This article belongs to the debate » Wahlprüfung in der Prüfung
01 November 2022

Bekannt und bewährt

Warum die Zweistufigkeit des Wahlprüfungsverfahrens beibehalten werden sollte

Die Diskussion um die Ausgestaltung der Wahlprüfung ist beinahe so alt wie die Wahlprüfung selbst. Schon 1888 forderten Jellinek und v. Seydel in ihren Gutachten zum 19. Deutschen Juristentag die Wahlprüfung nach englischem Vorbild anstelle der Parlamente auf die Gerichte zu übertragen.1) Dieser Forderung kam die Weimarer Reichsverfassung nur insofern nach, als sie die Bildung eines Wahlprüfungsgerichts vorsah, das sowohl aus Mitgliedern des Reichstags als auch des Reichs(verwaltungs)gerichts bestehen sollte (Art. 31). Das Grundgesetz ging einen anderen Weg: Statt unabhängige Rechtsprechung und parlamentarische Selbstprüfung nebeneinander zu stellen (oder letztere gar ganz abzuschaffen) schaltete es beide Modelle hintereinander (vgl. Lackner). Die Zweistufigkeit der Wahlprüfung war geboren: Erstinstanzlich ist der Bundestag zuständig, zweitinstanzlich das BVerfG (Art. 41 I, II GG).

Kritik an diesem „gemischten“ System ließ nicht lange auf sich warten: Seifert sprach dem Bundestag ein Mitspracherecht zwar nicht prinzipiell ab, hielt die mit dem Grundgesetz gefundene Kompromisslösung aber für die im Gegensatz zur Weimarer Zeit „weniger geglückte“. Verloren gegangen seien die „sichere Gewähr unparteilicher, streng rechtlicher Entscheidung durch eine unbeteiligte Instanz“ sowie die „zügige Abwicklung der Verfahren“ (DÖV 1967, 232). Schärfer urteilte kürzlich Hettlage: Man könne von den Abgeordneten nicht erwarten, dass sie „den Ast absägen, auf dem sie sitzen“. Auch habe sich „die Idee der Wahlprüfung durch das Parlament selbst historisch überholt“ (Schönberger). Meyer fasste es wie folgt zusammen: „[D]as Wahlprüfungsverfahren ist von seiner rechtlichen Regelung und seiner praktischen Ausgestaltung her ein einziger rechtsstaatlicher Skandal.“ (KritV 1994, 353).

Ein- oder zweistufiges Modell?

Bevor darauf zurückzukommen sein wird, stellt sich die Systemfrage: Ein- oder Zweistufigkeit der Wahlprüfung? Dabei sollen diejenigen – rechtsstaatlichen – Erwägungen zunächst außen vor gelassen werden, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes gerade wegen der Einräumung eines erstinstanzlichen Selbstprüfungsrechts des Parlaments dazu zwangen, dessen Entscheidungen der Kontrolle eines unabhängigen Gerichts in zweiter Instanz zu unterwerfen. Gemeint sind vielmehr die Vor- und Nachteile, die der Instanzenzug an sich aufweist. Gibt es zwei Instanzen, dient dies dazu, die Richtigkeitsgewähr der Wahlprüfungsentscheidung zu erhöhen und trägt damit zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes bei; hinzu tritt die Entlastungs- und Filterfunktion der Erstinstanz gegenüber der Zweitinstanz (etwa mit Blick auf das BVerfG). Auf der anderen Seite steht der Aspekt der Verfahrensdauer, der gerade hier von entscheidender Bedeutung ist. Oder, in den Worten des Gesetzgebers: „Im Wahlprüfungsverfahren bedarf es rascher Gewißheit über die Gültigkeit einer Wahl.“ (S. 12).

Insoweit lohnt ein Vergleich zwischen dem derzeit anhängigen Wahlprüfungsverfahren betreffend die Bundestagswahl einerseits und dem Verfahren zur Wahl des Abgeordnetenhauses des Bundeslandes Berlin, das sich als einziges für ein einstufiges System entschieden hat (§§ 14 Nr. 2, 3, 40, 42a VerfGHG), andererseits: Während für das Bundesland Berlin mit einer Entscheidung des (erst- und letztinstanzlich) zuständigen Verfassungsgerichtshofs bis Mitte November 2022 zu rechnen ist, fehlt es für die Bundestagswahl nach wie vor am erstinstanzlichen Spruch des Bundeswahlausschusses; mit einer abschließenden Entscheidung des BVerfG dürfte daher nicht vor Ende des Jahres 2023 zu rechnen sein. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass auch bei Abschluss des Verfahrens nach Berliner Landesrecht ein Zeitraum von über einem Jahr seit dem Wahltag vergangen sein wird. Auch ein einstufiges Verfahren stellt daher mit Blick auf die Vorgabe, rasche Gewissheit bei der Wahlprüfung herzustellen, kein Allheilmittel dar. Es kommt vielmehr auf die Ausgestaltung des jeweiligen Verfahrensrechts an.2) So sieht z.B. das Schweizer Recht bei Beschwerden wegen der Nationalratswahl vor, dass die Kantonsregierung hierüber innerhalb von 10 Tagen zu entscheiden hat. Auch diese Lösung bleibt indes unvollständig, da für das zweitinstanzlich zuständige Bundesgericht keine Entscheidungsfrist vorgesehen ist.

Erste Stufe

Die Vorschläge, wem der erst- (und je nach Sichtweise auch letztinstanzliche) Spruch in Wahlprüfungssachen zufallen soll, sind zahlreich. Sie reichen vom Bundestag, wie es auch dem Stand des Verfassungsrechts entspricht (Art. 41 I 1 GG), über ein irgendwie geartetes noch zu schaffendes oder bereits existierendes Gericht,3) bis hin zur Zuständigkeit des Bundespräsidenten (so Horn, FS Isensee, 2007, S. 436). Die Vorteile einer gerichtlichen Zuständigkeit scheinen auf der Hand zu legen: Ein Gericht entschiede nicht in eigener Sache, sondern als außenstehender unabhängiger Akteur. Es wäre imstande, einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren; selbst die Prüfung von Wahlgesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin wäre ihm nicht von vornherein abgeschnitten. Ob auch eine Verfahrensbeschleunigung einträte, lässt sich indes nicht pauschal sagen. Ausschlaggebend dafür sind erneut das einfache Verfahrensrecht ([kurze] Einspruchs- und Entscheidungsfrist?, ggf. reduzierter Prüfungsmaßstab des Gerichts), sowie die Ausstattung des jeweiligen Gerichts.

Andererseits erscheint die oben wiedergegebene Kritik an einer erstinstanzlichen Zuständigkeit des Bundestags überzogen. Im Rahmen der Verhandlungen des Parlamentarischen Rats äußerte sich der Abgeordnete Löbe (SPD) treffend wie folgt: „Ich glaube, so weit braucht man das demokratische Mißtrauen auch wieder nicht zu treiben, daß man meint, die überlegene Partei […] wird unter allen Umständen von den Rechtsgrundsätzen abgehen und sich rein auf die eigenen Interessen versteifen.“4) Soweit ersichtlich wird von den Kritikern auch nicht vorgetragen, ein solcher Fall wäre jemals tatsächlich eingetreten; sie stören sich – abgesehen von der Verfahrensdauer – vor allem an der (theoretischen) Möglichkeit des Machtmissbrauchs in der Sache, die freilich auch dem Grundgesetzgeber ein Anliegen war, das er mit der Beschwerdemöglichkeit an das BVerfG abzumildern suchte.5) Zwar blieben bislang sämtliche Einsprüche vor dem Bundeswahlausschuss erfolglos, doch das dürfte sich in Kürze mit seiner Entscheidung über den Einspruch gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl 2021 ändern  – und zwar unabhängig davon, ob letztlich in 300 oder 1.200 Wahlbezirken neu gewählt werden soll.

Richtig ist, dass die Parlamentsautonomie und damit auch das parlamentarische Selbstprüfungsrecht das Ergebnis des Kampfs der Parlamente um Unabhängigkeit gegenüber der monarchischen Gewalt ist (vgl. Magiera). Mit dem Ende der Monarchie waren die Machtverhältnisse aber keineswegs gesichert; nunmehr standen dem Parlament zum einen die Regierung und zum anderen die Justiz gegenüber. Vor diesem Hintergrund räumten die Mütter und Väter des Grundgesetzes dem Bundestag eine – auch gegenüber den anderen Staatsorganen – herausgehobene Stellung ein, die sich schon an der systematischen Stellung der Art. 38 ff. GG ablesen lässt. Schwerlich in Abrede stellen lässt sich auch die (größere) „Sachnähe“ des Bundestags (Klein/Schwarz), die nicht mit Blick auf das jeweils laufende Verfahren zu verstehen ist: Die Wahlprüfung dient –generell – der Gewährleistung des demokratischen Willensbildungsprozesses, der sich im Wesentlichen im Bundestag vollzieht. Dort kann – und sollte – deshalb „auf eine gewisse ‚Selbstreinigungskraft‘ durch die miteinander konkurrierenden politischen Parteien vertraut werden.“ (Schreiber, DVBl 2010, 610).

Gleichwohl erscheint es mitunter mehr als bedenklich, wie der Bundestag – und damit allen voran der Wahlprüfungsausschuss – das Verfahren handhabt. Verfahrensdauern von einem Jahr oder mehr sind schlicht inakzeptabel; dies gilt insbesondere in Fällen, in denen sich der Einspruchsführer allein auf die Verfassungswidrigkeit wahlrechtlicher Normen beruft (Hoppe, DVBl. 1996, 344 f.). Zwar spricht sich die inzwischen überwiegende Auffassung dafür aus, dem Bundestag zumindest das Recht einzuräumen, diese Normen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, um einerseits eine verfassungskonforme Auslegung zu versuchen und andererseits für die Zukunft Änderungen anzustoßen. Ihm steht aber weder eine Normverwerfungskompetenz zu, noch kann er im Wege des Art. 100 GG ein konkretes Normenkontrollverfahren beim BVerfG initiieren (vgl. Glauben m.w.N.). Ist der Bundestag demnach in jedem Fall verpflichtet, die einschlägigen Bestimmungen anzuwenden, ist es geboten, den Weg für das BVerfG als Beschwerdeinstanz schnellstmöglich freizumachen.

Da aber das BVerfG Verfahrensdauern von über einem Jahr bislang unbeanstandet gelassen hat, ist hier auch der Gesetzgeber gefordert. Es steht ihm frei, das Verfahrensaufkommen insgesamt zu senken, indem er den Kreis der Einspruchsberechtigten (§ 2 II WahlPrG) enger zieht und das Einspruchsrecht etwa an die Verletzung des eigenen Wahlrechts knüpft sowie die Einspruchsfrist von zwei Monaten (§ 2 IV WahlPrG) nach dem Vorbild der meisten Bundesländer verkürzt. Für das einzelne Verfahren ist damit indes noch nichts gewonnen. Dazu bedarf es einer gesetzlichen Entscheidungsfrist sowie einer Vereinfachung des Verfahrens, welches eine mündliche Verhandlung – oder bei Zurückverweisung an den Ausschuss (§ 13 I 2 WahlPrG) mehrere – erforderlich machen kann.6)

Zweite Stufe

Dass das BVerfG eine zentrale Rolle bei der Wahlprüfung zu spielen hat – sei es erstinstanzlich oder, wie nach geltendem Recht, als Beschwerdeinstanz –, ist soweit ersichtlich Konsens. Steht dem Bundestag als einem der „Hauptorgane des Staates“ das Erstzugriffsrecht zu, leuchtet ein, „dass man lediglich das Bundesverfassungsgericht mit der Überprüfung befaßt und nicht etwa ein kleines Sondergericht.“7) Dieselbe Erwägung dürfte für den Bundespräsidenten als Erstinstanz gelten. Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass die Prüfung der Gültigkeit der Wahlen im demokratischen System überragend wichtig, womöglich am wichtigsten überhaupt ist (vgl. Lackner) – dies legt die Einschaltung des BVerfG als Letztinstanz nahe, zumal keinem der anderen Akteure, auch nicht einem (ggf. zu schaffenden) Wahlprüfungsgericht die Kompetenz zur Verwerfung wahlrechtlicher Gesetzesnormen zustünde oder – um Rechtszersplitterung zu vermeiden – zustehen sollte.

Defizite ergeben sich allerdings de lege lata bei der Ausgestaltung des Verfahrens. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist nur rudimentär geregelt. Erneut spricht ein Vergleich zwischen dem Bundesrecht (§ 48 BVerfGG) und dem Berliner Landesrecht, das Regelungen zu den Wahlfehlern sowie ihren Rechtsfolgen enthält (§§ 40 ff. VerfGHG), Bände. Verfahrensdauern von über einem Jahr sind auch vor dem BVerfG eher die Regel als die Ausnahme; die Möglichkeit der A-Limine-Abweisung (§ 24 BVerfGG), von der das BVerfG in Wahlprüfungssachen regelmäßig Gebrauch macht, hat das Gericht offensichtlich nicht in dem erforderlichen Umfang entlastet. Daher ist die Einführung der Kammerzuständigkeit auch für die Wahlprüfungsbeschwerde zu erwägen.8) Weniger erfolgversprechend erscheint dagegen die Wiedereinführung des Unterschriftenquorums, demzufolge der Beschwerde 100 weitere Wahlberechtigte beitreten mussten (§ 48 I BVerfGG a.F.).9) Näher dürfte es liegen, die Beschwerdefrist von derzeit zwei Monaten (§ 48 I BVerfGG) zu verkürzen und die Entscheidung des BVerfG über die Wahlprüfungsbeschwerde an eine Frist zu knüpfen.

Fazit

Die Struktur der Wahlprüfung hat sich im Großen und Ganzen bewährt. Es besteht daher keine Veranlassung, die Zweistufigkeit des Verfahrens als solches infrage zu stellen („große Lösung“). Es stünde dem verfassungsändernden Gesetzgeber