BVerfG for Future: zum Wahlalter bei Europawahlen
Der Jahrtausende alte Kampf für das Wahlrecht ist stets ein Kampf jener gewesen, die nicht wählen durften, gegen jene, die dies durften. Und ebenso alt wie der Wunsch nach Mitbestimmung sind die Argumente jener, die die Mitbestimmung verhindern wollen. Unter diesen Argumenten ist das wohl älteste und prominenteste jenes der mangelnden Einsichtsfähigkeit. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und entsprechender Wahlrechtsnovelle wird nun auch Menschen, für die ein Betreuer bestellt ist, und solchen, die wegen Schuldunfähigkeit in einer psychiatrischen Klinik untergebracht sind, das Wahlrecht zugestanden. Dass Sechzehnjährige hingegen weiterhin als weniger einsichtsfähig gelten sollen, lässt sich kaum noch aufrechterhalten.
Narrative der Macht
Bereits Aristoteles ging im 4. Jh. v. Chr. davon aus, dass bestimmte Menschen nur für niedere Verrichtungen, nicht aber für staatsbürgerliche Tätigkeiten geeignet seien. Diese seien „Sklaven von Natur“. Desselben Arguments bediente sich Jefferson Davis, der die Sklaverei als eine Form des „Civil Government“ betrachtete, „for those who by their nature are not fit to govern themselves”. Im 19. Jahrhundert waren es die abhängig Beschäftigten, welche durch ihre Abhängigkeit vom Dienstherrn nicht frei in ihren Entscheidungen sein konnten, und noch im 20. Jahrhundert mussten sich die Frauen den Vorwurf gefallen lassen, nicht in ausreichendem Maße verstandesreif zu sein. All diese Gruppen haben inzwischen – zumindest in Deutschland – ihr Wahlrecht erstritten. Die letzte Gruppe, welche sich ihrer generellen vermeintlichen Einsichtsunfähigkeit entledigte, sind seit heute Menschen, für die ein Betreuer bestellt ist, und solche, die gemäß §§ 20, 63 StGB wegen Schuldunfähigkeit in einer psychiatrischen Klinik untergebracht sind.
Ist hiermit nun der Jahrtausende währende Kampf für Mitbestimmung beendet? Keineswegs, wie die ebenfalls aufkeimende „Fridays-For-Future-Bewegung“ eindrucksvoll belegt. Nur auf den ersten Blick sind diese Demonstrationen ausschließlich ein Kampf für den Klimaschutz. Der Demonstrations-Slogan „Wir sind hier, wir sind laut, weil Ihr uns die Zukunft klaut“, verdeutlicht, dass es um mehr geht: Hier demonstriert eine politisch ohnmächtige Gruppe gegen die gefühlte Übermacht einer alternden Gesellschaft, die durch luftverpestende Kreuzfahrten und die Plastikflut des Konsumrauschs die Zukunft der Jüngsten unter uns zu ersticken droht. In weiser Voraussicht dieses sich anbahnenden Aufbegehrens der zukünftigen Generation forderte bereits 2012 der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof, „im Wahlrecht […] zu erwägen, wie die Kinder, die noch am längsten von heutigen politischen Entscheidungen betroffen sind, rechtzeitig Einfluss gewinnen können.“
18 Jahre lange Einschränkung des Wahlrechts
Geschehen ist seitdem wenig, denn Art. 38 Abs. 2 GG sichert das Wahlrecht ab 18 mit der schwer einnehmbaren Festung des Verfassungsranges. Doch fast unbemerkt neben dieser großen Festung steht in Gestalt des § 6 Abs. 1 Nr. 1 EuWG, der dasselbe Wahlalter für die Europawahl vorschreibt, eine kleinere Burg ohne Verfassungsrang. Dieses EuWG wurde in den letzten Jahren vom Bundesverfassungsgericht nahezu sturmreif geschossen.
Am Beispiel des europäischen Parlaments haben die Karlsruher Richter im vergangenen Jahrzehnt wiederholt verdeutlicht, wie sie das Wahlrecht insgesamt verstanden wissen wollen. Es begann mit dem Lissabon-Urteil, in welchem das Bundesverfassungsgericht das Wahlrecht auf europäischer Ebene unmittelbar aus der Menschenwürde ableitete:
„Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert.“
Diese steht einem Menschen aber nicht erst ab dem 18. Lebensjahr, sondern spätestens ab seiner Geburt zu. Diese Feststellung hat für das Wahlrecht insgesamt weitreichende Konsequenzen. Denn anders als gemeinhin oft angenommen wird, ist es nicht so, dass einem Menschen ab dem 18. Lebensjahr das Wahlrecht gewährt wird. Vielmehr erlangt ein Neugeborenes spätestens mit seiner Geburt seine Menschenwürde und damit für eine juristische Sekunde auch das Wahlrecht. Durch Art. 38 Abs. 2 GG und § 6 EuWG wird dieses Wahlrecht sodann für die folgenden 18 Jahre eingeschränkt. Bei diesen Bestimmungen handelt es sich also nicht um Anspruchsgrundlagen der Wahlberechtigten, sondern um Schrankenbestimmungen eines aus der Menschenwürde folgenden Geburtsrechts.
Dementsprechend müssen sich diese Bestimmungen – wie alle anderen Schrankenbestimmungen auch – an den Maßstäben des Grundgesetzes messen lassen. Hierbei muss der § 6 Abs. 1 Nr. 1 EuWG anders als Art. 38 Abs. 2 GG als nur einfaches Gesetz höheren Rechtfertigungsanforderungen genügen. Die Problematik des verfassungswidrigen Verfassungsrechts stellt sich hierbei also nicht.
Nach der unter anderem in den Urteilen zur Drei– und Fünf-Prozent-Klausel bestätigten Rechtsprechung bedarf es für die Rechtfertigung von Differenzierungen bei der Wahlrechtsgleichheit europäischer Wahlen eines sachlich legitimierten „zwingenden Grundes“.
Den einzigen legitimen Grund, den das Bundesverfassungsgericht selbst für den Wahlrechtsausschluss Minderjähriger einmal beiläufig genannt hat, ist der Rückgriff auf die Tradition, da bereits das Reichswahlgesetz in der Fassung von 1924 eine Beschränkung des Wahlalters (20 Jahre) gekannt habe. Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht nun aber in seinen Urteilen zum Wahlrecht der unter Betreuung stehenden und psychiatrisch Untergebrachten festgestellt: „Traditionalität ist kein von der Verfassung legitimierter Grund.“
Typischerweise einsichtsunfähig?
Als sachlich legitimierter und „zwingender“ Grund kommt bei der Wahl zum Europäischen Parlament somit einzig die vor allem von der Literatur in Stellung gebrachte bei Minderjährigen möglicherweise fehlende Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit in Betracht. Das Bundesverfassungsgericht misst diesem Grund unter dem Mantel der „Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes“ grundsätzlich Verfassungsrang bei.
Sowohl die nun für verfassungswidrig erklärten §§ 13 Nr. 2 und Nr. 3 BWG als auch der hier thematisierte § 6 Abs. 1 Nr. 1 EuWG verfolgen das Ziel, zu gewährleisten, dass nur Einsichtsfähige an der Wahl teilnehmen. Das Bundesverfassungsgericht verdeutlicht, dass es durchaus einen legitimen Grund darstellen kann, wenn bei einer Personengruppe davon auszugehen ist, die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess bestehe zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße.
Um diese Gruppe abzugrenzen, ist der Gesetzgeber auch zur Typisierung berechtigt, d.h. er muss nicht in jedem Einzelfall überprüfen, ob die erforderliche Einsichtsfähigkeit tatsächlich nicht vorhanden ist. Wie sonst auch bei Typisierungen muss der Gesetzgeber dabei realitätsgerecht den typischen Fall zugrunde legen und die Vorteile der Typisierung müssen im rechten Verhältnis zu der hiermit verbundenen Ungleichheit stehen. Voraussetzung hierfür ist, dass die durch die Typisierung eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar sind, lediglich eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und das Ausmaß der Ungleichbehandlung gering ist. Dies sah das Verfassungsgericht bei Personen, für die ein Betreuer bestellt ist, und bei wegen Schuldunfähigkeit in einer psychiatrischen Klinik Untergebrachten in dieser Pauschalität als nicht mehr gegeben an – eine Einschätzung, der nun auch der Gesetzgeber gefolgt ist.
Die vom Gesetzgeber nach alter Rechtslage vorgenommene Differenzierung zwischen betreuungsbedürftigen Personen, für die ein Betreuer bestellt ist, und solchen, für die dies nicht geschehen ist, da deren Betreuungsbedürftigkeit auf andere Weise Rechnung getragen werde, sei nicht zu rechtfertigen, argumentierte das Bundesverfassungsgericht. Auch hinsichtlich derjenigen, die aufgrund von Schuldunfähigkeit i.S.d. § 20 StGB nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind, lasse sich der Wahlrechtsausschluss nicht rechtfertigen. Weder die Feststellung der Schuldunfähigkeit zum Tatzeitpunkt und die ihr zugrunde liegenden Krankheitsbilder gemäß § 20 StGB noch das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen für die Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB erlaubten den Rückschluss auf das regelmäßige Fehlen der für die Ausübung des Wahlrechts erforderlichen Einsichtsfähigkeit.
Wie verhält es sich nun aber mit den Unter-18-Jährigen bei der Europawahl? Kann von dieser Gruppe realitätsgerecht pauschal typisierend behauptet werden, dass ihnen die zum Wählen nötige Einsichtsfähigkeit fehlt? Bei der Beurteilung dessen hat der Gesetzgeber nach ständiger Verfassungsrechtsprechung aufgrund der in der Menschenwürde wurzelnden Bedeutung des Wahlrechts einen denkbar engen Einschätzungsspielraum und muss sich daher dezidiert und auf wissenschaftlicher Grundlage mit der Frage auseinandersetzen, ob Einsichtsfähigkeit typischerweise mit 14, 16 oder 18 eintritt. Seit der heute – auf Druck des Bundesverfassungsgerichts – getroffenen gesetzgeberischen Entscheidung erscheint es zumindest fraglich, dass Sechzehnjährige pauschal weniger einsichtsfähig sein sollen als wegen geistiger Behinderung Betreute und wegen Schuldunfähigkeit psychiatrisch Untergebrachte.
Keine pauschale Übertragung der Wahlrechtsschranken
Die vom Gesetzgeber für § 6 EuWG in der Gesetzesbegründung bemühte Begründung ist jedenfalls nach verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht überzeugend. Hierin heißt es lediglich: „Die Vorschrift schließt sich in Absatz 1 an die Umschreibung des Kreises der zum Bundestag aktiv Wahlberechtigten und der vorn Wahlrecht ausgeschlossenen Personen in § 12 BWG an.“
Die pauschale Übertragung der für die Bundestagswahl geltenden Grundsätze ist in dieser Form nicht tragfähig. Davon abgesehen, dass Art. 38 Abs. 2 GG anders als § 6 EuWG Verfassungsrang hat, hat das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen zum Lissabon-Vertrag sowie zur Drei– und Fünf-Prozent-Klausel hinreichend deutlich gemacht, zwischen Europäischem Parlament und Bundestag seien funktionelle und arbeitstechnische Unterschiede von solchem Gewicht vorhanden, dass sich eine pauschale Gleichbehandlung beider Wahlgesetze verbiete. Vielmehr werden Wahlrechtsschranken bei der Wahl zum Europaparlament an deutlich strengeren Maßstäben gemessen als bei Bundestagswahlen, bei welchen z.B. Fünf-Prozent-Klauseln nach wie vor erlaubt sind.
Das Bundesverfassungsgericht wird daher nicht umhinkommen, genau zu überprüfen, ab welcher Altersgrenze die zum Wählen erforderliche Einsichtsfähigkeit tatsächlich vorliegt, und ob durch ein Wahlrecht ab 18 auf europäischer Ebene nicht eine zu große und willkürlich abgegrenzte Gruppe einsichtsfähiger Menschen in ihrem Wahlrecht behindert wird. Einen ersten Anhaltspunkt für den Ausgang dieser Beurteilung liefern Gerichtsentscheidungen zur Religions– und Grundrechtsmündigkeit. Beide treten nicht erst mit dem achtzehnten Lebensjahr ein.
“17-Jährige
auszuschließen, ist Verfassungsbruch”
Interview mit Juraprofessor Hermann Heußner
18.04.2019
Webseite: Der Spiegel
In der Einleitung ist sein folgendes Gutachten verlinkt.:
“Wahlrechtsausschluss von 17-Jährigen bei Europawahl verfassungswidrig”
In Österreich darf man bereits ab 16 Jahren wählen.
Bisher konnte mir niemand plausibel herleiten, was wählen mit Recht zu tun hat.