ersten Blick auch die Hürden für eine Entlassung überwindbar sein. Doch die politischen Auswirkungen einer Entlassung gegen den Willen der Freien Wähler könnten auf den zweiten Blick bisher wenig beachtete rechtliche Folgen für die bayerische Staatsregierung bedeuten: Wer übernimmt dann die bisherigen Ministerämter der Freien Wähler? Müsste Markus Söder zurücktreten?
Ein Rücktritt ist jederzeit und ohne weitere Voraussetzungen möglich
Nach Art. 9 I Nr. 4 BayMinG endet das Amtsverhältnis eines Staatsministers mit seinem Rücktritt. Weitere Voraussetzungen stellt weder die Bayerische Verfassung noch das einfache Recht auf. Insofern ist eine Zustimmung des Ministerpräsidenten oder eine solche des Landtags entbehrlich. Eine einfache Erklärung gegenüber dem Ministerpräsidenten, in der Hubert Aiwanger von seinem Amt als Staatsminister zurücktritt, würde ausreichen. Damit wäre zudem seine Funktion als Stellvertreter des bayerischen Ministerpräsidenten automatisch beendet, auch wenn er diese in seiner Rücktrittserklärung nicht ausdrücklich erwähnt hätte, weil Stellvertreter des Ministerpräsidenten nach Art. 46 BayVerf nur ein Staatsminister sein kann.
Mit dem Rücktritt würde Hubert Aiwanger auf die mit dem Amt des Staatsministers verbundenen Kompetenzen unmittelbar verzichten. Er dürfte seine Amtsgeschäfte auch nicht vorübergehend bis zum Amtsantritt eines Nachfolgers weiterführen, weil bei einem Ministerrücktritt weder die Bayerische Verfassung noch das Bayerische Ministergesetz – anders als das Grundgesetz in Art. 69 III GG und die meisten anderen Landesverfassungen – einen sog. geschäftsführenden Staatsminister vorschreiben oder auch nur erlauben. Denn eine Weiterführung der Amtsgeschäfte sieht Art. 9 III, IV BayMinG nur vor, wenn das Amtsverhältnis des Staatsministers entweder nach der Neuwahl des Landtags mit der Vereidigung des neuen Ministerpräsidenten (Art. 9 I Nr. 1 BayMinG) oder mit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten (Art. 9 I Nr. 2 BayMinG) endet. Der Ministerpräsident wäre demnach angehalten, alsbald mit Zustimmung des Landtags gem. Art. 45 BayVerf einen Nachfolger als Staatsminister zu berufen und ebenso mit Zustimmung des Landtags gem. Art. 46 BayVerf einen neuen Stellvertreter des Ministerpräsidenten zu bestimmen. Aufgrund eines – trotz des politischen Drucks ggf. als getrieben wahrgenommen, im Ergebnis aber dennoch – freiwilligen Rücktritts dürfte die Koalition aus CSU und Freien Wählern jedoch fortbestehen, sodass eine zeitnahe Zustimmung des bayerischen Landtags für einen Nachfolger von Hubert Aiwanger als Staatsminister und Stellvertreter des Ministerpräsidenten realistisch erscheint.
Eine Entlassung ist nur mit der Zustimmung des Ministerpräsidenten und des Landtags möglich
Im Gegensatz zum Rücktritt ist die Entlassung eines Staatsministers verfassungsrechtlich und nicht nur einfach-rechtlich geregelt. Nach Art. 45 BayVerf beruft und entlässt der Ministerpräsident mit Zustimmung des Landtags die Staatsminister. Ein Staatsminister könnte gegen seinen Willen mithin nur entlassen werden, wenn sowohl der Ministerpräsident als auch die Mehrheit des Landtags kumulativ dafür sind. Damit hängt die Entscheidung im Wesentlichen von Markus Söder ab. Sofern er die Entlassung von Hubert Aiwanger vorschlagen würde, wäre eine Mehrheit im Landtag sehr wahrscheinlich, weil die CSU-Landtagsfraktion der Entscheidung ihres Ministerpräsidenten sowie Parteivorsitzenden wohl folgen dürfte und jedenfalls die Oppositionsfraktionen, die den Rücktritt gefordert haben, mitstimmen dürften.
Der Landtag hat jedoch keine Möglichkeit, einen Staatsminister ohne Vorschlag des Ministerpräsidenten zu entlassen. Weder können die Abgeordneten des Landtags einen Staatsminister abwählen noch den Ministerpräsidenten und damit die gesamte Staatsregierung stürzen. Die bayerische Verfassung kennt – anders als das Grundgesetz in Art. 67 GG und die meisten anderen Landesverfassungen – kein konstruktives Misstrauensvotum gegenüber dem Regierungschef.1) Insofern genießt der bayerische Ministerpräsident eine besonders starke Stellung. Gleichwohl dürfte die Mehrheit des Landtags einen Beschluss fassen, in dem sie den Ministerpräsidenten auffordert, einen Antrag auf Entlassung des Staatsministers Hubert Aiwanger in den Landtag einzubringen.2) Eine solche Aufforderung würde zwar politischen Druck aufbauen, wäre aber auch bei einer mehrheitlichen Annahme rechtlich nicht bindend. Politisch dürfte ein solcher Beschluss ohnehin unrealistisch sein, weil derzeit nicht zu erwarten ist, dass sich die CSU-Landtagsfraktion gegen Markus Söder oder die Landtagsfraktion der Freien Wähler gegen Hubert Aiwanger stellt.
Ein Koalitionsbruch könnte die Handlungsfähigkeit der Staatsregierung beeinträchtigen
Eine Entlassung gegen den Willen der Freien Wähler würde wohl zu einer Aufkündigung der Koalitionsregierung zwischen der CSU und den Freien Wählern führen. In der Folge dürfte der Rücktritt der übrigen zwei Staatsminister und zwei Staatssekretäre der Freien Wähler zu erwarten sein. Danach wäre der Ministerpräsident aufgerufen, zügig mit Zustimmung des Landtags gem. Art. 45 BayVerf neue Staatsminister und Staatssekretäre zu berufen. Allerdings würde ihm dafür vermutlich die erforderliche Mehrheit im Landtag fehlen. Alternativ könnte er versuchen, bis zur Neuwahl eine vorübergehende Zusammenlegung der Staatsministerien vorzunehmen, indem er die Geschäftsbereiche in § 2 StRGVV3) neu aufteilt. Indes bedarf der Ministerpräsident nach Art. 49 S. 2 BayVerf auch hierfür der Bestätigung durch Beschluss des Landtags. Naheliegender wäre es, innerhalb der vorhandenen Staatsregierung gem. Art. 50 S. 2 BayVerf mehrere Staatsministerien sich selbst vorzubehalten oder einem Staatsminister zuzuweisen. Denn nur die Berufung von neuen Staatsministern sowie die Zahl und die Abgrenzung der Geschäftsbereiche unterliegen der Zustimmung des Landtags, nicht aber die konkrete Zuweisung von Geschäftsbereichen an den Ministerpräsidenten oder die Staatsminister, die allein dem Ministerpräsidenten zusteht.4)
Wenn der Ministerpräsident ohne Zustimmung des Landtags weder neue Staatsminister berufen noch eine Neuaufteilung der Ministerien vornehmen könnte und auch keine neue Zuweisung bestimmen würde, wäre fraglich, wer die zurückgetretenen Staatsminister vertritt. Gem. § 4 StRGO richtet sich die Vertretung eines Staatsministers danach, ob dem Geschäftsbereich ein Staatssekretär zugewiesen ist oder nicht. Falls nicht – und dieser Fall dürfte auch die Situation umfassen, dass der zugewiesene Staatssekretär gleichzeitig zurückgetreten ist – wird der Staatsminister nach § 4 II 1 StRGO von seinem Amtschef vertreten. Soweit die Vertretung verfassungsrechtlich ausschließlich durch ein Mitglied der Staatsregierung möglich ist, soll der Staatsminister nach § 4 II 2 StRGO von einem vom Ministerpräsidenten bestimmten Staatsminister vertreten werden. Eine solche Vertretung dürfte auch bei einem zurückgetretenen Staatsminister zulässig sein. Zwar ließe sich dagegen die Wertung des Art. 9 BayMinG anführen, der nach einem Rücktritt keinen Anlass für eine Weiterführung der Amtsgeschäfte sieht, damit der Ministerpräsident schnellstmöglich mit Zustimmung des Landtags einen neuen Staatsminister berufen möge. Überdies wäre bei einer dauerhaften Verhinderung – wie einem Rücktritt – auch nicht mehr unbedingt von einem Vertretungsfall die Rede, der eher für eine vorübergehende statt für eine dauerhafte Verhinderung konzipiert ist. Für die Zulässigkeit spricht aber, dass andernfalls eine Handlungsunfähigkeit in der Staatsregierung drohen könnte. Zudem wäre es dem Ministerpräsidenten ohnehin erlaubt, innerhalb der vorhandenen Staatsregierung mehrere Staatsministerien sich selbst vorzubehalten oder einem Staatsminister zuzuweisen.
Die nahe Landtagswahl würde Markus Söder vor einem Rücktritt bewahren
Der Koalitionsbruch könnte jedoch nicht nur Auswirkungen auf die Ministerämter der Freien Wähler, sondern auch auf das Amt des Ministerpräsidenten und damit auf Markus Söder haben. Denn nach Art. 44 III 2 BayVerf muss der Ministerpräsident zurücktreten, wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen. Ein solch zwingender Rücktritt wird gewöhnlich angenommen, wenn eine Koalitionsregierung aufgekündigt wird und nicht in absehbarer Zeit eine neue Staatsregierung gebildet werden kann.5) Allerdings wird dem Ministerpräsidenten ein weiter Ermessensspielraum zugebilligt.6)
Die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Landtag dürfte zweifelsohne gestört sein, wenn die amtierende Koalitionsregierung zerbrechen würde, weil die CSU allein nur eine Minderheitsregierung bilden könnte. Die nächste reguläre Landtagswahl findet jedoch ohnehin schon am 8. Oktober 2023, also in weniger als fünf Wochen, statt. Daher dürfte zwar ein gestörtes, nicht jedoch ein unmöglich gewordenes Verhältnis vorliegen. Zum einen hat die SPD bereits signalisiert, eine Minderheitsregierung der CSU zu tolerieren. Zum anderen kann auf die Folgeüberlegung abgestellt werden: Nach einem Rücktritt des Ministerpräsidenten soll gem. Art. 44 IV BayVerf in der nächsten Sitzung des Landtags ein neuer Ministerpräsident für den Rest der laufenden Amtsdauer gewählt werden. Einerseits könnte Markus Söder zum Ministerpräsidenten gewählt werden, indem er die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen wegen der Enthaltung oder der Abwesenheit von Abgeordneten der Oppositionsfraktionen erreichen würde. Wenn eine Neuwahl innerhalb von vier Wochen hingegen nicht zustande kommen würde, müsste die Landtagspräsidentin Ilse Aigner den Landtag nach Art. 44 V BayVerf auflösen. Dann stünde die Landtagswahl aber sowieso unmittelbar bevor oder wäre sogar schon erfolgt. Ein zwingender Rücktritt würde somit die Stabilität der Staatsregierung weder erhalten noch wiederherstellen, sondern eher noch stärker gefährden; der Zweck des Art. 44 BayVerf, Regierungsstabilität zu sichern, würde verfehlt. Demnach würde die nahe Landtagswahl Markus Söder zwar vor einem Rücktritt bewahren. Doch die Bedrängnis könnte bei der anschließenden Regierungsbildung erst richtig beginnen. Denn wenn die Freien Wähler als Koalitionspartner wegfallen und eine Koalition mit den Grünen ausgeschlossen bleibt, gestaltet sich die Suche nach einem neuen Partner schwierig – zumal sie schnell erfolgreich sein müsste, weil der Landtag gem. Art. 44 I BayVerf spätestens innerhalb einer Woche nach seinem Zusammentritt einen Ministerpräsidenten wählen muss.
References
↑1 | BayVerfGH NVwZ 1995, 689 (690); Brechmann, in: Meder/Brechmann, BayVerf, 6. Aufl. 2020, Art. 44 Rn. 7; Lindner, in: Lindner/Möstl/Wolff, BayVerf, 2. Aufl. 2017, Vor Art. 43 Rn. 1 ff. |
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↑2 | Vgl. BayVerfGH NVwZ 1995, 689 (690): „Das verfassungsrechtlich verbürgte Antragsrecht erstreckt sich auch darauf, einen Antrag nach Art. 44 III 2 BayVerf. zu stellen“. Wenn schon ein Antrag nach Art. 44 III 2 BayVerf in Bezug auf den zwingenden Rücktritts des Ministerpräsidenten zulässig ist, dürfte ein Antrag nach Art. 45 BayVerf in Bezug auf die fakultativen Entlassung eines Staatsministers erst recht zulässig sein. |
↑3 | Verordnung über die Geschäftsverteilung der Bayerischen Staatsregierung (StRGVV) vom 28. Januar 2014 (GVBl. S. 31), zuletzt geändert durch Verordnung vom 14. September 2020 (GVBl. S. 566). |
↑4 | Lindner, in: Lindner/Möstl/Wolff, BayVerf, 2. Aufl. 2017, Art. 50 Rn. 7. |
↑5 | Brechmann, in: Meder/Brechmann, BayVerf, 6. Aufl. 2020, Art. 44 Rn. 7; Schweiger, in: Nawiasky/Schweiger/Knöpfle, BayVerf, 10. EL April 1999, Art. 44 Rn. 5. |
↑6 | Brechmann, in: Meder/Brechmann, BayVerf, 6. Aufl. 2020, Art. 44 Rn. 8. |