11 September 2017

Das Bundes­verfassungs­gericht und die „Direktionskraft“ der Normen?

Dürfen Verfassungsrichter denken oder müssen sie sich lächerlich machen, wenn sie über ökonomische Zusammenhänge urteilen? Diese Frage muss man leider in aller Härte stellen, wenn man das jüngste Urteil (bzw. Zwischenurteil) des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) zur europäischen Geldpolitik liest (hier zu finden, hier die Pressemitteilung).

Nicht nur, dass die Verfassungsrichter erneut an der Frage scheitern, ob die Europäische Zentralbank mit ihrer Geldpolitik unzulässige Staatsfinanzierung betrieben hat, dieses Mal treibt sie insbesondere die Frage um, ob die EZB mit ihrer Geldpolitik generell und unzulässig in die Kompetenzen der allgemeinen Wirtschaftspolitik eingreift, wenn sie Quantitative Easing (also den Ankauf von Bonds und anderen Papieren am Kapitalmarkt) betreibt, obwohl sie laut den einschlägigen Artikeln der Europäischen Verträge die Wirtschaftspolitik in der Union lediglich unterstützen soll.

Zur Staatsfinanzierung haben Friederike Spiecker und ich schon vor einigen Jahren Stellung genommen und unsere damalige Position ist auch weiterhin gültig (hier). Die jetzt im Vordergrund stehende Frage geht allerdings viel weiter, weil, wie das Gericht schreibt, die EZB nicht zu einer eigenständigen Wirtschaftspolitik berechtigt ist. Im Wortlaut:

„Die Europäische Union ist – abgesehen von einzelnen insbesondere im Dritten Teil des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union geregelten Ausnahmen – im Bereich der Wirtschaftspolitik im Wesentlichen auf eine Koordinierung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten beschränkt (Art. 119 Abs. 1 AEUV). Die EZB soll die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union lediglich unterstützen (Art. 119 Abs. 2, Art. 127 Abs. 1 Satz 2 AEUV; Art. 2 Satz 2 ESZB-Satzung). Zu einer eigenständigen Wirtschaftspolitik ist sie nicht ermächtigt. Geht man – vorbehaltlich der Auslegung durch den EuGH – davon aus, dass der PSPP-Beschluss als wirtschaftspolitische Maßnahme zu qualifizieren ist, verstößt er offensichtlich gegen diese Kompetenzverteilung.

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Eine solche Kompetenzüberschreitung wäre wohl strukturell bedeutsam. Das erhebliche Volumen des PSPP beeinflusst die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten in erheblicher Weise und berührt damit den Regelungsgehalt von Art. 126 AEUV sowie des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (SKS-Vertrag) und der zu ihrer Konkretisierung ergangenen Normen des Sekundärrechts. Insbesondere kann es Finanzhilfen nach Art. 12 ff. ESMV überflüssig machen. Da das PSPP den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, ihre Refinanzierung auf den Finanzmärkten ohne nennenswerte Hürden sicherzustellen, kann die Direktionskraft der genannten Normen, die ein wesentliches Element in der Ausgestaltung der Währungsunion bilden, dadurch verändert werden. Als sichere Folge des PSPP war bereits bei dessen Beginn vorhersehbar, dass – wie dies seit Ende 2015 in mehreren Mitgliedstaaten der Eurozone auch geschehen ist – die Mitgliedstaaten ihre Neuverschuldung erhöhen würden, um durch Investitionsprogramme die Wirtschaft in Schwung zu bringen (vgl. zur Entwicklung der Defizite und Schuldenständen der Mitgliedstaaten im Euroraum European Commission, General Government Data, General Government Revenue, Expenditure, Balances and Gross Debt, Part II: Tables by series, Autumn 2016, p. 158).“

Das ist starker Tobak, weil sich das Gericht nun implizit anmaßt, entscheiden zu können, ob und wann die Mitgliedstaaten über Neuverschuldung ihre Wirtschaft in Schwung bringen können – und zwar auch dann, wenn die Mitgliedstaaten, wie das offenbar der Fall ist, die formalen Kriterien einhalten, die von den Verträgen vorgegeben und von der Kommission überprüft sind. Mit anderen Worten, das Bundesverfassungsgericht sagt, durch die vereinfachte Finanzierung der Staatsschulden im Zuge der EZB-Politik werde die „Direktionskraft“ der Normen geschwächt, die verlangen, dass Mitgliedsländer, die in Schwierigkeiten sind, Finanzhilfen vom ESM (also dem Europäischen Stabilitätsmechanismus) bekommen.

Was tut die Geldpolitik?

Da, wie das BVerfG offenbar glaubt, die EZB nicht zu einer „eigenständigen“ Wirtschaftspolitik ermächtigt ist, muss man fragen, was das ist, was die EZB wie alle anderen Zentralbanken der Welt tut. Senkt eine Zentralbank die Zinsen, versucht sie offenbar, die Wirtschaftssubjekte, private wie öffentliche, dazu zu bewegen, sich vermehrt am Kapitalmarkt zu verschulden, um die Wirtschaft anzukurbeln und um auf diese Weise ihr Inflationsziel zu erreichen. Ob sie das nur mittelbar über die Senkung der kurzfristigen Zinsen tut oder unmittelbar, indem sie die langfristigen Zinsen mit beeinflusst, macht im Prinzip keinen Unterschied. Auch bei vollkommener Abstinenz am Bondmarkt gelingt es den Zentralbanken regelmäßig, die langfristigen Zinsen mit nach unten zu schleusen, wenn sie am Geldmarkt, also beim kurzfristigen Zins erfolgreich sind. Dort sind sie aber mit Sicherheit erfolgreich, weil die Zentralbank diesen Zins nicht nur beeinflusst, sondern direkt festlegt.

Tut die Zentralbank also das, was von ihr erwartete wird, verändert sie die „Direktionskraft“ der ESM-Normen, weil sie die Finanzierung für private und für öffentliche Schuldner erleichtert und damit die Gefahr, dass ein Mitgliedsland die Hilfen andere Länder in Anspruch nehmen muss, mindert. Stellt zudem das deutsche Verfassungsgericht fest, dass die Schulden eines Staates zu einem Zeitpunkt steigen, wo die Zentralbank die Anreize zum Verschulden erhöht, überschreitet nach dieser Interpretation die Zentralbank ihr Mandat, weil sie dann nicht mehr allein die Wirtschaftspolitik „unterstützt“ (was immer das heißen mag), sondern die Wirtschaftspolitik eigenständig erleichtert (was immer das heißen mag). Das ist hanebüchen und, wenn ihm nicht vehement auch von der gesamten deutschen Politik widersprochen wird (Schäuble hat immerhin Distanz gezeigt, hier zum Beispiel), ein neuer Sargnagel für die Europäische Währungsunion.

Der Monetarismus ist tot

Wann endlich lässt sich das höchste deutsche Gericht erklären, dass niemand, also auch keine Zentralbank der Welt, die Inflationsrate stabilisieren kann, ohne in den Wirtschaftsablauf einzugreifen und damit auch die Verschuldungssituation des Staates zu beeinflussen? Es gibt keine direkte Verbindung zwischen den geldpolitischen Instrumenten, also dem Zins in erster Linie, und dem geldpolitischen Ziel, der Inflationsrate. Jede Intervention der Zentralbank berührt unmittelbar die wirtschaftliche Entwicklung, die Verschuldung der Sektoren, die Lage am Arbeitsmarkt, die Löhne und dann, am Ende einer langen Kette, die Preise.

Wann endlich lässt sich das Gericht den Zusammenhang zwischen gesamtwirtschaftlichem Sparen und der Verschuldung der Sektoren erklären, so dass es versteht, dass der Vertrag von Maastricht ein Relikt aus einer unaufgeklärten Zeit ist, in der man glaubte, man könne den Staat und seine Verschuldung unabhängig von der Verschuldung der anderen Sektoren einer Volkswirtschaft betrachten? Heute gilt, anders als noch in den normalen Zeiten der Marktwirtschaft in den 50er und 60er Jahren, dass nicht mehr die Unternehmen mit ihrer Verschuldung den Gegenpart bilden zu den privaten Ersparnissen, sondern dass das in großen, relativ geschlossenen Volkswirtschaften wie der Eurozone der Staat sein muss (vgl. hier ein längeres Stück dazu). Damit ist ein Großteil der Regelungen des Maastricht-Vertrages sowie des Wachstums- und Stabilitätspaktes obsolet, auch wenn der Großteil der deutschen Politiker das weiterhin für vollkommen richtig hält.

Fast alles, was das Verfassungsgericht für geltende Volkswirtschaftslehre hält, sind überkommene Lehren aus der Zeit des Monetarismus, die mit dem Ende der neunziger Jahre auslief. Heute vertritt kein ernsthafter Mensch mehr den Monetarismus. Das gilt auch für die führenden Personen in einer der bedeutenden Zentralbanken dieser Welt. Auch dort ist der Monetarismus verschwunden. Allerdings muss man die Deutsche Bundesbank ausnehmen, von der sich das Gericht offenbar regelmäßig beraten lässt. Die Bundesbank ist aber keine Zentralbank, sondern nur die regionale Filiale einer wirklichen Zentralbank, die dazu in einem Land angesiedelt ist, in dem man sich traditionell mit der Übernahme neuer volkswirtschaftlicher Erkenntnisse sehr schwer tut.

Ich muss mich angesichts dieser einfachen Überlegungen korrigieren: Die Argumentation des höchsten deutschen Gerichts in diesem Verfahren ist mit starker Tobak nicht angemessen gekennzeichnet. Nein, die Ausführungen des BVerfG sind kompletter Unsinn. Den Verfassungsrichtern, die so etwas in die Welt setzen, möge man bitte einen Grundkurs in unorthodoxer Volkswirtschaftslehre vermitteln, damit sie wenigstens die Grundbegriffe makroökonomischer Logik kennenlernen. Falls Dozenten gesucht werden, ich stehe bereit, auch unentgeltlich, damit die Staatskasse nicht ungebührlich belastet wird und die öffentlichen Schulden nicht ungebührlich ausgeweitet werden.

Das Gericht kann zwar die Verträge nicht ändern, aber ich bin sicher, es wird die Verträge anders interpretieren, wenn es erst einmal versteht, dass die Verträge, so wie sie geschrieben stehen, gar nicht anwendbar sind.


SUGGESTED CITATION  Flassbeck, Heiner: Das Bundes­verfassungs­gericht und die „Direktionskraft“ der Normen?, VerfBlog, 2017/9/11, https://verfassungsblog.de/das-bundesverfassungsgericht-und-die-direktionskraft-der-normen/, DOI: 10.17176/20170913-123612.

12 Comments

  1. Kilian E Mon 11 Sep 2017 at 13:46 - Reply

    Es fällt schon ins Auge, dass die Jurist/innen und Wirtschaftswissenschaftler/innen offenbar in ihren eigenen (Fach-)Welten leben und der gemeinsame Zugang nicht leicht fällt. Die Fachleute für ökonomische Zusammenhänge sind daran aber möglicherweise nicht ganz unschuldig, jedenfalls hat Heiner Flassbeck, dessen Analysen ich sonst eher teile, wohl auch nicht ganz begriffen, wie man Normen und Gesetze – oder hier: Die EU-Verträge – gemeinhin auslegt. Relikt hin oder her – wenn die Verträge ihrem Inhalt nach dem Geist eines überholten Monetarismus folgen, dann können Richter/innen nicht einfach sagen: Diese Zeit ist vorbei, wir verpassen den Verträgen jetzt einen neuen Geist, die „der” modernen wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtungsweise entsprechen mag. Das BVerfG muss doch wie jedes andere staatliche Gericht auch den aus den Verrägen abzuleitenden Werteentscheidungen schließlich zur Durchsetzung verhelfen. D.h. wenn die Verträge – mit Blick auf Wortlaut oder Entstehungsgeschichte etwa – von der Prämisse ausgehen, dass die staatlichen Schuldensregeln “isoliert zu betrachten” sind (so formuliert es Herr Flassbeck im Makroskop v. 2.9.2017), dann dürfte das weniger mit der Imkompetenz des BVerfG, sondern mehr mit dem Inhalt der von den Gerichten auszulegenden Verträge zu tun haben. Dass aus diesen normativen Vorgaben möglicherweise kaum aufzulösende Abgrenzungsprobleme entstehen, weil die empirischen Prämissen des Vertrags „falsch” sind, kann gut sein – ermächtigt die Gerichte aber jedenfalls im Ausgangspunkt nicht, die in den Verträgen zum Ausdruck kommenden Entscheidungen zu annullieren. Ich weiß nicht, wie das in diesem Fall zu beurteilen ist, jedenfalls geht Heiner Flassbeck naturgemäß nicht auf die hinter diesem Beschluss stehenden rechtlichen Auslegungsprobleme ein. Vielleicht hat er von diesen Fragen ähnlich wenig Ahnung wie die BVerfG-Richter/innen von den hier maßgeblichen ökonomischen Zusammenhängen – was kein Vorwurf sein soll, aber die Kritik von Heiner Flassbeck an den Richter/innen des BVerfG in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt. Die dahinter stehenden europapolitischen Probleme werden damit natürlich noch überhaupt nicht thematisiert. Aber der EuGH wird sich dem Beschluss des BVerfG vermutlich ohnehin nicht anschließen. Wohl eher nicht wegen seiner wirtschaftswissenschaftlichen Expertise, sondern eher, weil der EuGH bekannt dafür ist, politische Entscheidungen zu treffen, die mit einer kohärenten Rechtsauslegung gelegentlich nicht viel zu tun haben. Dann könnten allenfalls noch die ultra vires-Grundsätze zum Zuge kommen…

  2. Prilblume Mon 11 Sep 2017 at 18:00 - Reply

    Verspürt man die Neigung, sich mit einer Analyse auseinanderzusetzen, deren Autor bereits an der Lektüre des Beschlussrubrums scheitert? Diese Frage muss man sich leider in aller Härte stellen, wenn bereits im zweiten Satz von einem “Urteil (bzw. Zwischenurteil)” die Rede ist.

    Zugegeben, solche Einwände mag man für kleinlich halten. Aber als wirtschaftswissenschaftlich höchst mittelmäßig gebildeter Jurist, der nur sehr vage Vorstellungen davon hat, was “ernsthafte Menschen” volkswirtschaftlich so alles vertreten, bin ich auf Alltagsheuristiken entlang bspw. der Frage: “Kann der Autor des Textes lesen?” nun mal angewiesen, um solche ernsthaften Menschen zu erkennen.

  3. schorsch Tue 12 Sep 2017 at 10:10 - Reply

    @Kilian E.: Wieso hab ich den Verdacht, dass Sie mit den “politischen Entscheidungen”, für die der EuGH Ihrer Ansicht nach bekannt ist, nicht kritisieren wollen, dass der EuGH in der Rs. C-62/14 die Karlsruher Vorlage nicht einfach verdientermaßen als unzulässig verworfen hat?