14 Mai 2014

Google – nur just another Grundrechtsträger?

Das epochale Urteil des Europäischen Gerichtshofs gesterndass man das Bild, das Google bei der Namenssuche von einem zeichnet, nicht widerstandslos hinnehmen muss, ist bei den Kolleginnen und Kollegen aus der Netzpolitik- und Internetrecht-Community überhaupt nicht gut angekommen. Was vor allem für Irritation sorgt, ist die Frage, was mit den wirtschaftlichen Interessen der Suchmaschinenbetreiber, der Informationsfreiheit der Öffentlichkeit und der Meinungsfreiheit derer ist, deren Artikel und Blogposts dann nicht mehr auffindbar sind. Nico Härting warnt, dass künftig Prominente missliebige Berichterstattung aus den Suchmaschinenlisten tilgen könnten. Thomas Stadler sieht in der Entscheidung eine andere „Spielart von Netzsperren“ und mit der Meinungs- und Informationsfreiheit „das vielleicht höchste Gut einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft“ in Gefahr. Hans-Peter Lehofer beschwert sich, dass die Richter keinerlei ausdrückliche Abwägung mit der nach Art. 11 der Grundrechtecharta geschützten Meinungs- und Informationsfreiheit vorsehen.

Noch mal kurz zur Rekapitulation: In dem Fall hatte ein Spanier Google (bzw. dessen spanische Niederlassung) verklagt, um zu erreichen, dass ein Webseiten-Eintrag über seine Jahre zurückliegenden und längst überwundenen finanziellen Schwierigkeiten nicht mehr jedes Mal auftaucht, wenn jemand seinen Namen googelt. Der EuGH hat ihm Recht gegeben: Suchmaschinenbetreiber, so die Richter, können

die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und Schutz personenbezogener Daten erheblich beeinträchtigen, wenn die Suche mit dieser Suchmaschine anhand des Namens einer natürlichen Person durchgeführt wird, da diese Verarbeitung es jedem Internetnutzer ermöglicht, mit der Ergebnisliste einen strukturierten Überblick über die zu der betreffenden Person im Internet zu findenden Informationen zu erhalten, die potenziell zahlreiche Aspekte von deren Privatleben betreffen und ohne die betreffende Suchmaschine nicht oder nur sehr schwer hätten miteinander verknüpft werden können, und somit ein mehr oder weniger detailliertes Profil der Person zu erstellen. Zudem wird die Wirkung des Eingriffs in die genannten Rechte der betroffenen Person noch durch die bedeutende Rolle des Internets und der Suchmaschinen in der modernen Gesellschaft gesteigert, die den in einer Ergebnisliste enthaltenen Informationen Ubiquität verleihen.

Zu den entgegenstehenden Rechten und Interessen schreibt der Gerichtshof dann folgendes:

Wegen seiner potenziellen Schwere kann ein solcher Eingriff nicht allein mit dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers an der Verarbeitung der Daten gerechtfertigt werden. Da sich die Entfernung von Links aus der Ergebnisliste aber je nach der Information, um die es sich handelt, auf das berechtigte Interesse von potenziell am Zugang zu der Information interessierten Internetnutzern auswirken kann, ist in Situationen wie der des Ausgangsverfahrens ein angemessener Ausgleich u. a. zwischen diesem Interesse und den Grundrechten der betroffenen Person aus den Art. 7 und 8 der Charta zu finden. Zwar überwiegen die durch diese Artikel geschützten Rechte der betroffenen Person im Allgemeinen gegenüber dem Interesse der Internetnutzer; der Ausgleich kann in besonders gelagerten Fällen aber von der Art der betreffenden Information, von deren Sensibilität für das Privatleben der betroffenen Person und vom Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu der Information abhängen, das u. a. je nach der Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spielt, variieren kann.

Die datenschutzrechtlichen Feinheiten und Implikationen des Urteils zu beurteilen, will ich gern anderen überlassen, die davon mehr verstehen als ich. Ich akzeptiere auch sofort das Argument, dass das Urteil einen Riesenhaufen schwierigster Abgrenzungsprobleme aufwirft, an denen sich jetzt Wissenschaft und Justiz über Jahre hin abarbeiten können.

Die Frage, die ich mir stelle, ist aber diese: Könnte es sein, dass es seine guten Gründe hat, speziell im Fall Google nicht das privatrechtliche Grundrechtskollisions-Paradigma anzuwenden?

Was das Gericht hier macht, erinnert mich eher an eine Verhältnismäßigkeitsprüfung: Wenn Google mich als Bankrotteur aussehen lässt, obwohl ich das längst nicht mehr bin oder vielleicht noch nie war, dann ist das erst einmal ein Eingriff in mein Recht auf Privacy. Es kann rechtfertigende Gründe dafür geben, allen voran das „Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu der Information“, vor allem bei Leuten mit einer besonderen „Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spielt“. Dabei kommt es aber auch auf die „Sensibilität für das Privatleben der betroffenen Person“ an. Statt gleichrangiger Grundrechtspositionen, die durch Abwägung miteinander in Ausgleich gebracht werden, haben wir es hier also mit einem Regel-Ausnahme-Verhältnis zu tun: Mein Recht an meiner Person ist die Regel, und wenn mir Google zumutet, eine Ausnahme hinzunehmen, dann muss es dafür gute und verhältnismäßige Gründe geben.

Das ist alles im Urteil alles sehr krude und allenfalls angedeutet, und man kann mit gutem Grund kritisieren, dass der Gerichtshof uns hier nichts Präziseres anbietet, vor allem, wenn man fragt, wie das zu der Art und Weise passen soll, wie in Deutschland und Europa generell Persönlichkeitsrecht und Meinungs- bzw. Pressefreiheit ausbalanciert werden.

Aber das einmal beiseite: Ich kann einem solchen Paradigmenwechsel, mal unterstellt, er war tatsächlich so gemeint, viel abgewinnen.

Ist die „Öffentlichkeit“, ist das „Internet“ im Kontext von Google tatsächlich nur just another Grundrechtsträger, der ein genauso legitimes Interesse daran hat, seine Freiheit nicht beschnitten zu sehen, wie derjenige, auf deren Kosten er sie ausübt? Oder haben wir es hier mit einer Konstellation von Macht und Machtunterworfenheit zu tun, in der der Einzelne nach dem Willen der Allgemeinheit diszipliniert, zurechtgebogen und passend gemacht wird, und zwar obendrein einer Allgemeinheit, hinter der in Wahrheit ein mit nahezu unendlichen Machtmitteln ausgestatteter Einzelner steckt?

Ist die Situation von, sagen wir, Max Mosley vergleichbar mit der eines Menschen, über den die Bildzeitung was Gemeines schreibt? Oder doch eher mit der eines Menschen, den die öffentliche Gewalt zwingt, den scharlachroten Buchstaben zu tragen?

Google ist notorisch schwer zu fassen. Sie sind ja nur Zugangsvermittler und nicht verantwortlich zu machen für das, was böse Menschen ins Netz stellen. Sie sind ja nur ein privates Unternehmen, und noch dazu eines, das in den USA sitzt und nicht in Europa. Und sie wollen ja nur unsere Freiheit vermehren, auf dass alle alles wissen können (nur ihren Suchalgorithmus nicht, der ist nämlich ihr Geschäftsgeheimnis).

Bei allen Problemen und Ängsten, die das Urteil nach sich zieht: Dass der EuGH Google beim Kragen packt und „Hiergeblieben“ ruft, ist allein schon ein mutiger und wichtiger Schritt. Vermutlich hätte Karlsruhe in vergleichbarer Situation ein argumentativ feinauflösenderes Urteil geschrieben. Aber das, denke ich mal, hätte Google grinsend ignoriert. Das wird ihnen jetzt nicht mehr gelingen.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Google – nur just another Grundrechtsträger?, VerfBlog, 2014/5/14, https://verfassungsblog.de/beeintraechtigt-das-google-urteil-des-eugh-meine-meinungsfreiheit/, DOI: 10.17176/20170726-132455.

20 Comments

  1. Aufmerksamer Leser Mi 14 Mai 2014 at 18:37 - Reply

    Schöner Artikel. Aber wieso muss der Erste Senat noch verhöhnt werden, wenn man ihm schon den wichtigsten Fall des Jahrzehnts wegnimmt, auf das sich alle ganz doll gefreut haben? Sagen wir doch lieber: Karlsruhe hätte es viel schöner geschrieben und Google hätte bestimmt auch brav nach dieser Pfeife getanzt…

  2. Maximilian Steinbeis Mi 14 Mai 2014 at 19:00 - Reply

    War gar nicht höhnisch gemeint. Und ich weiß von gar keinem Fall, der in Karlsruhe anhängig wäre, oder gibt es da einen?

  3. Aufmerksamer Leser Mi 14 Mai 2014 at 19:57 - Reply

    Ich hatte doch gestern schon den Link genannt, man muss sich nur mal die öffentlichen Äußerungen der Senatsmitglieder angucken.

  4. Aufmerksamer Leser Mi 14 Mai 2014 at 20:01 - Reply

    z.B. Masing: http://bit.ly/1jQW1Bm

  5. Maximilian Steinbeis Mi 14 Mai 2014 at 20:02 - Reply

    Das finde ich jetzt von Ihnen höhnisch. Der erste Senat hat sich riesige Sorgen um die Wahrung eines adäquaten Datenschutzniveaus in Europa gemacht. Die müssten ihm doch jetzt genommen sein. Keine Solange-Keule mehr nötig. Ist doch super für alle Beteiligten. Zu unterstellen, dass die jetzt ihr Kissen nassweinen, weil der EuGH jetzt die ganze Presse kriegt und sie nicht, so weit würde ich nicht gehen.

  6. Aufmerksamer Leser Mi 14 Mai 2014 at 20:03 - Reply

    z.B. Kirchhof: http://bit.ly/1jI9xH7

  7. Aufmerksamer Leser Mi 14 Mai 2014 at 20:04 - Reply

    Hehe, neeeeeeeee, natüüüürlich nicht. Wieso sollten die sich auch um die ganze Presse kümmern….

  8. Aufmerksamer Leser Mi 14 Mai 2014 at 20:09 - Reply
  9. hp lehofer Mi 14 Mai 2014 at 23:19 - Reply

    Ein interessanter Ansatz – aber gerade wenn man Google als mehr sieht als „just another Grundrechtsträger“, müssten dann nicht auch die Grundrechte jener, die für ihren Informationszugang (als „Internetnutzer“) oder für die Verbreitung von Informationen (als „Herausgeber von Websites“, jeweils Diktion des EuGH) auf Google de facto angewiesen sind, ähnlich umfassend geschützt werden?
    Google als „mit nahezu unendlichen Machtmitteln ausgestatteter Einzelner“ (Diktion Ihres Beitrags) ist ja nicht nur ein Unternehmen, das durch Erschließen auch unrichtiger oder unangenehmer Information einen Betroffenen in Bedrängnis bringen kann, sondern ist für die Auffindbarkeit von Informationen im Interesse der Informationsfreiheit so gut wie unerlässlich (angesichts geringer Marktanteile alternativer Suchmaschinen ist eine nicht über Google auffindbare Seite praktisch chancenlos im Web). Gerade diese Überlegung macht es aus meiner Sicht bedauerlich, dass der EuGH sich nicht zu einer Anerkennung der gegenläufigen Grundrechtspositionen durchringen konnte, ganz anders als im Urteil UPC Telekabel Wien, nach dem eine Anordnung, mit der Internet Providern verboten wird, ihren Kunden Zugang zu einer Website zu ermöglichen, ua mit dem Grundrecht auf Informationsfreiheit der Internetnutzer kollidiert – was den EuGH dort bewogen hat, dem Provider die Pflicht aufzuerlegen, „auch für die Beachtung des Grundrechts der Internetnutzer auf Informationsfreiheit Sorge [zu] tragen“. Im Google Spain-Urteil fehlt eine vergleichbar starke Position für die Grundrechtsträger der Informationsfreiheit, obwohl die Situation meines Erachtens durchaus vergleichbar ist, soweit es – was für mich einzig relevant ist – um den Zugang zu rechtmäßig im Internet veröffentlichten Informationen geht: da macht es vom Ergebnis her nämlich wenig Unterschied, ob der Zugang aufgrund einer Netzsperre des Providers nicht möglich ist, oder ob ich die Information nicht auffinden kann, weil sie in den Ergebnislisten der Suchmaschinen gelöscht werden muss.

  10. Unaufmerksamer Leser Do 15 Mai 2014 at 13:25 - Reply

    Zum Thema „Recht auf Vergessen“/Bundesverfassungsgericht: es würde mich wundern, wenn gegen diese Entscheidung des Bundesgerichtshofes keine Vb. anhängig wäre:
    http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=62549&pos=0&anz=1

  11. AX Do 15 Mai 2014 at 14:07 - Reply

    „Sic semper tyrannis“ also. Wie die Reaktionen wohl ausgefallen wären, wenn das Urteil nicht gegen Google, sondern gegen eine andere Suchmaschine oder einen Aggregator ergangen wäre? Etwa ein Urteil gegen die Buch-Volltextsuche von libreka! in einer „Esra“-ähnlichen Konstellation?

  12. Matthias Do 15 Mai 2014 at 15:17 - Reply

    @ Unaufmerksamer Leser: Die BGH-Entscheidung betrifft nicht eine Suchmaschine, sondern das Online-Archiv einer Zeitung.