Das EU-Recht in der Krise – ein schwieriges Verhältnis
Die Herrschaft des Rechts hat sich in Zeiten zu bewähren, in denen die Rechtsbindungen für die Politik unbequem sind. Das Verfassungsrecht verbiegt sich gerade in der Krise nicht vor der Politik, sondern setzt ihr prinzipienorientierte Grenzen. Richterliche Kontrolle besteht darin, einer Politik, die nach Kriterien der (sicherlich immer wohlmeinenden) Opportunität entscheidet, die Unverbrüchlichkeit des Rechts geltend zu machen. Seit Jahren wird darüber diskutiert, ob sich das EU-Primärrecht mit Blick auf die Euro-Krisenbewältigungsmaßnahmen angemessen biegungsfest zeigt. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 6. September 2017, in der die Klagen der Slowakei und Ungarns gegen die vorläufige obligatorische Regelung zur Umsiedlung von Asylbewerbern abgewiesen wurde, stellt sich diese Frage im Bereich der Flüchtlingskrisenbewältigung nunmehr auch. In der Entscheidung nimmt der EuGH den Bindungsanspruch des Rechts weit – vielleicht zu weit – zurück. In dem Bemühen, der Politik effizientes und sicherlich auch weithin gefälliges Handeln zu ermöglichen, nimmt der EuGH schwere Legitimationsprobleme hin.
Im Kern ging es in dem Verfahren vor dem EuGH um die Frage, ob der Rat der EU auf der Basis einer Notfallklausel des EU-Vertragsrechts eine Entscheidung erlassen durfte, mit der wesentliche Prinzipien des sog. „Dublin“-Systems über die Zuständigkeit über die Gewährung internationalen Schutzes überlagert wurden. Der Rat entschied mit Mehrheit gegen die Stimmen von Tschechien, Ungarn, Rumänien und die Slowakei. Der EuGH war mit drei großen Rechtsfragen konfrontiert – und entschied sich drei Mal dafür, das Recht so zu lesen, dass es sich der Politik nicht entgegenstellte.
Im Zentrum des ersten Problemkreises stand die Frage, inwieweit sich der legitime supranationale Herrschafts- und Regelungsanspruch der EU heute schon auf Fragen der Umsiedlung von Menschen zwischen den Mitgliedstaaten bezieht. Die EU-Verträge sind nicht eindeutig. Sie sprechen von der Aufgabe der EU, Kriterien und Verfahren für die Bestimmung des für die Prüfung eines Schutzbegehrens zuständigen Mitgliedstaats zu treffen. Sie sprechen auch davon, eine gemeinsame Regelung für den vorübergehenden Schutz von Vertriebenen im Falle eines Massenzustroms zu erlassen. Im übrigen gibt es eine Notfallklausel, deren Reichweite eher offen ist. Ein gemeinsamer – gar konstitutionell klar verankerter – Wille der Mitgliedstaaten, Fragen der (vorübergehenden) Umsiedlung auf supranationaler Ebene entscheiden zu lassen, ist jedenfalls nicht zu erkennen. Ein Vorschlag der EU-Kommission, derartige Regelungen explizit und dauerhaft zu schaffen, ist noch nicht einmal mehrheits-, geschweige denn konsensfähig. Die EU ist keine Föderation, in der die übergeordnete Brüsseler Ebene die Gesamtverantwortung trägt und über die Glieder regiert. Die Mitgliedstaaten haben der EU nur begrenzte Kompetenzen übertragen und jeden Eingriff in die nationale Verfassungsidentität untersagt. Dem westlichen Liberalismus mag es anrüchig erscheinen, wenn sich ein EU-Mitgliedstaaten auf seine souveräne Autonomie beruft, um seine Idee kulturell oder sprachlich homogenen Zusammenlebens abzusichern. Wenn dem EuGH hierzu nichts einfällt, als darauf hinzuweisen, dass derartige Argumente dem Ziel der Umsiedlung entgegenstünden und deshalb unstatthaft seien, ist dies ein Armutszeugnis. In der Sache zwingen die Argumente Ungarns, die von Polen unterstützt wurden, zur Beschäftigung mit der Frage, inwieweit sich die EU-Institutionen in Kernfragen des staatlichen Selbstverständnisses über das partikulare Selbstverständnis eines Mitgliedstaats hinwegsetzen können. Wer hierauf eine einfache Antwort bereit zu haben glaubt, möge sich vor Augen führen, dass auch deutsche Verfassungsorgane zur Verteidigung der Verfassungsidentität der Politik der EU-Institutionen Grenzen zu ziehen beanspruchen. Soll über das, was die Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats ausmachen kann, mehrheitlich in Brüssel entschieden werden? Es könnte den Integrationsverbund zerreißen, wenn hier keine politische Sensibilität entwickelt wird. Vom EuGH, der sich ganz als europäisches Organ begreift, ist Sensibilität für föderale Zuständigkeitsfragen leider nicht zu erwarten.
Damit ist der zweite Problemkreis angesprochen. Die EU ist letztlich weiterhin ein Club souveräner Staaten – wie nicht zuletzt der Brexit zeigt. Supranationale Herrschaftsgewalt muss im Wissen um den Club-Charakter ausübt werden. In zentralen Fragen politischer Souveränität sehen die EU-Verträge weiterhin das Einstimmigkeitsprinzip vor. In den letzten zwei Jahrzehnten sind einige souveränitätsnahe Kompetenzbereiche für Mehrheitsentscheidungen geöffnet worden. Ein Verfassungsdenken, das die Strukturprinzipen der EU sensibel aufnimmt, wird sich darum bemühen, hier Abirrungen einer Mehrheit, die sich über Anliegen einer Minderheit hinweg setzt, einzufangen – gerade weil es politisch kein „Veto-Recht“ mehr gibt. Der Europäische Rat hatte im Sommer 2015 mehrfach betont, die Probleme einer solidarischen Verteilung der Folgen der Flüchtlingskrise konsensual zu behandeln. Insofern reibt es sich mit Loyalitäts- und Vertrauensaspekten, wenn dieser Anspruch im September 2015 dann kurzfristig fallengelassen gelassen und majoritär entschieden wurde. Natürlich kann man sich formalistisch auf die Position stellen, dass das Mehrheitsprinzip dort, wo die Verträge es vorsehen, auch angewandt werden kann. Sensibilität für die Loyalitätspflichten, die gerade in hoch politischen und für die Identität eines Mitgliedstaats zentralen Fragen zu beachten sind, zeigt dies aber nicht. Hierauf mit dem „Solidaritätsprinzip“ zu reagieren, ist verfehlt. Erzwungene „Solidarität“ ist keine Solidarität, sondern Zwang. Der konstitutionellen DNA der EU hätte ein konsensuales Vorgehen, jedenfalls aber ein System entsprochen, das mit Anreizen arbeitet.
Die Regelungen des „Dublin“-Systems waren in ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen worden, in dem EU-Kommission, Europäisches Parlament, Rat zusammenwirken und sogar die nationalen Parlamente beteiligt werden. In den Bemühungen, der EU stärkere demokratische Legitimation zu verleihen, wurde die Einrichtung dieses Verfahrens als Meilenstein angesehen. In Sonntagsreden und offiziellen Erklärungen wird gerade hierin ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Demokratisierung der EU gesehen. Können die in diesem Verfahren nobilitierten Akte in einer Notsituation vom Rat nach Anhörung des Parlaments verändert werden? Der EuGH stellt sich dem nicht entgegen. Er lässt es zu, dass das wesentliche Prinzip der „Dublin“-Verordnung, wonach der Ankunftsstaat für die Durchführung des Schutzverfahrens zuständig ist, durch ein anderes Prinzip – jenes der „solidarischen“ und gleichen Verteilung – überlagert wird. Man mag dies moralisch oder politisch für angezeigt halten. Für die Bemühungen der EU darum, sich zu einem Verband zu entwickeln, der von der Herrschaft des parlamentarisch gebilligten Rechts getragen wird, ist es ein schwerer Rückschritt. Dass der EuGH derartige Überlagerungen des Parlamentsrechts nur dann zulässt, wenn sie nicht mit „dauerhafter“ Geltung erfolgen, ist ein schwacher Trost. Auch das Erfordernis, dass das Europäische Parlament immerhin zuzuhören war, wird mit juristischen Kunstgriffen marginalisiert. Der EuGH lässt es nicht nur ausreichen, dass das Parlament gerade einmal sechs Tage hatte, sich mit dem Vorschlag zu befassen. Der Umstand, dass Ungarn entgegen dem ursprünglichen Vorschlag nicht zu den begünstigten Staaten zählen würde, sondern ebenfalls zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtet würde, erfuhr das Parlament gar erst mündlich einen Tag vor seiner Beratung. „Not kennt kein Gesetz“: In der konstitutionellen DNA der EU scheint die konstitutionelle Wertigkeit des Gesetzgebungsverfahrens und eine angemessene Beteiligung des Parlaments dann doch nicht so wichtig zu sein wie das Ziel effektiven Handelns.
In der Flüchtlingskrise zeigt sich erzeugt, dass die Rechtsbindung von EU-Hoheitsgewalt in Krisenzeiten eigenartige Züge annimmt. Bislang ist nicht zu erkennen, wie weit der EuGH in diesen Zeiten einen Bindungsanspruch des Rechts zurückzunehmen willens ist – nur um der Politik Freiräume zu eröffnen. Auch wer für „Solidarität“ kämpft und die Mitgliedstaaten gemeinsam in die Pflicht nehmen will, sollte den Preis der Entscheidung nicht verkennen.
Schönes Wortspiel im Titel: Ist das EU-Recht selbst schon in einer Krise? Wahrscheinlich liegt das ausserhalb des Erkenntnisvermögens der Rechtswissenschaft.
Das Problem ist, dass ein Gericht, dass Marktrechte über Bürgerrechte stellt, über Nationen entscheiden soll. Ein Unding, der EUGH sollte sich auf Marktangelegenheiten beschränken und die Träger der Bürgerrechte, die Nationen, ihre Aufgabe machen lassenen.
Lieber Herr Kollege Nettesheim
Ihr Beitrag provoziert meinen Widerspruch.
Vorwegstellen möchte ich, dass ich den vom Rat beschlossenen ad-hoc-Mechanismus zur Umverteilung von Asylbewerbern für politisch verfehlt halte. Er überfordert die begrenzte Leistungsfähigkeit selbst von loyal kooperierenden europäischen Verwaltungen und ignoriert die Interessen der beteiligten Asylbewerber. Dauerhafte Lösungen für das Problem fehlender zwischenstaatlicher Solidarität im Asylzuständigkeitssystem der EU sollten nach meinem Dafürhalten eher bei finanziellen Transfers und der Gewährung von Freizügigkeitsrechten für anerkannte Europäische Flüchtlinge gesucht werden.
An Ihrer Einordnung des Urteils als (weiteres) Beispiel für die Rücknahme des „Bindungsanspruchs des Rechts“ irritiert mich erstens, dass Sie die Gefährdung für die Herrschaft des Rechts auf der Seiten des EuGH verorten und nicht auf Seiten derjenigen Mitgliedstaaten, die sich in präzedenzloser Weise über ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen hinwegsetzen. In Ihrem Narrativ dagegen erscheint der fragliche Beschluss der EU als rechtlich fragwürdige Krisenbekämpfungsmaßnahme, für die verfassungsrechtliche Bindungen außer Kraft gesetzt bzw. sie ad hoc uminterpretiert wurden. Das erstaunt, handelt es doch bei Art. 78 Abs. 3 AEUV um eine nicht-legislative Rechtsgrundlage, wie sie auch in anderen Vertragskapiteln zu finden ist. Ein Totalvorbehalt des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens mag ein verfassungspolitisches Desiderat sein, geltendes Unionsverfassungsrecht ist er nicht. Ungeachtet der Anknüpfung an das Vorliegen einer „Notlage“ in einem oder mehreren Mitgliedstaaten eröffnet Art. 78 Abs. 3 AEUV eine reguläre Handlungsoption, die genau für einen solchen Fall geschaffen wurde, wie er im Spätsommer 2015 eingetreten ist, nämlich einen „plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen“ in die EU. Ich vermag auch ihre Zweifel nicht zu teilen, dass sich die „Maßnahmen“, zu denen die EU nach Art. 78 Abs. 3 AEUV ermächtigt ist, nicht auch auf die Umverteilung von Menschen (Asylbewerbern) bezieht – über deren politische Zweckmäßigkeit kann man, wie gesagt, streiten. Alles andere als die Bestätigung der Rechtmäßigkeit des Beschlusses durch den EuGH wäre deshalb eine Überraschung gewesen, die sie selbst „schwere Legitimationsprobleme“ aufgeworfen hätte.
Zweitens irritiert mich, dass Sie Mehrheitsentscheidungen im Rat so stark in den Bereich des Exzeptionellen rücken. Gewiss ist die legislative Kompromisskultur in der EU mit ihrer Suche nach konsensfähigen Lösungen ein hohes Gut, ihre „konstitutionelle DNA“, wie Sie schreiben. Den verfassungsrechtlichen Normalfall aber bildet die Einstimmigkeit auch in der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik seit geraumer Zeit nicht mehr. Ihre Kritik berücksichtigt meiner Meinung nach zu wenig, dass der Übergang von einem intergouvernementalen auf einen supranationalen Politikmodus im Bereich Asyl, der mit dem Amsterdamer Vertrag vollzogen und dem Lissabonner Vertrag komplettiert wurde, seinerseits auf einem politischen Konsens zwischen den 25 beteiligten Mitgliedstaaten beruhte (und jenseits politischer Rhetorik wohl auch weiterhin beruht). Er ist das verfahrensrechtliche Korrelat zur verfassungsrechtlich niedergelegten Grundentscheidung, ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem zu schaffen, also die Asylgesetzgebung tendenziell umfassend den Gesetzgebungsorganen der EU zu überantworten (Art. 78 Abs. 1 AEUV). Seitdem trägt die EU durchaus die politische „Gesamtverantwortung“ fü