Überlange Gerichtsverfahren: Ob das den EGMR zufriedenstellt?
Das Kabinett hat heute dem Plan von Bundesjustizministerin LHSB zugestimmt, Opfern überlanger Gerichtsverfahren einen Entschädigungsanspruch zu geben.
Nach dem Regierungsentwurf soll man künftig eine “Verzögerungsrüge” erheben können, wenn man das Gefühl hat, dass sich das Verfahren unangemessen lange hinzieht. Diese Rüge ist kein Rechtsbehelf, das Gericht muss nicht unmittelbar darauf reagieren.
Es wird aber, so die Hoffnung der Ministerin, trotzdem darauf reagieren, weil nämlich derjenige, der die Rüge erhoben hat, in einem gesonderten Verfahren auf Entschädigung klagen kann. Wenn er nachweisen kann, dass er durch die Verzögerung einen Nachteil erlitten hat, bekommt er den ersetzt.
Den manifesten Vorwurf überlanger Verfahrensdauer im Kontext eines späteren Entschädigungsprozesses wird ein Gericht in aller Regel vermeiden wollen,
heißt es in der Begründung. Der Vorzug gegenüber Alternativmodellen wie der Untätigkeitsbeschwerde: Es kommt nicht mehr darauf an, ob das Gericht schuld ist oder nicht. Manche Richter trödeln furchtbar, andere würden gern entscheiden, können aber nicht, weil die Beteiligten ständig neue Beweisanträge daherbringen. Das soll künftig alles egal sein: Wer immer schuld ist an dem Elend, unangemessen lang ist unangemessen lang und wird entschädigt.
EGMR-Prozessrecht prägt deutsches Prozessrecht
Handelt es sich um einen immateriellen Nachteil – etwa, dass in einem Sorgerechtsprozess das Kind am Ende des jahrelangen Prozesses das klagende Elternteil als Fremden empfindet – dann gibt es pauschal 1200 Euro pro Jahr der Verzögerung. Die Kausalität zwischen Verzögerung und immateriellem Nachteil muss man nicht extra beweisen, sie wird widerlegbar vermutet.
Es kann aber auch sein, dass man nichts bekommt, weil man mit der bloßen Feststellung der Unangemessenheit der Verzögerung schon genug entschädigt ist. Das erinnert stark an die Praxis des Europäsichen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der Opfern von Menschenrechtsverletzungen auch nur dann einen Anspruch in Geld zuspricht, wenn die Feststellung der Verletzung nicht ausreicht. Laut Begründung soll sich die Praxis bei der Umsetzung insoweit auch an der EGMR-Rechtsprechung dazu orientieren.
Das ist ein interessantes Beispiel für die Prägewirkung europäischen Rechts für das nationale. Das ganze Gesetzgebungsverfahren ist ja überhaupt nur in Gang gekommen, weil der EGMR 2006 Deutschland wegen systematischer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und des Rechts auf gerichtlichen Rechtsschutz verurteilt hat. Das kommt schon mal vor. Dass dann aber beim Stopfen dieser von einem europäischen Gericht monierten Lücke obendrein europäisches Prozessrecht zum Vorbild genommen wird, das gab es bisher noch nicht, oder?
Davon mal ganz abgesehen: Was soll das eigentlich für eine Entschädigung sein? Wenn der EGMR einen Staat als Menschenrechtsverletzer brandmarkt, okay – das ist schon eine Genugtuung für das Opfer. Aber wenn ich am Ende eines überlangen Gerichtsverfahrens bescheinigt kriege, das sei aber echt unangemessen lang gewesen – was soll ich denn damit anfangen? Soll ich mir das einrahmen und im Klo an die Wand hängen?
Gerügt ist schnell mal was
Auf einem anderen Blatt steht, ob der EGMR mit der jetzt anvisierten Lösung zufrieden sein wird. Der EGMR hatte im Fall Sürmeli moniert, dass es in Deutschland keinen richtigen Rechtsbehelf für Opfer überlanger Gerichtsverfahren gibt. Den gibt es jetzt, streng genommen, immer noch nicht: Man kann sich zwar beschweren und hinterher Entschädigung verlangen. Aber es gibt weiterhin kein prozessuales Mittel, ein unangemessen verzögertes Gerichtsverfahren aktiv zu beschleunigen.
Dazu kommt, dass kein Mensch weiß, wann eine Verzögerungsrüge eigentlich fällig ist und wann nicht. Ab wann ist eine Verzögerung “unangemessen”? Wenn ich Prozessanwalt wäre, dann würde ich schon rein vorsorglich jeden Tag aufs Neue Verzögerungsrüge erheben, no matter what, schon um mich keinem Regressrisiko auszusetzen.
Dann verkommt die Rüge zu einem bloßen Schriftsatzschnörkel. Und ob sie dann noch die erhoffte psychologische Wirkung auf das Gericht entfaltet, den “manifesten Vorwurf” der Verfahrensverzögerung zu vermeiden, das wage ich zu bezweifeln.
Man merkt, dass die Ministerin das Unvereinbare zu vereinen versucht hat: Den Gerichten Beine zu machen, ohne der unabhängigen Justiz gegenüber so unhöflich zu sein, ihnen Beine machen wollen. Das war politisch vielleicht auch gar nicht anders möglich. Das Ding muss durch den Bundesrat, und dort stimmen die Dienstherren der betroffenen Richter ab. Also probiert man es jetzt mal so, und wenn sich herausstellt, dass das alles nichts gebracht hat und der EGMR zum nächsten Urteil gegen Deutschland ausholt, dann sieht man eben weiter.
Ich sehe das viel weniger skeptisch: Der EGMR hält in ständiger Rspr seit dem Kudla-Urteil von 2000, dass der Rechtsschutz gegen überlange Verfahrensdauer präventiv (als Beschleunigungsbeschwerde) ODER repressiv (als Schadensersatzanspruch) ausgestaltet wird. Eine reine Schadensersatzlösung kann den konventionsrechtlichen Vorgaben also durchaus genügen. Der Entwurf schafft aber auch keine solche rein repressive Lösung, weil er m.E. die Verfassungsbeschwerde aus dem laufenden Verfahren, die schon bisher möglich war, nicht ausschließt. Dieser Behelf ist dem EGMR zufolge zwar für sich genommen nicht hinreichend effektiv, kann es aber jedenfalls im Zusammenwirken mit dem neuen Entschädigungsanspruch sein.
Andererseits liegen die Bedenken gegen eine Untätigkeitsbeschwerde aus dem laufenden Verfahren auf der Hand: Wenn sie effektiv sein soll, birgt sie Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit. Außerdem kann sie das Verfahren weiter verzögern. Eine bloße “Tu was”-Entscheidung des Beschwerdegerichts bringt demgegenüber bestimmt nicht mehr als ein Entschädigungsanspruch, der die Justiz dort packt, wo es – wenn auch angesichts der Anspruchshöhe nicht allzu – weh tut, nämlich beim Geld.
Nebenbei: Es stimmt übrigens nicht, dass das Gesetzgebungsverfahren erst durch die Verurteilung 2006 angestoßen wurde; Initialzündung war vielmehr das Kudla-Urteil von 2000. Schon vor dem Urteil von 2006 gab es einen Referentenentwurf des BMJ zur Untätigkeitsbeschwerde, der aber politisch nicht durchsetzbar war.