Das Ende der Großzügigkeit
Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 ist mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig. Das hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts heute in einem wegweisenden Urteil festgestellt (BVerfG, Urteil vom 15. November 2023 – 2 BvF 1/22). Die Folgen des Urteils sind weitreichend. Erstmals hat sich das Gericht mit den Anforderungen und Grenzen der sog. Schuldenbremse in Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG n.F. befasst. Anders als in der Rechtsprechung zu deren bis 2009 geltenden Vorgängerregelung legt das Bundesverfassungsgericht dabei – ganz in Übereinstimmung mit der Intention des verfassungsändernden Gesetzgebers – ersichtlich strenge Maßstäbe an.
Drei Problemkreise
Im vorliegenden Verfahren hatte das Bundesverfassungsgericht im Wesentlichen über drei Problemkreise zu befinden: Erstens war zu klären, welche inhaltlichen Anforderungen und Grenzen sich aus Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG für die Neuverschuldung bei Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituationen ergeben. Zweitens war die Frage offen, ob im Falle von ausnahmsweise zulässiger Neuverschuldung ungenutzte Kreditermächtigungen durch Zuführung an ein Sondervermögen (Energie- und Klimafonds bzw. Klima- und Transformationsfonds) faktisch auf kommende Haushaltsjahre übertragen werden dürfen, in denen keine außergewöhnliche Notsituation mehr angenommen wird. Und drittens war bisher ungeklärt, ob ein Nachtragshaushaltsgesetz auch rückwirkend für ein bereits abgelaufenes Haushaltsjahr erlassen werden kann.
Das Vorliegen einer Naturkatastrophe oder außergewöhnlichen Notsituation
Neben der sog. Strukturkomponente (Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG), die dem Bund eine jährliche Neuverschuldung in Höhe von 0,35 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts erlaubt, und der sog. Konjunkturkomponente (Art. 115 Abs. 2 Satz 3-5 GG), die diesen Verschuldungsspielraum für von der Normallage abweichende konjunkturelle Entwicklungen symmetrisch erweitert oder verengt, erlaubt Art. 115 Abs. 2 Satz 6 bis 8 GG als einzige echte Ausnahme vom Nettoneuverschuldungsverbot nur „[i]m Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen,“ eine darüber hinausgehende Verschuldung auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Anders als noch bei der Vorgängerregelung (Ausnahme von der damaligen Höchstgrenze, die durch die Investitionen gezogen wurde, zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts; BVerfGE 79, 311; 119, 96) überprüft das Bundesverfassungsgericht in seinem heutigen Urteil vollumfänglich, ob eine Naturkatastrophe oder außergewöhnliche Notsituation vorliegt (Rn. 119 ff.). Indes lässt das Bundesverfassungsgericht keine Bedenken erkennen, dass es sich bei der Corona-Pandemie um eine außergewöhnliche Notsituation handelte (Rn. 187 ff.).
Sachlicher Veranlassungszusammenhang zwischen Notsituation und der Kreditermächtigung
Das Bundesverfassungsgericht leitet in Übereinstimmung mit der bisher ergangenen landesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (Hessischer StGH, Urteil vom 27. Oktober 2021 – P.St. 2783, P.St. 2827; VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 1. April 2022 – VGH N 7/21) und der überwiegenden Auffassung im Schrifttum aus der Systematik und dem Telos des Art. 115 Abs. 2 GG ab, dass zwischen der Notsituation und der Überschreitung der Regelverschuldungsgrenzen ein Veranlassungszusammenhang bestehen muss (Rn. 99, 124 ff.). Auf dieser Rechtsfolgenseite räumt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum ein für die Diagnose der Art und des Ausmaßes der Notsituation und für die Ausgestaltung der Maßnahmen zur Bekämpfung, Anpassung und gegebenenfalls Nachsorge (Rn. 137). Dies deckt sich mit der früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der in den Jahren 1969 bis 2009 geltenden Schuldenregelung des Grundgesetzes (BVerfGE 79, 311; 119, 96). Ebenfalls in Übereinstimmung mit dieser Rechtsprechung beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht in seinem heutigen Urteil darauf, zu überprüfen, ob die Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers auch vor dem Hintergrund der Auffassungen in Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft nachvollziehbar und vertretbar sind (Rn. 137).
Dass sich die Anforderungen an die dahingehenden Darlegungs- und Begründungslasten nicht abstrakt bestimmen lassen, bringt das Bundesverfassungsgericht in einer anschaulichen Je-Desto-Formel zum Ausdruck: Je weiter das auslösende Ereignis in der Vergangenheit liegt, je mehr Zeit zur Entscheidungsfindung gegeben ist und je entfernter die Folgen sind, desto stärker wird sich der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers verengen, weil die Folgen seines Handelns mit der Zeit besser abzuschätzen sind und so verhindert werden kann, dass die Ausnahme der Überschreitung der Kreditobergrenzen zur Regel wird, wie es bei der grundgesetzlichen Vorgängerregelung bemängelt wurde (Rn. 138).
Für nachvollziehbar hält das Bundesverfassungsgericht im Ausgangspunkt die Krisendiagnose des Gesetzgebers hinsichtlich des Pandemiegeschehens im Jahr 2021 und der wirtschaftlichen Folgen. Allerdings habe der Gesetzgeber den Zusammenhang der ergriffenen Maßnahmen mit der Corona-Pandemie nicht hinreichend dargelegt. An dieser Stelle spart das Bundesverfassungsgericht nicht mit Kritik und fordert vom Gesetzgeber weitreichende Darlegungen und Begründungen, weil das krisenauslösende Moment zum Zeitpunkt des Beschlusses über das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz bereits fast zwei Jahre in der Vergangenheit lag und der Haushaltsgesetzgeber seitdem wiederholt von der Ausnahmeklausel des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG Gebrauch gemacht hatte. Der Gesetzgeber bleibt tatsächlich ein ganzes Bündel an Begründungen schuldig: Er habe nicht begründet, wieso die notlagenbedingten Kredite entgegen der ursprünglichen Haushaltsplanung und nicht oder nicht in voller Höhe im Haushaltsjahr 2021 verausgabt worden sind. Es blieb im Gesetzgebungsverfahren auch unklar, welche Maßnahmen konkret aus den Krediten finanziert werden sollen. Kritisch bewertet das Bundesverfassungsgericht zudem, dass der Energie- und Klimafonds, in den die Kreditermächtigungen faktisch überführt wurden, bereits 2010 errichtet worden war und die Zielsetzung der durch ihn finanzierten Programme bereits zum damaligen Zeitpunkt festgelegt worden war. Zudem fehle es angesichts der Konjunkturkomponente (Art. 115 Abs. 2 Satz 3-5 GG), die als eigene Sonderregelung zyklischen Konjunkturverläufen Rechnung trägt, an einer Abgrenzung zu außergewöhnlichen Wirtschaftsereignissen (Rn. 196 ff.).
Keine Verhältnismäßigkeitsprüfung der ergriffenen Maßnahmen
Eine Absage erteilte das Bundesverfassungsgericht dagegen der in der rechtswissenschaftlichen Literatur weit verbreiteten Auffassung, dass die krisenbedingte Neuverschuldung einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips unterliege. Stattdessen betont das Bundesverfassungsgericht, dass die konkrete Abwägung zwischen den geeigneten Mitteln zur Abwehr der außergewöhnlichen Notsituation eine Aufgabe des Haushaltsgesetzgebers ist, die er politisch zu verantworten hat. Die krisenbedingte Kreditaufnahme prüft das Bundesverfassungsgericht auch nicht dahingehend, ob sie sich als erforderlich und angemessen erweist. Eine solche Prüfung würde die Funktionsgrenzen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sprengen. Zurecht betont das Bundesverfassungsgericht, dass es allein Sache des Parlaments ist, entsprechende (politische) Grundentscheidungen zu treffen und hierbei alternativ bestehende Finanzierungsmöglichkeiten wie Steuererhöhungen, andere haushaltspolitische Schwerpunktsetzungen und eventuelle Rücklagen in die Abwägung miteinzubeziehen. Eine „Subsidiarität der Kreditaufnahme“ lässt sich Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG gerade nicht entnehmen (Rn. 144 ff.). Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, diese politischen Erwägungen durch eigene Erwägungen zu ersetzen und würde angesichts der hinter einer solchen Entscheidung liegenden politischen Prozesse die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit überschreiten. Das Bundesverfassungsgericht tritt in diesem Zusammenhang ausdrücklich der besonders strengen Rechtsprechung des Hessischen Staatsgerichtshofs entgegen (Rn. 148), der zwar einerseits selbst keine Überprüfung von Notlagekrediten anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips vornehmen wollte, zugleich aber die „haushaltsverfassungsrechtliche Angemessenheit“ der notlageninduzierten Neuverschuldung geprüft hatte (Hessischer StGH, Urteil vom 27. Oktober 2021 – P.St. 2783, P.St. 2827, Rn. 249 einerseits, Rn. 252 andererseits).
Jährlichkeit und Jährigkeit
Dem systematischen Gesamtgefüge der Art. 109, 110, 115 GG entnimmt das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus auch aus teleologischen Erwägungen die haushaltsrechtlichen Prinzipien der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit (Rn. 156 ff.). Das Prinzip der Jährlichkeit erfordert, dass der Haushaltsplan vor Beginn des Haushaltsjahres durch das Haushaltsgesetz festzustellen ist. Nach dem Prinzip der Jährigkeit dürften Ermächtigungen nur bis zum Ende des Haushaltsjahres in Anspruch genommen werden. Der Haushaltsgrundsatz der Fälligkeit besagt, dass im Haushaltsplan nur diejenigen Einnahmen und Ausgaben veranschlagt werden dürfen, die im Haushaltsjahr voraussichtlich kassenwirksam werden, also tatsächlich zu Zahlungsströmen führen. Diese Prinzipien könnten nicht durch den Einsatz von Sondervermögen umgangen werden. Ihre Einhaltung unterliege einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle.
Die faktisch unbegrenzte Weiternutzung von notlagenbedingten Kreditermächtigungen in nachfolgenden Haushaltsjahren ohne erneute Beschlussfassung über das Vorliegen einer außergewöhnlichen Notsituation ist danach verfassungswidrig (Rn. 206 ff.). Eine solche Entkopplung der Kreditermächtigung von der tatsächlichen Verwendung der Mittel für Krisenbewältigungsmaßnahmen sei verfassungsrechtlich nicht zulässig. Die Kreditermächtigungen müssten sich auf die Deckung von Ausgaben beschränken, die für Maßnahmen in genau diesem Haushaltsjahr anfallen. Daher sei ein Beschluss über das Vorliegen einer Naturkatastrophe oder außergewöhnlichen Notsituation durch den Bundestag für jedes Jahr der Verwendung notlagenkreditfinanzierter Mittel erforderlich und von dem jeweiligen Bundestag politisch zu verantworten.
Das Bundesverfassungsgericht vertritt damit für Fälle der Notlagenverschuldung ein sehr strenges Verständnis der Haushaltsgrundsätze der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit. Es hat sich nicht von der Argumentation überzeugen lassen, dass die überjährige Unterlegung der geplanten Maßnahmen mit Kreditermächtigungen in gewisser Weise einen eigenen Zweck verfolgt, nämlich für die private Wirtschaft Planungssicherheit zu schaffen. Das Bundesverfassungsgericht hält dem entgegen, dass diesem Bedürfnis durch wiederholte Inanspruchnahme der Notfallklausel hätte Rechnung getragen werden können.
Ein solch enges Verständnis ist indes keineswegs zwingend. Denn Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen halten sich nicht an Jahresgrenzen und jede erneute Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation ist mit dem Risiko behaftet, dass im politischen Raum angesichts des „Aussetzens“ der Schuldenbremse weitere Ideen entwickelt werden, welche Maßnahmen sich aus Notlagekrediten finanzieren ließen. Man stelle sich beispielsweise vor, dass sich zum Jahresende eine Naturkatastrophe ereignet, deren unmittelbare Folgen aus Notlagenkrediten bewältigt werden sollen. In einem solchen Fall wäre nicht nur für das Jahr, in dem sich die Naturkatastrophe ereignet hat, sondern auch im Folgejahr ein Beschluss über das Vorliegen einer Naturkatastrophe erforderlich. Zuzugestehen ist dem Bundesverfassungsgericht aber in jedem Fall, dass der Verwendung von Mitteln aus Notlagekrediten zeitliche Grenzen gezogen sein müssen – wobei eine weniger streng formelle Betrachtung der Überzeugungskraft des Urteils nicht geschadet hätte.
Vorherigkeit
Die Verabschiedung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 nach Ende des Haushaltsjahres verstößt gegen das Gebot der Vorherigkeit aus Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG (Rn. 213 ff.). Dieses Gebot gilt auch für Nachtragshaushalte und erfordert, dass Haushaltspläne grundsätzlich vor Beginn des Rechnungsjahres festzustellen sind, um die Budgethoheit des Parlaments zu sichern. Ein Nachtragshaushaltsgesetz, das erst nach Ablauf des Haushaltsjahres erlassen wird, hat keinen Planungscharakter. Ein rückwirkendes Nachtragshaushaltsgesetz kann den Haushaltsvollzug, der zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen ist, nicht steuern.
Aus dem Umstand, dass es nach Art. 111 Abs. 1 GG sanktionslos bleibt, wenn bis zum Schluss eines Rechnungsjahres der Haushaltsplan für das folgende Jahr nicht durch Gesetz festgestellt ist, kann nicht geschlossen werden, dass dies auch für Nachtragshaushalte gilt. Im Gegenteil fehlt es für Nachtragshaushalte an einer Art. 111 Abs. 1 GG entsprechenden Regelung, sodass es beim Grundsatz der Vorherigkeit aus Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG bleiben muss. Insofern dürfte offensichtlich sein, dass die Verabschiedung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes für das Jahr 2021 nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 dem Haushaltsgrundsatz der Vorherigkeit widerspricht und zu dessen Verfassungswidrigkeit führt. Gründe dafür, dass ausnahmsweise eine Rechtfertigung der Abweichung vom Haushaltsgrundsatz der Vorherigkeit überhaupt möglich sind, wurden weder vorgetragen noch waren sie sonst ersichtlich (Rn. 225).
Offengelassene Fragen
Angesichts der Deutlichkeit, mit der das Bundesverfassungsgericht diese drei Verfassungsverstöße festgestellt hat, erstaunt es nicht, dass es sich zu Inhalt und Reichweite der Grundsätze der Haushaltsklarheit und -wahrheit nach Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG nicht äußert. Stattdessen belässt das Bundesverfassungsgericht es bei der Feststellung, dass es auf einen möglichen Verstoß nicht mehr ankommt (Rn. 229). Auch darauf, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang nicht im Kernhaushalt veranschlagte Sondervermögen angesichts der Haushaltsgrundsätze der Einheit und Vollständigkeit aus Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG überhaupt zulässig sind, geht das Bundesverfassungsgericht nicht ein.
Nichtigerklärung
In Anbetracht der politischen Tragweite der Nichtigkeitsfolge ist es bemerkenswert, dass das Bundesverfassungsgericht am Ende des Urteils relativ schmallippig feststellt, dass für eine von der grundsätzlichen Regelung in § 95 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 78 Satz 1 BVerfGG – also der Nichtigerklärung – abweichende bloße Unvereinbarkeitserklärung kein Anlass bestehe (Rn. 231). Dieser kurze Schlusssatz des Urteils ist es, der ein politisches Erdbeben in Berlin verursacht und den Haushaltsgesetzgeber für die Zukunft deutlich disziplinieren dürfte.
Haushaltsverfassungsrecht ist kein „soft law“
Festzuhalten ist also, dass die Regelungen des X. Abschnitts des Grundgesetzes zum Finanzwesen und insbesondere zum Haushaltsrecht entgegen dem im politischen Betrieb offenbar weit verbreiteten Empfinden kein „soft law“ minderer Geltungskraft sind. Dass sich auch das Bundesverfassungsgericht genötigt sieht, dies explizit herauszustellen (Rn. 117), könnte der Tatsache geschuldet sein, dass verfassungsgerichtliche Entscheidungen über Haushaltsgesetze in Deutschland bisher eher die Ausnahme sind. Dies mag seinerseits darin begründet liegen, dass der Kreis der Antragsberechtigten bei der als einzigem Verfahren in Betracht kommenden abstrakten Normenkontrolle eng gefasst ist (nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 Abs. 1 BVerfGG können Antragsteller nur die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages sein). Denn diese Antragsberechtigten haben oft wenig Interesse daran, dass die haushaltsverfassungsrechtlichen Handlungsspielräume durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingeengt werden. Potentielle Antragsteller mögen insofern regelmäßig vor Augen haben, dass sie entweder selbst in Zukunft die kontrollierte Mehrheit sein könnten oder dass ihre Parteifreunde in den Bundesländern ebenfalls die Grenzen des Haushaltsverfassungsrechts ausreizen und womöglich überschreiten.
Nur am Rande erwähnt sei, dass es grundsätzlich auch in Betracht käme, Art. 38 Abs. 1 GG im Rahmen von Verfassungsbeschwerden nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG als prozessualen Hebel zu nutzen. Freilich hat das Bundesverfassungsgericht darüber im hier maßgeblichen Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nicht zu entscheiden gehabt. Angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum „Anspruch auf Demokratie“ erscheint aber jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass das Bundesverfassungsgericht Art. 38 Abs. 1 GG in Zukunft auch im Staatsschuldenrecht aktivieren könnte, wenn die substantielle Erosion der haushaltspolitischen Handlungsspielräume künftiger Bundestage in Rede steht (vgl. dazu Tappe/Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht, 3. Aufl. 2023, Rn. 763 ff.; Brade, Der Anspruch auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG: Bestandsaufnahme und Perspektiven, in: Huggins/Herrlein/Werpers u.a. [Hrsg.], Zugang zu Recht, 2021, S. 175 [191]; jüngst Meyer, NVwZ 2023, 1698).
Fazit
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist wegweisend. Es markiert das Ende der Großzügigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Staatsschuldenrecht. Die strengere verfassungsrechtliche Überprüfung dürfte auch dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers im Jahr 2009 entsprechen, der die Möglichkeiten zur Neuverschuldung bewusst enger fassen wollte.
Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 hat das Bundesverfassungsgericht überzeugend aus drei Gründen für nichtig erklärt. Erstens ist der Veranlassungszusammenhang zwischen der Neuverschuldung und daraus zu finanzierenden Maßnahmen nicht hinreichend dargelegt und begründet worden, zweitens stehen die Haushaltsgrundsätze der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit der faktisch unbeschränkten Übertragung von Kreditermächtigungen auf kommende Haushaltsjahre entgegen und drittens können Nachtragshaushalte nicht rückwirkend erlassen werden.
Das heutige Urteil zeichnet nicht nur den Weg für weitere landesverfassungsgerichtliche Entscheidungen vor. Es wird so mancher Überlegung in den Finanzministerien zu weiteren kreativen Buchungstricks ein Ende setzen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts – wie schon das letzte Urteil zur alten Schuldenregelung aus dem Jahre 2007 – zu einer Verfassungsänderung führt. Die verfassungspolitische Debatte darüber, ob sich der Regelverschuldungsrahmen nicht besser wieder am Umfang der staatlichen Investitionen orientieren sollte, wird nach diesem Urteil jedenfalls nicht abreißen.