Coronavirus und Reformbedarf des „Pandemierechts“
Pandemien sind die große Stunde der Lebenswissenschaften: Ärztinnen retten Menschenleben, Epidemiologen und Virologinnen analysieren Verbreitungswege, Mortalitäts- und Morbiditätsraten, Pharmazeuten, Chemikerinnen und Biologen entwickeln Arzneimittel und Impfstoffe. Ohne sie wären wir dem Corona-Virus hilflos ausgeliefert. An Rechtsgelehrten als notorischen Bedenkenträgern besteht dagegen kein Bedarf. Oder doch? Tatsächlich wirkt sich das Fehlen eines kohärenten ebenen-übergreifenden „Pandemierechts“ auch auf die Arbeit der „Heldinnen und Helden in Weiß“ aus.
Recht als lebensrettende Steuerungsressource im Umgang mit Pandemien
Anders als bei sonstigen Großschadensereignissen handelt es sich bei einer Pandemie um eine schleichende Katastrophe. Eine völlig unbekannte respiratorische Krankheit kann sich in wenigen Wochen Tröpfchen für Tröpfchen zur globalen Bedrohung entwickeln – oder auch nicht, je nachdem wie schnell, koordiniert und entschlossen man darauf reagiert. Bei den letzten zwei Coronavirus-Ausbrüchen SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome) und MERS (Middle East Respiratory Syndrome) ist es gelungen, die globale Ausbreitung zu stoppen. Auch wenn eine Infektionskrankheit einen weltweiten Verbreitungsgrad erreicht hat, lassen sich die Erkrankungs- und Sterberaten durch angemessene Bekämpfungsmaßnahmen erheblich beeinflussen. Dem Recht kommt im Umgang mit dem Pandemierisiko die nicht zu unterschätzende Aufgabe der Prozesssteuerung zu. Je besser der regulative Rahmen ist, desto effektiver kann die Pandemie bewältigt werden. Grund genug, die Bestimmungen des „Pandemierechts“ einer genaueren Analyse zu unterziehen. Da die Vorgaben der EU derzeit wenig Steuerungskraft entfalten, soll diese Regelungsebene hier ausgespart bleiben (siehe dazu Klafki, Risiko und Recht, 2017, 189 ff., 236 ff., 302 ff.)
Unübersichtliches internationales Hard und Soft Law
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die Herrin des internationalen Seuchenschutzes. Sie ist einer der wenigen völkerrechtlichen Akteure, dem die internationale Staatengemeinschaft das Recht zubilligt, Regelungen mit unmittelbarer Geltung zu erlassen. Auf Grundlage von Art. 21 f. WHO-Verfassung wurden die Internationalen Gesundheitsvorschriften erlassen (ausf. dazu Klafki, GYIL 61 (2018), 73 ff.). Sie enthalten unter anderem Meldepflichten für bestimmte Infektionskrankheiten und geben dem Generaldirektor der WHO das Recht, im Falle einer „gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite“ gemeinsam mit einer Expertengruppe Empfehlungen an die Staatengemeinschaft zu richten. Eigene Bekämpfungsbefugnisse oder Sanktionen für Verstöße gegen die Normen oder die Empfehlungen der WHO sind in den Internationalen Gesundheitsvorschriften nicht vorgesehen. Auch verbleiben die Empfehlungen vielfach im medizinisch-technischen Bereich – zu weit will man nicht in die Bereiche nationaler Eigenverantwortung vordringen.
Sucht man nach konkreteren Bestimmungen zur Pandemievorbereitung und -bekämpfung, so wird man in den rechtlich unverbindlichen, faktisch aber einflussreichen Pandemieplanungsdokumenten der WHO fündig. Besonders bedeutsam sind die Influenzapandemiepläne der WHO. Darin werden in Abhängigkeit von Schwere und Verbreitungsgrad der Infektionskrankheit bestimmte „Pandemiephasen“ (ursprünglich 6, nun nur noch 4) festgelegt, in denen unterschiedliche Maßnahmen empfohlen werden. Daneben gibt es aber auch andere – mit der Influenzapandemieplanung und den dort beschriebenen Phasen nicht verknüpfte – Pläne zu SARS, Ebola und jüngst auch zu Corona. Weiterhin hat die WHO – in Reaktion auf die Ebola-Krise – ein Health Emergencies Programme ins Leben gerufen, über das Notfall-Missionen zur Unterstützung von Mitgliedsstaaten an Ausbruchsorte entsendet werden können. Das zugrunde liegende Soft Law-Dokument, sieht ein Drei-stufiges-Notfallbewertungssystem vor, wobei erst in einem Notfall der Stufe 2 oder 3 konkrete Bekämpfungsmissionen eingesetzt werden können.
Schon jetzt wird deutlich: Die rechtliche Situation auf internationaler Ebene ist unübersichtlich und komplex. Corona stellt zwar eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite dar, zu der Frage, ob es sich um eine Pandemie im Sinne der Influenzapandemieplanung handelt, äußert sich die WHO jedoch bislang nicht. Angesichts der Tatsache, dass mittlerweile eine Corona-Bekämpfungsmission in den Iran entsandt wurde, spricht einiges dafür, dass es sich mindestens um einen Notfall der Stufe 2 im Rahmen des Emergency Programme handelt, richtig offiziell will man das aber nicht aussprechen.
Die Diversifizierung der Risikobewertungsmechanismen hat für die WHO den Vorteil, dass sie sich weniger angreifbar macht, wenn sie manches in der Schwebe lässt. Während der milde verlaufenen Schweinegrippepandemie 2009, bei der die WHO die höchste Pandemiestufe ausrief, wurde die WHO scharf wegen unnötiger Panikmache kritisiert. Während der Ebola-Krise wurde sie hingegen wegen unangemessener Verharmlosung an den Pranger gestellt. Besinnt man sich auf die Prozesssteuerungsaufgabe des Rechts zurück, so bedarf es jedoch klarer Entscheidungsmechanismen. Nötig ist eine Rechtsordnung, die die verschiedenen Hard- und Soft-Law-Instrumente miteinander verknüpft und in Beziehung setzt (dazu Klafki, GYIL 61 (2018), 73 ff.) und so ein kohärentes globales Vorgehen gewährleistet.
Fehlendes „Pandemierecht“ in Deutschland
Die Unzulänglichkeiten der internationalen Rechtsordnung finden auch in Deutschland ihre Entsprechungen. Zwar hält das Infektionsschutzgesetz (näher dazu jüngst Kießling, VerfBlog) einige Abwehrmaßnahmen gegen Infektionskrankheiten bereit, letztlich ist es jedoch nicht auf Krankheitsausbrüche von pandemischem Ausmaß zugeschnitten. Das offenbart schon die rein föderale Zuständigkeitsanordnung. Geht es darum, die saisonale Grippewelle zu bewältigen, so sind die Landkreise und kreisfreien Städte, denen der Vollzug überwiegend zugewiesen ist (ausf. dazu Klafki, Risiko und Recht, 2017, S. 312 ff.), angesichts ihrer Erfahrung und Kenntnis über die regionalen Verhältnisse gut gerüstet. In Pandemiesituationen kommt es jedoch schnell zur Überforderung der regionalen Kräfte, so dass es nationaler Koordination bedarf.
Organisationsrechtliche Regelungslücken
In den Pandemieplänen von Bund und Ländern sind zu diesem Zweck zahlreiche Kooperationsgremien – wie Krisenstäbe, Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaften und Expertengruppen – vorgesehen, die für die Corona-Krise bereits einberufen wurden. Die deutschen Pandemiepläne knüpfen an die Planungen der WHO an. Verbindlich sind die Planungsdokumente jedoch auch in Deutschland nicht. Die Pläne der Länder sind zudem, bis auf drei, völlig veraltet (viele sind über 10 Jahre alt) und dadurch inoperabel, denn sie knüpfen noch an ein Phasenmodell der WHO an, das gar nicht mehr existiert. Ferner gibt es seit 2013 noch eine Allgemeine Verwaltungsvorschrift über die Koordinierung des Infektionsschutzes in epidemisch bedeutsamen Fällen. Aber auch dieses Rechtsdokument verleiht den Bundesministerien und ‑behörden keine rechtlichen Kompetenzen. Schon jetzt weichen die ersten Landräte absichtsvoll von den bundesseitigen Empfehlungen ab. Für die öffentliche Publikumsinformation ist die Kleinstaaterei ebenfalls fatal. Während der Schweinegrippepandemie resultierte aus den widersprüchlichen Meldungen der verschiedenen Behörden eine derartige Verunsicherung, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung größere Angst vor der Impfung entwickelte als vor der Seuche selbst. Die teuren Impfstoffe wurden am Ende verbrannt. In der EHEC-Krise wurden durch die zweifelhafte hoheitliche Öffentlichkeitsarbeit völlig unbeteiligte Gemüsebauern in die Insolvenz getrieben.
Materiell-rechtliche Regelungslücken
Auch in materiell-rechtlicher Hinsicht fehlt es im IfSG an hinreichenden Vorbereitungsmaßnahmen für epidemisch bedeutsame Krankheitsausbrüche. So werden vor und/oder während Pandemien regelmäßig Medikamente und Heilmittel knapp. Schon jetzt fehlen in einigen Apotheken fiebersenkende Medikamente und Schmerzmittel. Für Atemschutzmasken zahlt man derzeit Rekordpreise. Möchte man in einer Pandemie möglichst lange alle Erkrankten oder besonderen Risiken ausgesetzte Personen – wie etwa Pfleger und Ärztinnen – versorgen, so bedarf es einer strikten Rationierung solcher Güter. Solche Medizinprodukte ungeregelt auszugeben – frei nach dem Motto „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ –, kann in schweren Pandemiesituationen schnell zu einem Zusammenbruch zentraler Versorgungseinrichtungen führen. Während der Schweinegrippepandemie erließ das Bundesgesundheitsministerium – ohne hinreichende Ermächtigung i.S.d Art. 80 GG – im Rahmen der Influenzaschutzimpfung-GKV-Leistungspflichtverordnung (BAnz. Nr. 124, S. 2889) folgende Prioritätenliste für die Impfstoffvergabe:
1. Besonders betroffene Personen mit Vorerkrankungen oder
Fettleibigkeit (sic!)
2. Schwangere
3. Medizinisches oder pharmazeutisches Personal
4. Bedienstete der Vollzugspolizei und Feuerwehren.
Die Regelung ist nicht nur inhaltlich streitbar (s. zu anderen möglichen Verteilungsmechanismen hier); auch die Vorstellung, man könne den Teilhabeanspruch auf überlebenswichtige Medizingüter mittels einer schlichten Rechtsverordnung ohne jegliche legislative Vorzeichnung beschränken, ist aus verfassungsrechtlicher Perspektive grotesk.
Ein Blick in die Nachbarschaft – das Epidemiengesetz der Schweiz
Die kurze Analyse zeigt: Wir sind in Deutschland rechtlich nicht besonders gut auf eine Pandemie vorbereitet. Ganz anders sieht es in unserem Nachbarland der Schweiz aus. Hier gibt es ein umfassendes Epidemiengesetz, das dem Bundesrat für „besondere Lagen“ und „außerordentliche Lagen“ besondere Kompetenzen zuweist, Koordinationsgremien bestimmt und zahlreiche Verordnungsermächtigungen für das Bundesamt für Gesundheit enthält, um flexibel in der jeweiligen Situation agieren zu können. Unter anderem wird das Bundesamt für Gesundheit ermächtigt, den Kantonen Anweisungen im Hinblick auf die Verteilung von Hilfsmitteln zu erteilen. In einer vom Bundesgesundheitsamt erlassenen Epidemienverordnung finden sich zudem Rechtspflichten zur regelmäßigen Abstimmung und Aktualisierung von Notfallplänen in Bund und Kantonen. Art. 61 der Verordnung bestimmt abstrakt-generelle Anforderungen an die Aufstellung einer Prioritätenliste für knappe Heilmittel, die das Bundesgesundheitsamt im Wege einer Rechtsverordnung erlassen kann, sofern es zu Knappheitsbedingungen kommt.
Nach der Pandemie ist vor der Pandemie
Sicher lässt sich nicht alles, was in der Schweiz geregelt ist, reibungsfrei in das deutsche Rechtssystem integrieren, zumal unsere grundgesetzliche Kompetenzordnung recht rigide ist und nach zwei großen Föderalismusreformen insoweit kein großer verfassungsrechtlicher Reformwille zu erwarten ist. Dennoch sollten wir die – hoffentlich recht milde verlaufende – Corona-Krise nutzen, um uns für die Zukunft zu wappnen. Die nächste Pandemie kommt bestimmt. Angstvoll blicken Gesundheitsexperten der WHO auf verschiedene Influenzavirusstämme. Das Virus A(H5N1), das zum Glück noch nicht von Mensch zu Mensch übertragbar ist, hat beispielsweise eine Mortalitätsrate von 60%. Jeder Fehler – auch rechtlicher Art – wird in einer solchen Pandemiesituation mit Menschenleben bezahlt. Grund genug, das Seuchenschutzrecht auf die politische Agenda zu setzen.