03 February 2019

Collateral Damage? Der Brexit und das Europaparlament

Von 23. bis 26. Mai 2019 finden überall in der EU die 9. Direktwahlen zum Europäischen Parlament statt. Überall in der EU? Das wird man sehen. Der an sich in sicherem zeitlichen Abstand zur EP-Wahl vorgesehene Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU (Brexit) mit Ablauf des 29. März 2019 könnte sich derart verzögern, dass die Wahlen zum EP vom Brexit-Desaster erfasst werden. Nach sich aneinander reihenden Fehlern, katastrophalen politischen Fehlkalkulationen sowie personellen und institutionellen Demontagen im Vereinigten Königreich droht der Brexit nun auch noch diese Wahlen und damit das Europaparlament als Institution zu beschädigen.

Der Reihe nach. 

Im Ausgangspunkt schien die Angelegenheit sehr klar. Mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa bzw. dem Vertrag von Lissabon gelangte – nicht zuletzt auf britischen Wunsch hin – mit Art. 50 EUV eine Austrittsklausel in den EU-Vertrag, die es Mitgliedstaaten gestattet, ohne Zustimmung der anderen Mitgliedstaaten die EU zu verlassen. Anders als man es vom Bundesstaat kennt, wurde damit ein Mechanismus eingeführt, der das Auseinandergehen einseitig und unblutig gestattet. Die spezifische Natur der Europäischen Union als Freiwilligkeitsordnung wurde mit Art. 50 EUV besonders deutlich. Niemand muss in der EU sein. Ein Sezessionskrieg findet nicht statt. 

Letztlich aus deprimierend kurzsichtigen Gründen des innerparteilichen Machterhalts veranlasste der seinerzeitige Tory-Parteichef und britische Premierminister Cameron im Juni 2016 ein Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs. 51.89% der Abstimmenden sprachen sich für den Austritt aus, gegen 48.11%, bei 72,21% Wahlbeteiligung. In absoluten Zahlen lag der Vorsprung der Austrittsbefürworter bei knapp 1,2 Millionen Stimmen. 

Am 29. März 2017 gab die britische Regierung die Erklärung nach Art. 50 EUV über die Absicht des Austritts ab, die eine Zweijahresfrist in Gang setzte. Mit Ablauf der Frist am 29. März 2019 endet somit nach bisherigem Stand die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der EU. 

Die Wahlen zum Europäischen Parlament wurden daraufhin bereits ohne das Vereinigte Königreich geplant. Die Frage, wie mit den bisherigen 73 britischen Sitzen zu verfahren ist, wurde intensiv diskutiert. Letztlich konnten sich weitreichende neue Ideen wie die mitgliedstaatenübergreifende Wahl dieser 73 Abgeordneten (transnationale Listen) nicht durchsetzen. 27 der ehemaligen britischen Sitze werden nun auf die 14 Mitgliedstaaten verteilt, die als unterrepräsentiert gelten. Die übrigen 46 britischen Sitze werden in eine Reserve gestellt, die im Falle des Beitritts eines neuen Mitgliedstaats aktiviert werden könnte. 

Der Europäische Rat hat dies mit dem Beschluss (EU) 2018/937 des Europäischen Rates vom 28. Juni 2018 über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments mit Zustimmung des EP festgelegt. Zugleich heißt es in dem Beschluss aber auch, dass für den Fall, dass das Vereinigte Königreich zu Beginn der Wahlperiode 2019-2024 noch zu den Mitgliedstaaten der Union zählt, sich die Zahl der Abgeordneten pro Mitgliedstaat nach dem alten Recht bestimmt, „bis der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union rechtswirksam wird.“ Mit dem Austritt würde die Zahl der Abgeordneten nach dem neuen Schlüssel angepasst, mithin Abgeordnete aus den 14 Staaten, die als unterrepräsentiert angesehen werden, nachrücken. 

Die konstituierende Sitzung des Europäischen Parlaments ist für den 2. Juli 2019 vorgesehen

Es lassen sich folgende fünf Szenarien beschreiben: 

1. Austritt am 29. März 2019 wie vorgesehen

Dies ist der einfachste Fall, weil keine weiteren Schritte erforderlich sind und sich dieses Szenario alleine durch Zeitablauf realisiert. Das Vereinigte Königreich wäre bei der EP-Wahl im Mai 2019 kein Mitglied mehr. Entsprechend würden Wahlen dort nicht durchgeführt, es gäbe ab 2. Juli 2019 keine britischen Europaabgeordneten mehr. Die britischen Staatsangehörigen verlieren mit dem Austritt ihren Status als Unionsbürger. Ein Nachhall dieses Status trägt jedenfalls nicht so weit, dass man daraus einen Anspruch auf Beteiligung an der Europawahl ableiten könnte. Dass britische Austrittsbefürworter im Range nationaler Parlamentsabgeordneter allen Ernstes davon ausgingen, auch nach dem Austritt noch im Europaparlament vertreten zu sein und nach Aufklärung dieses Missverständnisses nicht etwa betroffen über die eigene Ignoranz sondern empört über die Nichtmehr-Vertretung  waren, belegt, dass man in der britischen Debatte – schon seit längerem – nicht mehr auf Sachargumente zählen kann. 

2. Verschiebung des Austritts bis zum 22. Mai 2019 (Vorabend der Wahlen zum EP)

Der EuGH hat am 10. Dezember 2018 in der Rs. C‐621/18 Wightman u.a. entschieden, dass die Erklärung zur Austrittsabsicht einseitig wieder zurückgenommen werden kann. Ich halte diese Entscheidung nach wie vor für ein Fehlurteil, weil sie zu einseitig dem austrittswilligen Mitgliedstaat die Kontrolle über die Vorgänge nach Bekundung der Austrittsabsicht einräumt, was erhebliches Erpressungs- und Missbrauchspotenzial birgt. Aber der EuGH hat entschieden. Solange die Mitgliedstaaten Art. 50 EUV an dieser Stelle nicht korrigieren, müssen wir von dieser Festlegung ausgehen. Immerhin lässt sich das EuGH-Urteil so deuten, dass die Rücknahme der Erklärung zur Austrittsabsicht eine gewisse Ernsthaftigkeit haben muss, mithin nach einer Rücknahme nicht kurz darauf erneut eine entsprechende Erklärung abgegeben werden kann, um der Sache nach einseitig die Zweijahresfrist zu verlängern. 

Den Abbruch des Austrittsverfahrens kann der austrittswillige Mitgliedstaat demnach bis zur letzten Sekunde der Zweijahresfrist einseitig erklären und beim bestehenden Mitgliedsstatus bleiben (einschließlich aller Rabatte und Sonderregelungen). Dies gilt nicht für eine Verlängerung der Zweijahresfrist. Der Wortlaut des Art. 50 EUV ist insoweit unmissverständlich: Diese Frist kann nach Art. 50 EUV nur einstimmig geändert werden. Eine solche Einstimmigkeit einmal unterstellt – vielleicht würde beispielsweise Spanien ja doch die Gibraltarfrage nochmals öffnen wollen – könnte man ohne Schaden für die Europawahlen das Ende der Frist vom 29. März bis auf den letzten Tag vor Beginn des für die EP-Wahlen vorgesehenen Zeitraums verschieben. Mit Beginn der EP-Wahl wäre das Vereinigte Königreich dann kein Mitglied mehr, so dass sich weder in den Mitgliedstaaten der EU 27 noch in Großbritannien Probleme ergäben. Man müsste freilich auf den Zeitraum der EP-Wahl abstellen, der konkrete Wahltag im Vereinigten Königreich ist mit dem traditionellen Donnerstag ohnehin der erste Tag des Wahlzeitraums. 

3. Verschiebung des Austritts bis zum 2. Juli 2019 (Konstituierung des EP)

Nicht selten wird in diesen Tagen erwogen, die Frist bis zur Konstituierung des neu gewählten Europäischen Parlaments am 2.7.2019 zu verlängern. Dieser Termin gründet wahrscheinlich auf der Vorstellung, dass erst mit der Konstituierung des Europäischen Parlaments die Sache so richtig ernst wird, und daher die Zeit bis dahin getrost noch als Zeitpuffer für den Brexit herhalten kann. Gegenüber der Wahl Ende Mai ergäbe sich zudem ein doch schon signifikanter Zeitvorteil von weiteren 6 Wochen. 

So einfach liegen die Dinge aber nicht. Diese Option birgt erhebliche europaverfassungsrechtliche Risiken. 

Zwar hat es nach Beitritten neuer Mitgliedstaaten immer wieder kurzfristige Verschiebungen in der Mitgliederzahl des EP gegeben, nicht selten wurde mit Beobachtern operiert, so auch im Kontext der deutschen Wiedervereinigung. Und gerade in Deutschland hatte man lange Jahre einen Bundestag, in dem die Abgeordneten aus Berlin (West) nicht im Plenum abstimmen durften, nur in den Ausschüssen mitarbeiten. Demnach scheint in Parlamenten einiges an Ungleichzeitigkeiten und Asymmetrien denkbar. 

Folgendes ist indessen schwer zu bestreiten: Das Vereinigte Königreich wäre in dem besagten Verlängerungsszenario zum Zeitpunkt der Wahl im Mai 2019 noch Mitgliedstaat der Europäischen Union. In der Logik des EuGH in der Rs. C‐621/18 Wightman u.a. ist dies bis zum letzten Moment eine in rechtlicher Hinsicht umfassende Mitgliedschaft. Dies belegen auch die EuGH-Entscheidungen, die im Hinblick auf die Überstellungen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (Rs. C‑327/18 PPU, September 2018) oder das Dublin-Asylrechtsregime (Rs. C‑661/17, Januar 2019) keine rechtlichen Abstriche wegen des bevorstehenden Austritts im Hinblick auf das Vereinigte Königreich gestatten.

Der Hinweis, dass die Wahl von Abgeordneten aus dem Vereinigten Königreich keinen Sinn ergibt, wenn diese nicht einmal mehr die konstituierende Sitzung des EP erreichen, greift zu kurz. Absehbar würde der EuGH im Streitfall auch hier eine grundsätzlich vollumfängliche Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs bis zum letzten Moment annehmen. Der maßgebliche Aspekt wäre wohl, dass aus Sicht des EuGH die Mitteilung über die Austrittsabsicht einseitig bis zum letzten Moment zurückgenommen werden kann und diese Option mit in das Szenario eingestellt werden müsste. 

Etwas anderes könnte sich allenfalls dann ergeben, wenn die einstimmige Verlängerung der Frist unter der Bedingung einer verbindlichen Zusage des Vereinigten Königreichs erfolgte, dass man die Austrittsbekundung nach dem 29. März 2019 nicht mehr zurücknehmen und bei dem Austritt bleiben werde. Wie man eine solche konditionierte Verlängerung einzuordnen hätte, wäre jedoch höchst unklar. Nicht auszuschließen ist, dass der EuGH hier eine Abrede außerhalb von Art. 50 EUV annehmen würde, für die sich Kompetenzfragen stellen. 

So oder so gäbe es ein hohes Risiko, dass britische Unionsbürger ihr Wahlrecht zum Europäischen Parlament vor Gericht einklagen. 

Letztlich kann aber fast dahinstehen, wie sich die Rechte der britischen Unionsbürger in diesem Szenario darstellen, weil jedenfalls die ausländischen Unionsbürger in Großbritannien bei noch bestehender Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs im Zeitraum der EP-Wahl ihre Rechte aus Art. 20 Abs. 2 lit. b AEUV einfordern könnten.  

Danach haben Unionsbürger in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. Zwar heißt es in Art. 20 AEUV auch, dass für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Auf diese Bestimmung gestützt das Wahlrecht komplett zu verwehren mit dem Argument, dass die inländischen Unionsbürger ja auch nicht wählen dürften, wird aber den EuGH nicht überzeugen. Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament dürfte zum Kernbereich der Unionsbürgerrechte gehören, wie sie der EuGH seit der Entscheidung in der Rs.  C-34/09 Ruiz Zambrano aus dem Jahre 2011 gewährleistet, ganz gleich wie die Mitgliedstaaten ihre eigenen Staatsangehörigen behandeln. Insoweit schützt der Unionsbürgerstatus nicht mehr nur vor Diskriminierung, sondern geht darüber hinaus. 

4. Zeitlich begrenzte Verschiebung des Austritts über den 2. Juli 2019 hinaus

Was mit der Verschiebung des Austrittsdatums um knapp drei Monate gewonnen wäre, ist ohnehin die Frage. Zur Vorbereitung eines erneuten Referendums wäre die Frist wohl ohnehin zu knapp bemessen. Deswegen überlegen einige, die Fristverlängerung abhängig vom Zweck der Fristverlängerung zu machen, dann aber erforderlichenfalls auch deutlich weiter zu fassen. 

Das würde bedeuten, beispielsweise zur Durchführung eines erneuten britischen Referendums – und für die anschließend erforderliche politische Bewertung und Entscheidungsfindung – die realistischerweise erforderliche Zeit anzusetzen. Dies könnte eine Verschiebung des Austritts um mindestens 8 Monate bedeuten. 

Eine andere Begründung für eine zeitliche Verschiebung betrifft das Austrittsabkommen (Withdrawal Agreement), das auf Art. 50 EUV gründet und seit Mitte November 2018 vorliegt: Die britische Seite ist auch im Hinblick auf einen durch das Austrittsabkommen geregelten Brexit in Verzug. Neben der – noch immer ausstehenden – britischen Annahme des Austrittsabkommens bedürfte es nämlich noch entsprechender Begleitgesetzgebung, einer Withdrawal Agreement Implementation Bill. Dieses Gesetz würde erst die Vorkehrungen treffen, mit denen der Vorrang des Unionsrechts auch für die Übergangszeit gesichert wäre, der britische Finanzbeitrag an die Europäische Union gezahlt werden könnte und sicherstellen, dass nicht nach dem Prinzip der parliamentary sovereignty ein späteres Parlament die Gewährleistungen für Unionsrecht und Unionsbürger wieder aufhebt (constitutional bareer). Das Gesetz müsste durch beide Häuser des Parlaments bestätigt werden – bis 29. März 2019 eigentlich auch kaum mehr zu schaffen

Wie immer man den Fristverlängerungsbedarf sachlich begründen mag: ein solches Verlängerungsszenario ohne Durchführung von EP-Wahlen im Vereinigten Königreich würde das Europarecht erheblich beschädigen. Unionsbürgern aus dem Vereinigten Königreich und aus den anderen Mitgliedstaaten würde das Wahlrecht zum EP verweigert, die Konstituierung des EP würde ohne britische Abgeordnete stattfinden und das EP würde ohne britische Abgeordnete zu arbeiten beginnen – sämtliche Rechtsakte dieses „EP 27“ wären angreifbar mit dem Argument, dass das Parlament nicht ordnungsgemäß zusammengesetzt ist. Damit würde – unabhängig von der Begründetheit dieses Arguments – die Gesetzgebungstätigkeit der EU massiv beschädigt und das EP in nachhaltige Mitleidenschaft gezogen. Erst mit dem endgültigen Ausscheiden des Vereinigten Königreichs könnte wieder sicher von einem regelgerecht zusammengesetzten Parlament ausgegangen werden. Die Rechtsverletzung gegenüber den in ihrem Wahlrecht aus Art. 20 AEUV verletzten nicht-britischen Unionsbürgern bliebe. Diese könnte auch durch eine Lösung, bei der Großbritannien seine Sitze mit entsandten – nicht mit gewählten – Personen füllen würde, nicht behoben. 

5. Unbegrenzte Verschiebung des Austritts über den 2. Juli 2019 hinaus / Rücknahme des Austritts ohne britische EP-Wahl

Ein noch dramatischeres Szenario – ohne die letztgenannte Rückkehr zu einem rechtskonformen Zustand nach einiger Zeit – wäre das Szenario einer Verschiebung des Austritts über den 2.7.2019 hinaus ohne terminliche Befristung und ohne dass im Vereinigten Königreich Wahlen zum EP stattfänden. Es ist das in jeder Hinsicht europaverfassungsrechtlich gefährlichste Szenario. 

Mit Art. 50 EUV wäre eine solche Entwicklung an sich nicht zu vereinbaren, weil die Mitgliedstaaten der EU 27 einstimmig die Frist lediglich „verlängern“ können – und nicht etwa aussetzen –, was ein eindeutiges Datum für den Fristablauf impliziert. Das Szenario könnte sich aber dann ergeben, wenn das Vereinigte Königreich in Anbetracht der völlig verfahrenen innenpolitischen Lage und eines drohenden ungeregelten Brexit im letzten Moment die Mitteilung über die Austrittsabsicht einstweilen zurücknimmt, ohne den Brexit für erledigt zu erklären und mit Blick auf Letzteres keine Europawahl im Mai 2019 durchführt. 

Dass „revoke and reconsider“ in Anbetracht der unerbittlich verrinnenden Zeit und der Unfähigkeit der britischen politischen Akteure, zu Entscheidungen zu kommen, vielleicht die einzige Möglichkeit für das Vereinigte Königreich bleibt, aus der ganzen Sache ohne katastrophische Verwerfungen herauszukommen, wird auch in Großbritannien zunehmend realisiert.

Nun gelingt es der britischen Regierung schon nicht, eine parlamentarische Zustimmung zum Austrittsabkommen zu erlangen. Dies, obwohl das Austrittsabkommen an vielen Stellen den Interessen der Briten sehr weit entgegenkommt und die EU an vielen Stellen Kontrollverluste in Kauf nimmt. In Anbetracht dieser Durchsetzungsschwäche spricht wenig dafür, dass diese britische Regierung eine Mehrheit für die Abhaltung von Europawahlen gewinnen kann. 

In diesem Fall hätte man die oben beschriebene schwere Beschädigung des Europäischen Parlaments, aber ohne eine klare zeitliche Befristung durch einen neuen Endtermin für den Austritt. Man könnte dann zwar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den Noch-immer-Mitgliedstaat Großbritannien führen, aber das würde die Wahlen nicht ersetzen können. 

Einordnung

Wenig spricht dafür, dass man in Großbritannien besondere Energie für den Schutz der institutionellen Integrität des Europäischen Parlaments aufbringen wird. Besonders geschätzt war das EP in Großbritannien noch nie. Ich kann mich gut erinnern, wie mir einmal vor langen Jahren zu Zeiten des Europäischen Verfassungskonvents ein britischer Ministerialbeamter erklärte, dass das EP ein „illegitimate parliament“ sei. Sicherlich keine Einzelmeinung – aus Sicht eines Systems, das die parliamentary sovereignty als axiomatischen Punkt der eigenen Verfassungsordnung in einer jahrhundertealten Verfassungstradition ansieht, mag eine solche Einschätzung sogar nahe liegen. Es ist vor allem die Listenwahl, die aus britischer, aber durchaus auch aus französischer Sicht das Europäische Parlament diskreditiert. Man verbindet mit Listenwahlen und Verhältniswahlrecht vielfach Hinterzimmerkungeleien und intransparente Nominierungsprozesse, in denen Parteizentralen bestimmen und den Wählern Kandidaten vorsetzen, auf die man keinen Einfluss mehr hat. Die deutschen Nominierungsprozesse zur EP-Wahl 2019 in den Traditionsparteien CDU und SPD bieten leider für diese Sicht einmal mehr Anschauungsmaterial. Zu erinnern ist hier an die Vorgänge um den Brokxit mit der sachfremd motivierten Eliminierung eines der bekanntesten Europagesichter aus dem EP in der CDU einerseits, die Abkopplung der ostdeutschen Kandidaten und den Parachutage von oben zulasten verdienter und auch sachkundiger Europapolitiker auf der Bundesliste – Bundeslisten sind eben doch ein Problem – bei der SPD andererseits. 

Dabei hat der britische Parlamentarismus weniger denn je Grund zu Überlegenheitsgesten. Dass auch im Vereinigten Königreich die Macht in Wahrheit gar nicht beim traditionsreichen Parlament sondern tatsächlich – auch hier – bei der Ministerialbürokratie zu verorten ist, weiß man seit „Yes Minister“ an sich schon länger. Daneben ist der ganze Brexit-Verlauf  von Anbeginn in nahezu jeder Phase des Geschehens ein Beleg für die Funktionsdefizite des britischen Parlamentarismus, angefangen mit der Überlassung einer derart wichtigen Frage an ein referendumsunerfahrenes Wahlvolk.  

Die britische Regierung wird sich jedenfalls voraussichtlich nicht sonderlich intensiv um das Schicksal des Europäischen Parlaments im Brexit kümmern. Aber auch auf die Regierungen der EU 27 sollte man in dieser Hinsicht nicht allzu große Hoffnungen setzen. Der bisherige Stellenwert des EP und der anstehenden EP-Wahlen in der beginnenden Debatte um eine Verschiebung der EP-Wahl zwecks Brexit-Fristverlängerung ist bezeichnend: Entweder das EP kommt in den Überlegungen zur Verlängerung der Brexit-Frist gar nicht zur Sprache oder es wird als Verfügungsmasse angesehen, auf die es ganz augenscheinlich nicht so sehr ankommt.

Hier zeigt sich einmal mehr, dass die reichlich deutsche Idee, über ein Spitzenkandidatenkonzept die EU als parlamentarische Demokratie zu rekonstruieren, mehr schadet als nützt. Die EU ist nämlich mit dem Machtzentrum Europäischer Rat – ergänzend zu Art. 10 Abs. 1 EUV – viel besser in den Kategorien einer präsidialen Demokratie zu verstehen, bei der es um Gegenmacht geht. Dass das in Deutschland übersehen wird mag daran liegen, dass wir mit Präsidialdemokratien wenig Erfahrung haben,