11 July 2022

Das Bundesverfassungsgericht, die Bundesregierung und der Interorganrespekt

Das Verwaltungsgericht Karlsruhe beschied dem BVerfG mit Beschluss vom 14. Juni 2022, dass seine Pressestelle Fragen einer Bild-Journalistin zu einem gemeinsamen Abendessen von Verfassungsrichterinnen und -richtern und Mitgliedern der Bundesregierung hätte beantworten müssen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe den presserechtlichen Auskunftsanspruch nicht gewahrt. Es ist ungewöhnlich, dass ein Verwaltungsgericht das Verwaltungshandeln des BVerfG für rechtswidrig hält. Auch in der öffentlichen Diskussion ist der undurchsichtige Umgang mit den journalistischen Nachfragen auf Kritik gestoßen, gerät er doch mit dem eigenen Anspruch des Gerichts auf Transparenz in Konflikt. Der informelle Charakter des Abendessens provoziert indes eine gewisse Öffentlichkeitsdistanz. Grund genug, um diese Praxis zu hinterfragen.

Ein Abendessen mit Folgen

Im Sommer 2021 trafen sich Verfassungsrichterinnen und –richter mit Mitgliedern der Bundesregierung im Bundeskanzleramt zu einem Abendessen, um über das Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“ zu sprechen. Justizministerin Lambrecht und Verfassungsrichterin Baer hielten Impulsvorträge. Zu dem Zeitpunkt waren Beschwerden beim BVerfG gegen die Bundesnotbremse sowie gegen Angela Merkels Äußerungen zur Wahl in Thüringen anhängig. Die Beschwerdeführer dieser Verfahren nahmen das Abendessen zum Anlass, Befangenheitsanträge gegen den Zweiten Senat und gegen Gerichtspräsident Harbarth und Verfassungsrichterin Baer zu richten. Beide Anträge wurden zurückgewiesen, letzterer, da das Abendessen als solches ungeeignet gewesen sei, Zweifel an der Unbefangenheit der Richter hervorzurufen, die Thematik von allgemeiner Relevanz und nur abstrakt behandelt worden sei.

Die Bild-Journalistin Rosenfelder wollte dennoch mehr über den Kurzvortrag von Verfassungsrichterin Baer in Erfahrung bringen und richtete ein entsprechendes Auskunftsersuchen an die Pressestelle des Gerichts.  Die Pressestelle teilte ihr mit, dass zum Kurzvortrag keine Hand- oder Nebenakten vorlägen. Weitere Nachfragen zum Vortrag, der Themenauswahl des Abendessens oder der geführten Gespräche beantwortete die Pressestelle Berichten zufolge mit: „Ich verweise auf unsere bisherige Korrespondenz“, selbst auf die Frage auf welche Korrespondenz verwiesen werde.

Im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe erkannte das BVerfG den presserechtlichen Auskunftsanspruch der Journalistin an und stellte ihr alle vorhandenen Akten mit Bezug zu dem Abendessen zur Verfügung. Da sich die Sache insofern erledigt hatte, entschied das Verwaltungsgericht im Rahmen der Kostenentscheidung summarisch über die Erfolgsaussichten des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz. Mit Ausnahme einiger zu unspezifisch gestellter Fragen bejahte es diese. Entgegen der Argumentation des BVerfG stellte es fest, dass die Pressestelle nicht den Eindruck erweckt habe, die Fragen noch beantworten zu wollen, womit der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nicht verfrüht gewesen sei. Einen Anordnungsgrund bejahte es ebenfalls. An den Zusammenhängen der Coronapolitik der Bundesregierung und anhängigen Gerichtsverfahren habe ein gesteigertes öffentliches Interesse bestanden und der Gegenwartsbezug habe sich aus der zeitlich noch relativ kurz zurückliegenden Entscheidung des BVerfG zur Bundesnotbremse sowie der damit einhergehenden Berichterstattung zu den Befangenheitsanträgen ergeben. Mit Zeitablauf hätte die ersuchte Information an Nachrichtenwert eingebüßt.

Dieses Verfahren hinterlässt den Eindruck, dass das BVerfG seiner Pressearbeit bisher womöglich keine angemessene Bedeutung eingeräumt hat. Bei den Informations- und Kommunikationskanälen mit den Medien genauso wie bei der internen Abstimmung zur Beantwortung von Presseanfragen gibt es scheinbar Optimierungsbedarf. Ferner liegt in dem informellen Charakter des Abendessens gewiss ein weiterer Grund für die misslungene Kommunikation. Das wirft Fragen nach Grund und Nutzen dieser Praxis auf.

Der „Dialog der Organe“ als Ausdruck von Interorganrespekt?

Auf der Internetseite des BVerfG war zu lesen, dass das Abendessens Teil einer „seit vielen Jahren bestehende[n] Tradition“ sei. In den Gründen zur Ablehnung des Befangenheitsantrags verwies der Zweite Senat darauf, dass das Verhältnis der obersten Verfassungsorgane – auch jenseits der eigentlichen Ausübung ihrer jeweiligen Kompetenzen – auf gegenseitige Achtung, Rücksichtnahme und Kooperation angelegt sei. Die regelmäßigen Treffen des BVerfG mit der Bundesregierung zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch seien im Sinne eines „Dialogs der Staatsorgane“ Ausdruck dieses Interorganrespekts beziehungsweise der Verfassungsorgantreue.

Bei näherer Betrachtung von Grund und Zweck des Interorganrespekts erscheint diese Begründung jedoch wenig überzeugend. Der dogmatisch an Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG anknüpfende Grundsatz basiert auf zwei Herleitungssträngen: einem integrationstheoretischen und einem an der Gewaltenteilung ausgerichteten. Zurückgehend auf Smend und Heller zielt der integrationstheoretische Ansatz auf eine aus der Verfassungstreue folgende Verfassungsverantwortung, mit der die Pflicht der Staatsorgane verbunden ist, die verfassungsmäßige Ordnung zu bewahren, um damit die staatliche Einheit als zentrale Aufgabe der Verfassung zu realisieren. Eine durch gegenseitige Blockaden der Organe verursachte staatliche Desintegration soll vermieden werden. Wo Kompetenzüberschneidungen drohen, soll die Verfassungsorgantreue die Verfassungsorgane zur Zusammenarbeit anhalten. Der an der Gewaltenteilung orientierte Herleitungsstrang hingegen unterstützt die Kompetenzabgrenzung zwischen den Verfassungsorganen. Er charakterisiert die Verfassungsorgantreue als Komplementärprinzip, das die Verfassungsorgane dazu anhält, ihre organadäquaten Funktionsgrenzen zu wahren.

Jenseits des positiven Rechts hält der Grundsatz der Verfassungsorgantreue die Verfassungsorgane somit zu der mit Blick auf die Kompetenzabgrenzung nötigen gegenseitigen Rücksichtnahme und dem Respekt untereinander sowie zu den für eine gedeihliche Zusammenarbeit förderlichen Kooperations-, Konsultations- und Informationspflichten an. Letztere ergeben sich vor allem dort, wo einvernehmliche Lösungen im Wege eines auf Ausgleichs- und Kompromissbereitschaft angewiesenen Abstimmungsprozesses erzielt werden sollen.

Für das BVerfG haben Schenke, Lorz und Schulze-Fielitz den Grundsatz in ihren diesbezüglichen Betrachtungen nur in der die Gewaltenteilung fördernden Dimension thematisiert. Zu den Anwendungsbeispielen gehören die richterliche Zurückhaltung bei öffentlichen Meinungsäußerungen, die aus der Bindungswirkung der gerichtlichen Judikate für den Gesetzgeber folgende Umsetzungspflicht sowie das Gebot, bei der Verfassungsinterpretation die eigenen Funktionsgrenzen nicht zu überschreiten. Andere Autoren wie Thoma oder Voßkuhle haben aus dem Grundsatz Grenzen für öffentliche Kritik an Urteilen des BVerfG hergeleitet. Nicht ohne Grund findet sich kein Beispiel einer auf Kooperation angelegten Konsultations- und Informationspflicht zwischen den politischen Organen und dem BVerfG. Einen auf Abstimmung ausgerichteten Austausch zwischen BVerfG und den politischen Verfassungsorganen sieht das positive Recht nicht vor; er liefe der Kontrollfunktion des BVerfG entgegen und lässt sich insofern auch nicht auf den Gedanken der Gewaltenverschränkung oder einer „kooperativen Gewaltenteilung“ stützen.

Das Abendessen, so müsste also argumentiert werden, ist Ausdruck des Interorganrespekts in seiner kompetenzwahrenden Dimension. Der Dialog zwischen den Staatsorganen lässt gegenseitiges Verständnis entstehen, das für die Wahrung der Kompetenzgrenzen förderlich ist. Allerdings ist nicht ersichtlich, warum die Verfassungsorgane einen verständnisfördernden Informationsaustausch nicht ebenso durch aktenmäßig festgehaltene Kommunikation oder aber anlassbezogen in einem geregelten Verfahren vor dem BVerfG im Wege der Schriftsätze und des mündlichen Vortrags sowie durch die Fragen des Gerichts und seine Entscheidungen erzielen können.

Das Problem der Informalität

Stattdessen findet der abendliche Dialog im Bereich des Informellen und damit für die Öffentlichkeit Undurchsichtigen statt. Freilich ist in der Literatur herausgestellt worden, dass ein gewisses Maß an Informalität die Effizienz intra- und interinstitutioneller Kooperation fördert. Schulze-Fielitz hat eine Reihe von Beispielen informellen Umgangs der Verfassungsorgane untereinander identifiziert. Zu deren charakteristischen Funktionsmerkmalen gehört die Öffentlichkeitsdistanz. Sie schafft eine Atmosphäre der Vertraulichkeit, die Vertrauen zwischen den Beteiligten entstehen lässt. Im politischen Bereich bereitet sie die Grundlage für eine größere Kompromissbereitschaft und dient damit der Effizienzsteigerung von politischen Abstimmungsprozessen. Für das BVerfG, das staatliches Handeln unbefangen kontrollieren soll, kann die Stärkung des gegenseitigen Vertrauens zur Realisierung reibungsloser Zusammenarbeit nicht Zweck solcher Treffen sein. Ferner ist eine die Öffentlichkeit ausladende Informalität für ein Verfassungsorgan, das sich durch seine Unabhängigkeit gegenüber den politischen Gewalten auszeichnet und diese auch sichtbar manifestiert, problematisch. Nicht umsonst wurde die Stadt Karlsruhe als Sitz des BVerfG der Stadt Berlin vorgezogen – die örtliche Distanz garantiere auch eine persönliche Distanz, so die Begründung.

Tradition allein ist nicht Grund genug

Letztlich werfen die öffentliche Diskussion und die aktuelle Entscheidung des Verwaltungsgerichts die Frage auf, ob an den Abendessen von BVerfG und Bundesregierung festgehalten werden sollte. Gewiss, es ist Tradition. Langfristig scheint mir das BVerfG an solchen Abendessen jedoch eher potentiellen Schaden zu nehmen, als dass es davon profitiert. Das BVerfG stützt seine Autorität nicht nur auf die Verfassung, sondern auch auf das öffentliche Vertrauen. Dieses beruht mitunter auf Transparenz, die der Öffentlichkeit die Möglichkeit verschafft, die Entscheidungen des Gerichts kritisch zu diskutieren. Entsteht der Eindruck, dass die Karlsruher Richterinnen und Richter ein zu enges Verhältnis mit den politischen Gewalten pflegen, ist das ein Problem für die Autorität dieses Verfassungsorgans. Freilich mag ein Abendessen für einen solchen Eindruck nicht ausreichen. Gleichwohl ist es heikel, wenn Ablehnungsanträge mit dem Argument zurückgewiesen werden, dass es „keinen Anlass gibt, daran zu zweifeln, dass ein Austausch zu konkreten Verfahren nicht stattgefunden hat“, weil doch gerade aufgrund der Informalität des Treffens eine Informationsgrundlage für die Beurteilung dieser Frage fehlt. Im Ergebnis konnte sich der Erste Senat für die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs zwar richtigerweise auf die bestehende Tradition des Abendessens sowie auf die vom Grundgesetz und dem einfachen Verfahrensrecht vorausgesetzte innere Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richterinnen und Richter berufen. Ohne ein solches Vertrauen wäre der Rechtsstaat nicht funktionsfähig. Ein unbegründetes Misstrauen gegenüber dem Gericht sollte daher, wie vom Zweiten Senat in dem Zusammenhang festgestellt, keinen Anlass dafür geben, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Verfassungsrichterinnen und -richter zu hinterfragen. Gleichwohl ist dieser Abend in der öffentlichen Debatte kritisch gewürdigt worden (siehe u.a.  hier, hier, hier, hier und hier) und er verursachte eine gewisse Skepsis bezüglich der Nähe von BVerfG und Bundeskanzleramt.

Gute Gründe für den Erhalt der Tradition, welche die damit verbundenen Risiken aufwiegen, sehe ich nicht. In der Gesamtschau sprechen meines Erachtens die besseren Gründe dafür, diese Praxis aufzugeben, die – das sei noch erwähnt – in anderen europäischen Ländern wie im Vereinigten Königreich undenkbar wäre.